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A. J. Weigoni

Dichterloh. Kompositum in vier Akten.

Postkompost in einem Aufzug
Liebevolle Bemerkungen zu den „Dichterloh“-Gedichten von A. J. Weigoni

Kritik
  A. J. Weigoni
Dichterloh
Kompositum in vier Akten
Lyrikedition 2000, 2005


Lieber Magister Tvitteraturae Hagedorn, berichten Sie Weigoni, Ihrem quasi Alter Ego, ich habe das Kompositum in vier Akten gelesen, mich durchgeflœzt durch die schwierigen Wœrter seines Gedichtbands DICHTERLOH, wie es meinem Namen geziemt, und gleich beim hors d'œvre Filetstuecke zu Tage gefœrdert: Schon das Motto von Orson Welles gefællt mir – wehtuende und befrei­ende Wahrheit. Das „Start-Up“ (p. 7) verspricht viel, und mehr als das wird eingehalten. Ein subversiges Spezialdiktionær mæandriert von Gedicht zu Gedicht, immer komplexer werdend, imaginære Realitæt wird generiert. Ja, in der Tat, schon die Gegenwart ist ewig, unendlich unsere optionale Entitæt, deflationær nach innen justiert, nach außen eine mitœse REvolution, und die „Magie des Erha­benen | gefangen im Regelwerk der Syntax“ universalisiert sich in der tausend­fæltigen Reflexiv­optiona­li­sierung und gewinnt den Kopf des Rezipienten für die Idee der Freiheit. Der Leser ueberwindet die babylonische Gefangenschaft der Wœrter, und das ganz ohne Hegel. „Leer­stelle“ (p. 13) ist ein weiteres Amuse-Gueule, das mir Appetit auf das per­petuum nobile dieser Poesie machte. „der sirenenhafte Ton | verkuendet eine ferne | Utopie“ – das ist die Leerstelle, das Nirgendwo der Utopie, die Variable, die wir ausfuellen mit der Dichtung, die immerhin einem mathe­matischen Limes æhnelt, die Werte an der Grenze evo­zierend. Der digitale Tanz kann beginnen. Weigoni twittert in die Tastatur, was das Zeug hælt. Und genau das macht Lite­ratur aus, die aus der gemeinen Twittrigkeit herauswæchst wie eine zarte Blume unter dem Schnee, bis sie die Kælte des Nichts durchbricht und aufblueht in den Ganglien des homo legens, wo das Gemeine im Besonderen aufgehoben wird. Angebunden an den Mast unseres Lebens­schiffs, und Twitterwachs in den Ohren, spinxen wir vor­sichtig durch unsere Augen­lider zu jener Insel, die wir auf der Suche nach der Liebe verloren, denn wir wissen: wir sind condamnés à être libres in einem extrauterinen curriculum vitæ. Wer mehr darueber erfahren will, lese Manfred Ostens wunderbaren Beitrag im neuesten Heft der Zeitschrift Sinn und Form: „Das glueckliche Ohr – ein Gespræch über Musik mit Peter Sloterdijk“ (Heft 6/2013, p. 864-877). Dort wird unterschieden zwischen dem ræso­nierenden und resonierenden lyrischen Ich. Des Autors personales Ich, so wird gerade bei Weigoni deutlich, ist nur eine Teilmenge des Lyrischen Ichs – anders gesagt: Das Lyrische Ich kann herunter­gebrochen werden auf das Autor-Ich. Dessen Ich wæchst als individuelle Teilmenge (i), bis es sich in der über­geordneten Allgemeinen Menge (A) derart auflœst, dass man bei oberflæchlicher Betrachtung glauben kœnnte, diese beiden Mengen seien identisch. In Wahrheit aber gewinnt des Autors personales Ich in der individuellen Teilmenge im guenstigsten Fall (was unbedingt erlaubt sein muss) die Qualitæt des Allgemeinen. Die Leser werden dann i und A verwechseln. Und genau das hat der Autor, ohne den Begriff des Lyrischen Ichs zu verletzen oder unan­gemessen zu erweitern, a priori gemeint. Und ob dann noch ein Rest des Unbewuss­ten uebrigbleibt, das vom personalen Ich in ‚sein' lyrisches Ich einsickerte, ist eine vielleicht praktisch zu vernachlæssigende Frage, wenn es auch grundsætzlich ein un­ueber­windliches Hindernis bleibt. Wie gesagt, das merkt kaum ein Leser. Selbst die kluegsten fragen sich nicht immer, ob das Dichter-Ich im großen Allgemeinen aufgeht. Meist versœhnt sich der Leser sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen Ich. Bei Manfred Osten liest man es so: „Wenn einer sagt, ich denke, also bin ich, muss doch irgendwo in ihm eine Instanz sein, die diesen Satz artikuliert. Diese innere Fluester­stimme muss man sich wie eine sonore Glasscheibe vor­stellen, durch die der Denker hindurch­denkt oder hindurchhœrt, ohne sich selbst reden zu hœren. Schon das Sich-selber-reden-Hœren wäre ein großer Fortschritt, weil man dann endlich begreifen wuerde, dass das Denken ohne ein solches inneres Artiku­lieren nicht zu haben ist.“ (Sinn und Form, p. 872) Genug davon. Weigoni ist nicht taub, und er hœrt jedes Wort mit, das er schreibt. Aber auch er weiß nicht, was er gesagt hat, bevor er nicht die Antwort des Lesers darauf gehœrt hat. Wenn es in Weigonis „Buchstaben­suppe“ (p. 14) heißt: „... die Verantwortung dafuer uebernehmen & | die Suppe auslœffeln“, meint er also nicht nur sich selbst, sondern auch den Leser. (Sein humores­ker Hinweis unter dem Gedicht auf Russisch Brot læsst den Inter­preten allein, aber das zeigt nur das Geworfen­sein des Lesers in die Freiheit der, wenn man so sagen will, universalen Suppe, die sich ja selber nicht auslœffelt, sondern gleichsam die Liqui­dierung oder, besser gesagt, Verfluessigung des Sisyphos-Steins darstellt; sie fließt nicht den Berg wieder hinauf, sie ist immer da und wird genæhrt von den vielen Suppen, die immer wieder ins Irdische hinab regnen.) Wir sehen: Hinter Weigonis Poesie stecken gleichermaßen Scherz, Ironie und tiefere Bedeutung. Und viel Humor zuweilen. Kaum ein Gedicht zeigt dies deutlicher als „Æzesupp mit Ferkesfœss – eine Ode an die rheinische Kueche“, wo vom rheini#-schen Sauer­braten die Rede ist, von Kœlsch, Himmel & Æhd, und wo das lyrische Ich (s. o) zum Schluss ausruft: „O ihr sprachlosen rheinischen Kœche, ihr kocht es | damit ist alles gesagt & die Grund­lage fuer | ein erfolgreiches Besæufnis | ohne grossen Salzverlust gelegt“.

