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Der verwandelte Deutsche

Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Freimut Schwarz geboren.
Sein Hauptwerk blieb unveröffentlicht

  Essay
 


»Freimut Schwarz, 80 Jahre alt. Das letzte Mal, als wir uns sahen, war er 30 Jahre alt. Damals kämpften wir im Kultur­bund in London zusammen – heute kämpfen wir weiter zu­sammen, jeder in seinem Land.« Mit dieser Wid­mung von Jürgen Kuczyns­ki, dem politischen Archi­tekten des Kulturbundes, kam 1993 im Londoner Verlag A.W. Mytze ein schma­ler Band heraus, der zwei Erzählungen, eine Reportage und einen Essay des Exil­autors Freimut Schwarz enthielt.

In einer Erzählung schlägt sich ein geflohener Lagerhäftling schwer verwundet nach Frankreich durch: »So war er denn bis weit in den nächsten Morgen hinein durch Gestrüpp und über Geröll in die Berge hinein­gestolpert. Wo er bewußtlos hinfiel, zwischen wilde Veilchen und Storchschnabel, war der Boden weich und feucht. Schwärme von Mücken standen wie ein dünner gemus­terter Schleier über dem dichten Unterholz, aus dessen Mitte sich hie und da ganz zufällig eine mächtige Buche heraushob mit hellem, geschmei­digem Stamm und einer breiten Krone dichter Blätter. Und während sich hier unten in der Mulde kein Lüftchen reg­te, als sei der Atem der Welt plötzlich in Stille und Fäulnis aufgegangen, wehte in den riesen­haften Dächern der einzelnen Buchen der Wind, wie in den Mähnen von Pferden auf der Flucht.«
  Solche Beobachtungs­gabe, Glut, Sinnlichkeit und Sprachkraft ist in der deut­schen Gegenwarts­literatur jedenfalls nicht der Normal­fall.



Geboren wurde Freimut Schwarz am 28. April vor 100 Jahren in einem Dorf na­mens Sotter­bach bei Köln. An der dortigen Uni­ver­sität stu­dierte er Lite­ratur­geschich­te, später Ethnologie. Der Inhaber dieses Lehrstuhls, Julius Lips, stellte sich 1933 als Jude gegen die rassis­tische Instrumen­tali­sierung des Faches. Schwarz folgte ihm als Mit­arbei­ter nach Paris. Dann trenn­ten sich die Wege; Lips zog in die USA, um an der Columbia Univer­sity eine Dozentur anzu­treten, Schwarz nach England. Er war nichts, aber hatte auf­begehrt. Das war etwas. Kost­ba­rer als jeder Beruf. Seine Kommi­lito­nen hatten ihren einzig­artigen Lehrer im Stich gelassen und sich dem Nazisystem unter­worfen. Dieses Grund­erleb­nis war dem 20jäh­rigen zur po­liti­schen und lite­rarischen Initiation geworden.

Schwarz ging dorthin, wo er gebraucht wurde, in den von der Depression be­son­ders hart betrof­fenen Norden. Er lebte unter arbeits­losen Dock­arbeitern, half beim Aufbau von Fort­bildungs­zentren und Klubs für sie. Und er schrieb. Wahr­schein­lich wurde er hier von den Ar­beitern erstmals freund­schaftlich »Teddy« genannt, was er fortan beibehielt.

Zurück in London, widmete er sich verstärkt dem lite­rarischen Schreiben, veröffent­lichte auch. Materiell war er durch Gelegen­heits­jobs abgesichert. Seine Lage änderte sich mit den nächsten Flucht­wellen aus dem »Reich« in den Jahren 1938/39. In der enorm vergrößerten Emi­granten­szene konsti­tuierte sich die Free German League of Culture. Schwarz wurde Mitglied in der Sektion der Schrift­steller, über­nahm Organi­sa­tions­arbeiten für den Vorstand des Kultur­bundes und wurde später zusammen mit Max Zimmering Verlags­leiter der Kultur­bund­publika­tionen sowie Redak­teur der Freien deut­schen Kultur, der einzigen lite­rarisch-poli­tischen Exil­zeit­schrift in Groß­britannien.

Ebenso zielstrebig arbeitete Freimut Schwarz schriftstellerisch, und dies in fast allen Genres. Er schrieb Gedichte und Kurz­geschich­ten für Antho­logien, einen Kinder­roman, Essays, übersetzte das Theaterstück »Die ferne Station« des so­wjeti­schen Drama­tikers Alexander Afinogenew und wagte sich an ein Opern­libretto über die Till-Ulenspiegel-Figur. Das Span­nungs­feld zwischen Anpassung und Wide­rstand, in das er als Student geworfen worden war, be­stimmte sein Schreiben, doch erst mit dem Roman »In my Father's House« gelang ihm eine syste­matische Durch­arbei­tung dieses Grund­erleb­nisses. Der Schau­spieler Gerry Wolff trug im Frühjahr 1945 auf einer Matinee des Kultur­bundes Episoden daraus vor.

Im Zentrum dieses Hauptwerkes steht die Rettung eines jungen Mannes, der mit dem Ein­beru­fungs­befehl der Nazis für den immer sinnloser werdenden Krieg kon­fron­tiert wird. Fast alle Figuren werden in Be­zie­hung gesetzt zu der Lebens­gefahr, in der die­ser Mensch schwebt. Jede muß sich entscheiden: im Dickicht der An­passung ein hartes Ringen um Würde. Und eine Liebe blüht auf – eine Liebe des Widerstands.

Nach dem Krieg blieb Schwarz in London. Der Rückkehrer Jan Petersen erreichte in der DDR für ihn einen Vertrags­abschluß über das Roman­manuskript. Schwarz hätte es ins Deutsche über­tragen sollen. Alle Türen wurden ihm ge­öffnet, vergebens. Er war Engländer geworden. Sein erstes großes englisch­sprachiges Werk sollte in England das Licht der Welt erblicken. Es fand sich kein briti­scher Verlag, und so starb der verwandelte Deut­sche im Januar 1994 auf der Insel. Die 259 Blätter mit seiner eng­lisch erzählten deutschen Geschichte liegen heute im Frank­furter Exilarchiv in einem Karton. In mancher Hinsicht ent­spricht das einer Vision des Dichters aus dem Exil­gedicht »Partisanen«:

Manchmal, als ahne er schon die nahe Gefahr,
Streift sich einer langsam über Stirne und Haar,
Ergriffen von plötzlicher Schweigsamkeit.
Sollte dies anders sein, als es in Frankreich war?
Dort trank man mit dem Verräter im Land. In blutiger
  Brüderlichkeit
Stellte man schon die Uhren vor in der Bar
Auf eine neue grüne Zeit.

Zuerst erschienen in: junge Welt | 2013

Antonín Dick    07.05.2013   

 

 

 
Antonín Dick
Lyrik/Prosa
Essay