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Marc Oliver Ruehle

Foto No. 1

Man nistet sich ein, im anderen, in denen, die man liebt. So erging es mir in Heinrich. Er selbst konnte davon nichts wissen.

Wir sonnen uns an Deck. Heinrich und ich über dem Mittel­meer. Unsere Koordinaten gleichen sich an Bord. Der offene Himmel lässt das Metallkleid der Fähre funkeln. Das Licht reflektiert zu allen Seiten. Wir drehen uns im Kreis und stecken mit unseren Blicken die 360°-Grad-Landschaft der Meerenge ab. Hinter uns die klobigen, abgerundeten Steingebäude der Nordostküste Sardiniens, dort vor uns die Steil­küsten­hänge Korsikas. Dazwischen nur eine gewellte Silber­fläche. Heinrichs Ferien. Ich sehe ihm zu, wie er mit meiner Kamera die Boote steuerbord abknipst. Er richtet mein Auto­matik­objek­tiv auf die Segel, die einen Hauch Wind aufgefangen haben. Ein seltenes Bild, dass er sich außerhalb des Brennpunkts meiner Linse befindet. Ich beobachte ihn, wie sonst durch das kleine Fenster des Apparats. Der Fahrtwind zieht seine helle Stoff­hose immer wieder nach hinten und die Schienbein­knochen zeichnen sich ab. Heinrich fotografiert die näher kommenden schnee­weißen Felsen von Bonifacio, wie sie aus dem Dunst der Ent­fernung auf­tauchen. Er fotografiert die entgegen­kom­mende Fähre, die parallel zu unserem Kurs verläuft, als würde jemand an einem Flaschenzug ziehen. Foto­grafiert Passagiere, die an der Reling in die Spur der Schiffs­schraube starren. Foto­grafiert mich, während ich meine rechte Hand­fläche vor meine Stirn halte und dann abwinke. Mich, während ich einnicke. Mich, wie ich die restliche Überfahrt verschlafen werde. Mein stummes Gesicht ohne erkenn­bare Züge und Entdeck­bar­keiten, wie ich finde. Alle Gefühle ausgeblendet. Unsere Freund­schaft erscheint überbelichtet von dieser Sommer­sonne auf meinem Display. Wir sprachen seit seiner gestrigen An­kunft nicht darüber. Niemand gab etwas zu.
  Wir betreten wieder Festland. Hafenkino überall wo wir hinsehen. Ich betätige den Auslöser im Sekundentakt. Auf und Ab von Schlendernden, französische Großfamilien, gespannte Hundeleinen, Kinder­wagen­spuren im Kies vor den Piers, junge Pärchen, umgehängte Pullover, wippende Mastreihen und Flaggen europäischer Nationen, knappe Kleider an meist dunkel­haarigen Mädchen. Heinrich mit zwei kalten Pietras in der geschlossenen Hand vor der Hafen­meiste­rei. Du liebst es, denke ich. Wie du es liebst. Deine Präsenz, dein Wesen, welches allen offen steht. Ich porträ­tiere Heinrichs schönes Profil, Heinrichs glasblaue Augen im scharfen Zoom, eben dann als er mal für einen genaueren Blick stillhält. Seine fein gezeichnete Hand am Flaschen­hals, die Bier­schaum­bläschen auf seinen Lippen, ich bin jetzt ganz nah dran. Am nächsten Morgen bei Kaffee und Zucker­tüten­rascheln. Heinrich mit Milchbart vor einer meter­langen Sportyacht. Heinrich beim Strand­picknick, zwei Gläser verraten, dass er zu zweit unterwegs ist. Und sonst? Heinrichs jetzt gebräunte Haut, fast ohne Unreinheiten. Die kühne Narbe überm Nabel, sein zweiter Geburtstag. Als ein Unfall ihm fast seinen Leichtsinn nahm. Er hat die Hände unter seinem Kopf zur Schlafhaltung gefaltet. Seine geschlos­senen Augen sind in die Sonne gerichtet. Ich beneide es, wie ungeniert und nackt er hier vor mir liegen kann.
  Wir baden. Ich bin nur bis zur Hüfte im Wasser um noch fotografieren zu können. Wie die Abendsonne hinter seiner rechten Schulter verschwindet. Als würde sie von hinten durch sein Schlüsselbein dringen. Mir gelingt ein Foto, als mein Schatten sein Gesicht in zwei Hälften teilt. Kleine Wege führen vom Strand mit Anstieg zur Altstadt. Wir schlendern mit nassem Haar und kratzigem Salz unter unseren Hemden. Auf dem Fels vor uns die Festungsanlage, hinter deren alten Mauern das Zentrum wartet. Mit Märkten, Eckcafés, kleinen Hotels und bescheidenen Wohnräumen. Eng und kaum über zwei Etagen ragend, pappen die Häuser aneinander, als schütze und wärme jedes das andere. Ich arrangiere ein Podest aus losen Ziegeln. Für