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Immer weglassen, verknappen

Marcel Beyer im Gespräch mit André Hille
In seinem neuen Roman »Kaltenburg« erzählt Marcel Beyer von zwei Wissen­schaftlern – einem Biologen und einem Orni­thologen – vor dem Hinter­grund der deutschen Geschichte. André Hille (Kultur­magazin Kunst­stoff) hat mit ihm über seine Heimat Dresden, die Be­ziehung zwischen Mensch und Tier und die Arbeit an seinem Roman gesprochen.

Marcel Beyer wurde zuletzt mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Friedrich-Hölderlin-Preis und dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet.

Erschienen im Kulturmagazin
kunststoff Nr. 10   externer Link

Eine schöne Altbauwohnung in Dresden Strehlen. Kaum betritt man die Wohnung spürt man: Hier wird geraucht. Der Frage »Darf man hier rauchen?«, folgt ein entschiedenes »Man muss«. Der Schriftsteller Marcel Beyer setzt einen starken Kaffee auf. Die Tastatur seines kleinen Laptops, der neben der Tasse steht, ist derart abgenutzt, dass kaum mehr ein Buchstabe zu erkennen ist. Dieser Mann muss intuitiv tippen. »Das ist schon die zweite Tastatur«, sagt er. Kein Wunder, für seinen aktuellen Roman »Kaltenburg« brauchte er vier Jahre, viele Kapitel und Szenen verschwanden wieder, weil sie ihm sprachlich zu »pappig« waren. Marcel Beyer, 1965 in Württemberg geboren, machte 1995 Furore mit seinem Roman »Flughunde«.


A. Hille: Sie sind in Württemberg geboren, in Kiel aufgewachsen, haben in Siegen studiert und in Köln gelebt – Sie sind sozusagen ein richtiger Wessi. Was bewog Sie 1996 zum Umzug nach Dresden?

M. Beyer: Meine Freundin, eine bildende Künstlerin, hatte zu jener Zeit eine Ausstellung in Dresden und fand die Stadt klasse. Sie ist hier geblieben. Ich lebte damals schon seit 23 Jahren im Rheinland und merkte: Irgendwie ist die Zeit vorbei. Ich war mit der Uni fertig, das Promotionsstipendium lief aus, ich hätte mich um einen Job kümmern müssen. Das war genau der richtige Moment, um ganz woanders hinzugehen. Ich wollte weit in den Osten, schon Leipzig war mir nicht östlich genug. In eine mir völlig unbekannte Stadt zu ziehen, fand ich spannend.

Marcel Beyer | Kaltenburg
Marcel Beyer
Kaltenburg
Roman
Suhrkamp 2008
 
A. Hille: Ihr neuer Roman Kaltenburg ist auch eine Erkundung der Topographie Dresdens. Trotzdem sei, so heißt es einmal in dem Roman, »Sächsisch eine Fremdsprache geblieben«. Nähern Sie sich dieser Stadt nach wie vor an oder ist sie bereits Heimat geworden?

M. Beyer: Dresden ist Heimat, aber ich bin kein Dresdner. Diese Distanz zu einer Stadt war immer meine Lebenssituation. So von außen auf eine Stadt zu schauen, kann auch erholsam sein, denn in manchen Dingen möchte man ja gar nicht drinstecken. Im Roman ist das ähnlich: Obwohl die Figur des Erzählers Hermann Funk seit 1945 in Dresden ist, nimmt er eine gewisse Außenposition ein: Er schaut vom Rand auf die Mitte. Das ist die Situation, in der auch ich lebe.

A. Hille: War der Roman dann auch eine Art Erkundung für Sie selbst, um in die Historie dieser Stadt einzutauchen?

M. Beyer: Ja, absolut. Das begann schon an meinem ersten Tag in Dresden. Dresden ist voller Ruinen, bei denen ich nicht einmal erkannte, dass sie früher Gebäude waren. Ich habe sie für Gartenmauern gehalten, bis jemand sagte: Nein, da stand ein Haus, das war früher ein Gebäude. Über Gespräche bin ich sehr bald mit den Schichten unterhalb der Oberfläche, der Stadtoberfläche, wenn man so will, in Berührung gekommen.

A. Hille: Die Zerbombung Dresdens ist in der Stadt immer Thema, das Entsetzen über den Untergang einer der schönsten Städte Deutschlands immer präsent.

M. Beyer: Wenn man auf der Straße mit jemandem ins Gespräch kommt, der das als Zeitzeuge erlebt hat, kommt das sofort zur Sprache. Einmal stand ich mit einem Fotografen am Pirnaischen Platz und eine ältere Dame mit Einkaufsbeuteln fragte mich: Was machen Sie da? Dann fuhr sie sofort fort: Der Pirnaische Platz sah früher ganz anders aus. Es geht nicht nur um die sichtbare Zerstörung, sondern auch um die Zerstörung einer bürgerlichen Welt. Und diese Zerstörung war immer Spielball zwischen den Ideologien und ist es bis heute geblieben. Wenn man sieht, was an Demonstrationen und Gegendemonstrationen um den 13. Februar stattfindet, könnte man denken, da wird jedes Jahr neu die Herrschaft über die Geschichte ausgetragen.

A. Hille: Der Schreibstil in Kaltenburg ist eher fließend, geschmeidig. Was bedeutet guter Stil für Sie?

M. Beyer: Bei diesem Text bedeutete das manchmal, morgens mit einem Satz anzufangen, mit dem man abends noch nicht fertig war. Grauenhaft (lacht). Ich habe 2003 angefangen mit diesem Buch. Nach 70 oder 100 Seiten war ein bestimmter Erzählton angeschlagen, ein gewisses Understatement, in hin und wieder Ungeheuerlichkeiten aufblitzten. Doch nach diesen ersten Seiten war es schwierig, den Erzähler über die weite Strecke eines Romans so weiterzuführen. Das ist bei mir aber immer so, am Anfang, wenn ich einen Roman anfange, sammelt sich viel Stoff an und dieses »Lass-das-weg« ist dann der schwierige Weg.

