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Thomas Glavinic
Lisa

Ist da jemand?
  Kritik
  Thomas Glavinic
Lisa
Roman
Hanser 2011
208 Seiten, 17,90 Euro



Angst und Bange soll einem werden bei der Lektüre von Thomas Glavinics neuem Roman, der vom Verlag zugleich als „komisch bis zum bitteren Ende“ beworben wird. Dass Humor ist, wenn man trotzdem lacht, ist hinläng­lich bekannt – ob Vergleich­bares auch für den Horror gelten mag?

Tom, der Ich-Erzähler, hat ein Problem. Abgeschieden in einer verwaisten Alpen­pension sitzt er vor seinem Laptop und teilt via fehler­anfälligem Internet-Radio im Verlauf von acht Abenden bzw. Nächten allen, die es hören wollen und können, nach und nach die Gründe für seine ziemlich überzogen wirkende Paranoia mit. Er ist der Überzeugung, dass eine mysteriöse Killerin, die seit Jahrzehnten in unregel­mäßigen Abständen ihrem Tötungs­handwerk nachgeht, es aktuell auf ihn abgesehen hat. Lisa wird sie genannt, ein Phantom, das offenbar kein Mensch je zu Gesicht bekommen hat und von dem bloß immer wieder DNA-Spuren sicher­gestellt werden konnten. Sie ist die ungreif­bare Bedrohung, die über der Geschichte schwebt, und deren über die ganze Welt verteilte Greueltaten für die Ermittler ein Rätsel darstellen. Brüste werden mit Kettensägen amputiert, Löcher in Mundwerke gefräst, Menschen mit ihren eigenen Gedärmen erstickt, und dazwischen ist Lisa an harmlosem Vanda­lismus beteiligt, stiehlt Hühner und Hirse – all das in Union mit zahlreichen exotischen Komplizen, die jedoch, sofern man ihrer habhaft wird, sich nicht an die Tatbeteiligung einer Frau erinnern können.
        Vor drei Jahren nun wurde Lisas DNA nach einem Einbruch in Toms Wohnung gefunden. Vom Krimina­listen Hilgert erfährt Tom die grauenvollen Begleitumstände, und seitdem züchtet dieser sich eine Panik heran, die mit dem plötzlichen Verschwinden Hilgerts schließlich in der Flucht ins ländliche Antiidyll mündet. Mit dabei im Gepäck hat der geschiedene Computer­spiel­pro­gram­mierer neben einem Haufen Ängste seinen achtjährigen Sohn, Unmengen an Koks und Whisky sowie einen Laptop mit Internet und Mikrofon als nächtlichen Draht zur Außenwelt. Doch auch in der hintersten Einschicht mehren sich die Zeichen, dass Toms Flucht nicht ganz unentdeckt geblieben ist.

Soweit, so Glavinic. Aus Die Arbeit der Nacht und dem ähnlich gebauten Buch Das Leben der Wünsche wissen wir um die Neurosen und Beklemmungen Bescheid, die das Personal des Autors beizeiten plagen. Seit Das bin doch ich wissen wir zudem, dass Glavinic gern skurrile Spiele mit der Wirklichkeit treibt. Hier nun versucht er, beides zu kombinieren. „Nennt mich Tom. Das ist eine Idee von mir. Ich bin eine Idee von Tom.“ An der (Geschmacks-)grenze des Erträglichen dahin­delirierend ergießt sich Tom in Schimpftiraden über alles, was ihn an der modernen Dekadenz­gesellschaft stört. Neben der einigermaßen chronologischen Abar­beitung der Geschichte um Lisa macht dieser Teil die zweite Ebene des Romans aus. So wird munter am virtuellen Stamm­tisch poli­tisiert, „extrem Linke“ wie „extrem Rechte“ kriegen gleichermaßen ihr Fett weg, Modetrends in Sprache und Kochkunst werden treffsicher und amüsant bloßgestellt, und nicht zuletzt fangen sich die Modernitäts- und insbesondere Facebookskeptiker ein paar kräftige Verbal­schwinger des zornigen Koksers und Säufers ein. Die angestrebte Beklemmung jedoch will nicht so recht aufkommen, Komik wird eher mit dem Schnitzelklopfer eingeführt, und nach Verdichtung und weiterführender Erkenntnis wird vergeblich gesucht.

Natürlich ist die fragment­hafte Darstellung der Monologe Teil des Programms. Toms Mikro-Kontakte sind leicht defekt (Achtung, Metapher!), und die Menge an Suchtmitteln, die der Enddreißiger allabendlich konsumiert, machen seine Äuße­rungen bisweilen nicht gerade nachvoll­ziehbar. Alex, der Sohn, geht nebenbei gänzlich in seiner Statisten­rolle unter, kein Wunder, liegt er doch längst im Bett, wenn sein Vater sich nach draußen wendet. Insgesamt kann man es sich als Autor auch schwerer machen. Gänzlich rätselhaft bleibt in Anbetracht der allzu phantas­tischen Pointe am Ende der Entschluss zur Flucht. So kann wohl auf die sprachlichen Schwachstellen wie auf die überzogene, eher zweifelhaft komische Handlung gleicher­maßen mit der geis­tigen und techni­schen Beein­trächtigung des Erzäh­lers argu­mentiert werden. Ob das allerdings zur Legitimation eines gelungenen Romans ausreicht, muss jeder Leser für sich entscheiden. Der Erzähler – soviel sei verraten – ist am Schluss nicht wirklich klüger als zu Beginn, gemeinerweise verrät er es uns aber denkbar spät.

Daniel Kindslehner    01.03.2011   

 

 
Daniel Kindslehner