In „Caput III – Verlodern“ (gemeint ist auch: Verloddern) spricht der Dichter nur vordergruendig die „RECHT/SCHREIB\REFORM“ an. In dieser Vorder­gruendig­keit wuerden Sprache und Denken tatsæchlich verloddern, verlodern oder verbrennen. Die dem Titel folgenden 7 Doppelverse zeigen, dass Norm und Richtigkeit einer Sprache nicht genuegen; „Dinge existieren unab­hængig | von ihrer Benennung || Begriffe kleben nicht etikettengleich | an den Dingen || ohne Metaphern kœnnen wir sie nicht sehen & | muessen in den Bauplænen der Syntax | Bedingungen des Denkens suchen um | aus grœsster Strenge zur | hœchsten Freiheit zu gelangen ...“ Dieses Credo ist auch meins, und bei solchen Gedichten versiegt auch die Kraft meiner satirischen Liebe zu Weigonis Wort-Turmbauten, deren Statik und Materialitæt mich oft an Luft­schlœsser erinnert, an utopische Zustænde, die wir træumen müssen, die wir nur træumen kœnnen, um zu existieren. Am Schluss (in „Caput Morbidezza“) steht denn auch das viel­leicht schœnste Gedicht des Bandes: THINK & LINK. Es beginnt mit den Worten: „weiter | hin im Schwebe | zustand bleiben: || & wære es nicht ein Traum | zu sehen | ohne noch wahrnehmen zu muessen? || & so unmittel­bar in | das Eigent­liche eindringen | zu kœnnen? || ... wære es ein Traum | wahrlich, wir sollten ihn træumen | mit unbedingter Ausschließlichkeit ...“ (p. 106)
Ulrich Bergmann    14.12.2013   

 

 

 
Ulrich Bergmann
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