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Paulus Hochgatterer
Das Matratzenhaus

Pelikane, die bleiben
Kritik
Das Matratzenhaus   Paulus Hochgatterer
Das Matratzenhaus
Roman
Deuticke 2010


Wenn man als Rezensent nach beendeter Lektüre einmal tief durchatmen muss, sich dann an seinen Schreibtisch setzt und plötzlich das Gefühl bekommt, mit keinem, wirklich keinem einzigen Wort den Gehalt des zu besprechenden Buches berühren zu können, hat man ein Problem. Der Roman „Das Matratzenhaus“ von Paulus Hochgatterer kann zu einem solchen Problem führen. Dann atmet man nochmals tief durch, schlägt das Buch erneut auf und versucht, eine Lösung zu finden.

„Wie es gewesen sein muss“ heißt Kapitel Eins, nicht zu verwechseln mit dem darauf folgenden Kapitel „Eins“, und es führt anhand seiner Metaphorik in Titel und Text bereits tief in einen Schlund. Das indische Mädchen, das da gerade von einer namenlosen Frau weiteren namenlosen Menschen ausge­händigt wird, ist noch ahnungsloser als der Leser. Neugierig zeigt es auf ein Neuntöterpärchen im Distelgebüsch, „auf einen Bretterverschlag mit aufge­malten Gesichtern und auf einen alten Mann, der in einem Plastikstuhl sitzt und schläft.“ Damit sind bereits wesentliche Elemente des Grund­gerüsts vor­gezeichnet, anhand dessen der Autor seine Geschichte um Gewalt­tätig­keit im Allge­meinen und Kindes­missbrauch im Besonderen aufzieht.

Furth, Mittelkleinstadt im österreichischen Irgendwo und Hochgatterer-Ken­nern bereits aus der „Süße des Lebens“ vertraut, hat seine eigenen Proble­me. Aktuell sind es misshandelte Volks­­schulkinder, die die ganze Stadt samt ihrer zuständigen Pädagogen, insbesondere aber Psychiater Raffael Horn sowie Kriminal­kommissar Ludwig Kovacs, beschäftigen. Erschwerend kommt hinzu, dass niemand sich vorstellen kann, wer den Kindern die Blut­ergüsse auf Kopf, Schultern und Rücken zufügt. Die „schwarze Glocke“ ist eine vage Information eines der Kinder, davon abgesehen will nichts heraus finden aus den seltsam gefasst wirkenden Opfern, denn: „Wenn ich rede, passiert mir das Gleiche.“

Im Verlauf ihrer Nachforschungen müssen sich beide, Kommissar und Psy­chiater, der jeweiligen Vergangenheit stellen, nur um zu erkennen, dass Grundzüge dessen, was sie bekämpfen, ihnen selbst – selbst ihnen – passiert sind. Als Opfer, wie auch später als Täter. Beide haben den Mut, ihren väterlichen Verfeh­lungen ins Auge zu blicken, was nicht zuletzt dazu führt, dass Kovacs' Tochter, überrumpelt darauf angesprochen, nur noch fassungslos „Du sagst so blöde Sachen“ stammeln kann. Und auch Horn bekommt auf einen launigen Kommentar von seinem sechzehnjährigen Sohn zur Antwort, er sei „sowas von arg!“

Dabei gibt es auch außerhalb der Schwierigkeiten, die die Kindererziehung mit sich bringt, Gemeinsames zwischen den Haupt­figuren. Beide neigen zu Trotz im Umgang mit ungeliebten Obrigkeiten, beide sehnen sich nach einer, wenn schon nicht heilen, so doch einigermaßen intakten Familie, beiden schlie­ßlich bereitet ihr persön­liches Scheitern darin umso mehr Grund, sich in berufliche Belastungen zu stürzen. Und die haben es ziemlich in sich. Horn sieht sich täglich mit suizidgefährdeten und (auto)aggressiven Patien­ten konfrontiert, Kovacs muss sich mit der für ihn erheblich dringlicheren Frage herumschlagen, ob der junge Weghaupt durch Schicksal oder Absicht vom Baugerüst gestürzt ist. Bei Kovacs hat der Alkohol, wie der Leser erfährt, bereits einmal seine Wirkung getan, bei Horn wird er kurzfristig zumindest zur Option.

Zwischen diesen Kapiteln, die den Großteil des Romans ausmachen, melden sich jedoch noch andere, nicht zu vernachlässigende Stimmen zu Wort. Eine Lehrerin, der das unheimliche Geschehen um ihre Schulkinder schmerzliche Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit heraufbe­schwört, die einem geheimen Verhältnis mit einem Priester und Religions­lehrer ihrer Schule nachgeht, welcher selbst mit inneren Stimmen und Hallu­zinationen ordentlich bedient ist. Und schließlich Fanni, das dreizehnjährige Mädchen aus Indien, das sich intensiver mit asiatischen Tötungstechniken beschäftigt, als man das über weite Strecke gern begreifen würde. Wenn Fanni der kleinen Switi aus dem Initialkapitel neben einigen tröstenden Peli­kangeschichten eindringlich verschiedenste „Fluchtwege“ erklärt, macht sich allerdings eine Ahnung breit, was in dem Haus mit den vielen Matratzen in seinen Zimmern tatsächlich vor sich geht.

So wie der Autor seine Erzählerstimmen changiert, wechselt er auch das Tempus. Horn und Kovacs schürfen auktorial im Präteritum nach Ursachen und Gründen; die Geschichte der Lehrerin wird personal erzählt, immer im Präsens – dadurch unmittelbar; und Fanni schließlich ist die einzige, die im gesamten Roman „ich“ sagen darf, wenn ihre unfass­baren Eindrücke zwi­schen den Trümmern abgetöteter Emotionen hervorblitzen. Dabei begeht Hochgatterer nie den Fehler, etwas wirklich Bedeu­tendes auszusprechen, er deutet bloß an, kompo­niert seine Geschichte aus scheinbaren Neben­säch­lichkeiten und schafft dadurch eine Brutalität, die sich der Leser selbst zu imaginieren gezwungen ist. Gerade zwischen den Zeilen schneiden sich Eindrücke unter die Haut, die tiefer gehen als die Rasier­klingen der jungen Sabrina. Denn nicht nur auf des Psychiaters Station gibt es Menschen, die mehr zu sagen haben als die Gesellschaft um sie hören will.

Wenn einen das Buch nach der letzten Seite dann einiger­maßen ratlos zurücklässt, sollte man es ein zweites Mal zur Hand nehmen. Hatte man zuvor schon das Gefühl, dass da einfach alles stimmt, erfährt man schließ­lich Gewissheit. Übrigens: Manche Vögel, erklärt eine Biologin, flögen nicht mit in den Süden. Sie heißen „Zugs­verwei­gerer“. Nur jene, die ge­eignete Mechanismen entwickeln, überstehen den Winter.

Daniel Kindslehner    16.04.2010   
Daniel Kindslehner