A. Hille: Sie sind auch Lyriker. Würden Sie der These zustimmen, dass in der Lyrik die Sprache das Material ist, während sie in der Prosa das Medium ist?

M. Beyer: Für mich gilt das so nicht. Zum einen sind es Sprachphänomene, die funkeln und aus denen sich auch Prosa ergibt. Und zum anderen weiß ich aus der Arbeit an Kaltenburg, dass es Seiten gibt, die vielleicht inhaltlich interessant sind, aber sprachlich pappig. Die Sprache allein ist nicht das Medium. Wenn ich eine lange Szene auf ein oder zwei Seiten kondensiere, ist das wie das Arbeiten an einem Gedicht: immer weglassen, verknappen.

A. Hille: Eine wesentliche Rolle in Ihrem Roman spielt die Beziehungen zwischen und Mensch und Tier. Wie sind Sie auf diese Spur gekommen?

M. Beyer: Die Tierwelt habe ich in den letzten Jahren entdeckt. Ich habe bei einer Museumsnacht einen Zoologen kennen gelernt, Dr. Siegfried Eck, den damaligen Kustor der ornithologischen Sammlung Dresden. Ich war fasziniert von diesem Menschen und von der Art, wie Zoologen denken: dass nämlich nicht der Mensch Zentrum der Welt ist, sondern dass sich jedes Tier mit gleichem Recht als Mittelpunkt betrachten könnte. Zwischen dem künstlerischen Arbeiten und dem Forschen sehe ich außerdem einige Parallelen: Man muss offen sein gegenüber fremden Lebens­zusammen­hängen, bei beiden Tätigkeiten spielen ästhetische Kriterien eine Rolle, es ist eine Schärfung der Wahrnehmung erforderlich. Dr. Eck hat einmal erzählt, dass er manchmal wochenlang eine Sache betrachtet, es scheinen verlorene Wochen zu sein. Aber plötzlich weiß er: Der muss da hin, der muss da hin. Genau dieses Brüten und Warten kenne ich auch vom Schreiben.

A. Hille: Eines der Hauptthemen des Romans ist das Thema Kommunikation. Kaltenburg kommuniziert mit Tieren, der Vater des Ich-Erzählers Hermann mit den Pflanzen. »Man müsste die Gesellschaft der Tiere suchen«, sagt Kaltenburg. Ist die der Menschen nichts Wert?

M. Beyer: Doch, die ist wichtig. Was wäre aus dem Erzähler geworden, wenn es diesen Kaltenburg nicht gegeben hätte? Ein Problem innerhalb der menschlichen Gesellschaft ist jedoch immer, wer was an wen weiterleitet. Tiere machen das nicht. Ein Satz, der im Text nicht vorkommt, stand mir immer vor Augen: »Ein Tier denunziert nicht.« Aber das hat nichts damit zu tun, dass Tiere aufrechter wären, sondern einfach mit ihrer mangelnden Kommunikationsfähigkeit.

A. Hille: Der Vogel spielt die zentrale Rolle in Ihrem Roman. Tote Vögel, präparierte Vögel, verbrannte Kadaver, Vogelschwärme, kranke Vögel, eingesperrte Vögel. Der Vogel ist in Kaltenburg oft angstbesetzt, steht aber auch für eine Art Freiheit oder auch gezähmte Freiheit. Woher diese große Ambivalenz?

M. Beyer: Für mich war es wichtig, den Vogel nicht als Symbol aufkommen zu lassen. Um dem zu entkommen, hatte ich nur eine Möglichkeit: die Tiere bis an den Rand ihrer Symbolhaftigkeit zu zeigen, aber immer an ganz verschiedenen Rändern. Anhand der Tierwelt kann ich Dinge darstellen, die innerhalb der Menschenwelt nicht ausgesprochen werden. Zum Beispiel wenn der Erzähler sich erinnert, dass an Kaltenburgs Institut jemand scheußliche Experimente mit Rhesusaffen durchgeführt hat. Das war eine Möglichkeit, über Menschen zu sprechen, ohne sie bloßzustellen. Die Tierszenen beleuchten die Menschenszenen und die Menschenszenen die Tierszenen.

A. Hille: Wenn man Ihr Werk betrachtet, fallen zwei große Interessen auf: der Osten und der Zweite Weltkrieg? Woher rühren die?

M. Beyer: Das hat mit 1989 zu tun. Ich war ein junger, popsozialisierter Westmensch und hatte mit dem Osten im weitesten Sinne überhaupt nichts zu tun. Eine Klassenkameradin ging nach dem Abitur nach Polen – das war, als wäre sie von der Landkarte verschwunden. Als es dann 1989 knallte, ist sofort ein Interesse entstanden und ich dachte: Klasse, jetzt kann auch ich hin- und herreisen. Nach und nach habe ich gemerkt, dass sich in dieser Himmelsrichtung Dinge auftun, von denen ich dachte, dass ich ihnen in meinem Leben nicht begegnen werde. Zum Beispiel war ich immer sehr fasziniert von den Pariser Kreisen der 1920er Jahre. In deren Biografien tauchten Ortsnamen auf, von denen ich dachte: Die wirst du niemals zu Gesicht bekommen. Seit der Wende ist das möglich.

A. Hille: Vielen Dank für das Gespräch.

André Hille    05.04.2008    

© Kulturmagazin Kunststoff

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