poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Gerhard Zwerenz | Zum 90. Geburtstag

Beitrag von Stefan Müller
  Zum 90. Geburtstag

»Ginge es mir besser, würde ich vielleicht noch religiös!«

 

Gerhard Zwerenz verfasst seit 2007 eine politische Biographie (Die Vertei­digung Sachsens) im Poeten­laden. Es existieren mehr als 250 Folgen, was etwa 3000 Buchseiten entspricht.

Zum Inhaltsverzeichnis  externer Link



Gerhard Zwerenz, geboren am 3. Juni 1925, ist der einzige Deserteur der Nazi-Wehrmacht, der jemals im Bundes­tag ge­sessen und in Fassbinder-Filmen mitge­spielt hat. Seinen 90. Ge­burts­tag feiert der Autor zu­sammen mit Ehefrau Ingrid Zwerenz in seiner hessi­schen Wahlheimat, im Schmit­tener Orts­teil Ober­reifen­berg im Hoch­taunus­kreis. Der Poeten­laden gratu­liert herzlich!

Ingrid Zwerenz ist nach eigener Aussage seit Jahr­zehnten Gerhards „Lektorin, Korrek­torin und Beraterin“. Im Januar war er im Poetenladen beim „52. Nachruf“ ange­kommen. Merkel, Troika, Akropolis und Platon – ein echter Zwerenz-Titel. Doch ein schwerer Sturz bremste den Autor aus. Seither ist kein weiterer Blog­beitrag mehr er­schie­nen. Ingrid Zwerenz: „Jetzt, wo Gerhard nicht gut dran ist, wäre ich als Kranken­betreuerin gern zwei Jahr­zehnte jünger, also 60 statt 80 Jahre“. Stefan Müller hat per Mail für den Poeten­laden mit Gerhard und Ingrid Zwerenz kommuni­ziert.

Stefan Müller: Herr Zwerenz, wie geht's Ihnen gesundheitlich?

 

Gerhard Zwerenz: Wenn es mir besser ginge, würde ich vielleicht noch religiös.

 

Stefan Müller: In Ihrem bisher letzen Text im Poetenladen vom Januar 2015 ging es um Griechenland. Die Wahl dort kam erst danach – mit Varoufakis und Syriza. Verfolgen Sie die aktuelle politische Lage in Athen?

 

Gerhard Zwerenz: Ich interessierte mich schon als Kind für Athen, insofern bin ich Kind geblieben.

 

Stefan Müller: Geht es mit dem Internet-Roman irgendwann doch noch weiter?

 

Gerhard Zwerenz: Das liegt ver­ständlicher­weise nicht bei mir.

 

Stefan Müller: Was geht Ihnen durch den Kopf in diesem Jahr 2015 – wo mal wieder hochoffiziell zahlreiche Gedenktage im Kalender stehen – allen voran 70 Jahre Kriegsende?

 

Gerhard Zwerenz: Der wachsende Anteil der Arbeit am Massaker der Mensch­werdung.

 

Stefan Müller: Hat Sie das Thema Pegida aufge­regt und auch die Diskus­sion um die Partei AfD – die ja gerade in Sachsen sehr stark ist?!

 

Gerhard Zwerenz: Wahrscheinlich ist das Ende der Mensch­heit längst vorüber!

 

Stefan Müller: Welche Lektüre empfehlen Sie als Blochianer einem politisch interes­sierten Menschen im Jahr 2015?

 

Gerhard Zwerenz: Ein Wort des Philosophen bietet lange Stoff zum Nachdenken – Bloch konstatierte schon vor längerer Zeit statt emanzipativer Bedingungen, dass mehr und mehr Menschen nicht selbständig, sondern „Unter­nommene“ sind – dies ist ein Trend, der sich stetig steigert.

 

Stefan Müller: Herr Zwerenz, Sie haben ja gesagt, Sie seien in einem dauer­haften Exil mit Ihrem Wohnsitz in Oberreifenberg. Ver­missen Sie das Stadtleben überhaupt nicht?

 

Gerhard Zwerenz: Das Stadtleben ist Episode.

Ironie pur – so kennen seine Fans ihren Gerhard Zwerenz. In den siebziger Jahren gehörte er zu den bekanntesten Autoren der westdeutschen Linken. Er schrieb für „Konkret“, „Twen“, „Pardon“, die „Frankfurter Rund­schau“ und arbeitete für Radio und Fern­sehen. 1925 im sächsi­schen Gablenz als Sohn eines Ziegelei­arbeiters und einer Textilarbeiterin geboren, macht er nach der Volksschule eine Lehre als Kupfer­schmied. 1942 meldet er sich frei­willig zur Wehrmacht. Zwei Jahre später desertiert er.

Von der DDR in den Taunus

In der DDR kann der auf seine proletarische Herkunft stets stolze Zwerenz von 1952 bis 1957 mit Sonderreifeprüfung beim berühmten jüdisch-marxisti­schen Philo­sophen Ernst Bloch in Leipzig studieren. Zwerenz geht zum Stalinis­mus auf Distanz und wird 1957 aus der SED ausge­schlossen. Er geht in den Westen, um sich Jahrzehnte später nach der Wende wieder der alten Heimat zuzuwenden. Bloch beschäftigt ihn noch heute, wie man vielen seiner jüngeren Text anmerkt.

Für die PDS saß Zwerenz ab 1994 vier Jahre lang im Bundestag – und beklagte das „Ausbluten des Ostens“. Seinen Frust als Abgeordneter hat Zwerenz in einem Buch („Krieg im Glashaus oder der Bundes­tag als Windmühle“) verar­beitet. Er versuchte aber auch, sich für die rechtliche Aner­kennung von Wehr­machts-Deser­teuren ein­zusetzen.

„Bin immer wieder auferstanden!“

Ein gespaltenes Verhältnis hat Zwerenz zu Geburtstagsfeiern: „Ich hatte ja mal einen Herzinfarkt. Danach habe ich mir geschworen, keine Geburts­tage mehr zu feiern. Erst wieder den Hundertsten! Ich hätte nie gedacht, dass ich überhaupt so alt werden würde. Ich bin mit 18 als Soldat schon mal gestorben. Auch in sibiri­scher Gefangen­schaft in ich auch schon mal gestorben. Und immer wieder auf­erstan­den.“ Das sagte er vor fünf Jahren, zum 85. Geburtstag.

„Gemäß der Familientradition sind wir alle drei keine Geburtstagsfeier-Fans“, so Ingrid, „der 90. ist aller­dings etwas Beson­deres“. Ob die Tochter aus Berlin zu Besuch kommt, war eine Woche vor dem Fest noch offen. Ingrid Zwerenz: „Tele­fonisch bzw. per E-mail erkundigt sie sich regelmäßig nach Gerhards Befinden, bei all seinen schweren Er­krankungen in früheren Jahren war sie immer zur Hilfe hier im Haus“.

Der Silbersee liegt mitten im Hochtaunus

Ihr besonderes Ritual haben Ingrid und Gerhard Zwerenz aber noch im vergangenen Sommer gepflegt: Den Besuch des erfri­schenden Freibads von Schmitten im Taunus, wegen seiner sil­bernen Alu­beschichtung von Zwerenz liebe­voll „Silbersee“ genannt – auch als Hommage an Karl May: „Vielleicht wird der Silbersee diesen Sommer noch zum warmen Goldeselsee, wenn man unsere gesamten politischen Klassen gemein­sam eintaucht!“



Gerhard Zwerenz   03.06.2015    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Gespräch
Aufsatz
Ingrid Zwerenz