eine Selbst­auslöseraufnahme. Doch als wir die Arme um uns legen, rutscht die Kamera vorn über und knallt auf die warmen Pflaster­steine. Die Sonnenblende birst. Also keine gemeinsame Ansicht von uns vor der Kulisse des Städtchens. Sonst passiert nichts. Heinrich lädt mich vertröstend in ein Bistro zu Wein und organisiert das wohl schönste Schachbrett, auf welchem ich jemals gegen ihn verliere. Griffige Holzfiguren, handgeschnitzt, das Schachmuster auf die dünn gesägte Scheibe eines Holz­stumpfes gemalt. Schachmatt nach vier Gläsern. Weil er gewonnen hat brauche ich ein wenig Zeit, bevor ich wieder mit ihm spreche. Meine Kamera hängt über der Holzlehne. Ich bin gehemmt. Heinrich lacht charmant. Das Weiß in seinen Augen glänzt nach diesem Sonnentag. Ich will ihn nicht anstarren und wende den Blick ab in die Umgebung. Der Innenhof, in dem wir sitzen, ist mit schweren Tischen ausge­stattet und von den Holzbalken hängen Lampions. Sie leuchten wie kleine Monde. Heinrich lässt die Rechnung bringen, früher haben wir oft die Zeche geprellt, jetzt wohl ein Alter überschritten.
  Wir ziehen ziellos durch den Ort. Die Lädchen sind bis spät in die Nacht geöffnet und bieten Töpfereien, Tuchstoffe, regionale Liköre und Postkarten aller Art. Neben einem Eiswagen setzen wir uns auf den abge­rundeten Brunnenrand. Ich schöpfe mit einer hohlen Hand Wasser und streiche meine Haare nach hinten glatt, bevor ich wieder abdrücke. Heinrich, wie eine große Pistazienkugel mit Sahne seinen Mund versteckt. Das breite Grinsen vom Alkohol. Heinrichs Trösten. Die roten Pupillen werde ich später nachbearbeiten und durch sein eigentliches, klares Blau ersetzen. Ich knipse willkürlich und verübe kleine Attentate auf Heinrich. Beim Boule-Spiel auf einem Platz, welcher unter den Laternen goldgelb schimmert. Ich schwenke im Weitwinkel über die Fläche. Um das Sandfeld reihen sich einige Männer, um seine geschickten Würfe zu prüfen. Heinrich unter einer Weide vor einem kleinen Tangoclub, wo ich erstmals einen nachdenklichen Blick festhalten kann. Er erzählt von Helena und ihren Schwindel­anfällen, von den willkürlichen Attacken. Von wachen Nächten und ängstlichen Berüh­rungen. Von schnürenden Umarmungen. Er ist ernst und ich zeige an, es auch zu sein. Gedank­lich fälle ich ein Urteil. Wie du dich liebst an ihrer Seite, wie weltmännisch du tust, wie du sie überforderst, denke ich. Wir reden wie immer nicht darüber und gelangen schweigend an unsere Strandstelle. Wir leben minimal aus einer kleinen gelben Zelttasche, die wir in einem Dickicht in Meernähe verstecken. Unter den Überhängen der Steilküste betten wir unser Lager auf dem losen Kreidekalk. Hier löse ich noch einmal vor der Nacht im Schwarz­weiß­modus aus. Man kann kaum etwas erkennen. Verkrampft lege ich mich an das Rauschen der Wellen und beobachte die Segelschiffe vor Anker. Wie die Positions­lichter schwanken. Ich bin erschöpft und spreche wenige wichtige Sätze.
  Der Morgen beginnt mit Heinrich. Ich sehe ihn zum Fels schwimmen. Ein abgebrochenes Stück vom Überhang, ein von Wellen geschlif­fener Amboss. Zurück in den Farbmodus. Während seines Saltos löse ich ein Foto aus. Der Tag ist bereits heiß. Langsam kommen die Touristen zurück. Heinrich wie er aus dem Wasser steigt. Wie versunken er wirkt, wie er vom Meer dazu gezwungen scheint, ein Foto vom Sand in seinen Brauen, Heinrich wie er unbeschwert zum Horizont sieht, auf der Suche nach einem neuen Gefühl. Heinrich, wie er immer vorbereitet ist. Heinrich, wie er sich liebt. Wie er aus Äußerlich­keiten besteht und ich foto­grafiere seine Unruhen und Fähig­keiten wie Studien von mir selbst. Dabei lasse ich die Wolke so vorüber ziehen wie sie ist, es wäre auch ein schöner Schuss geworden.
  Nach weiteren ähnlichen Tagen lösen wir unser Rückfahrtticket. Während die Autos und Wohnmobile auf der Ladefläche rangieren, sehen Heinrich und ich zum Abschied auf die lange Hafen­promenade. Ich hänge meine Kamera vom Ober­körper ab und löse ein letztes Foto aus. Wir legen, nachdem ein dunkelblauer Last­wagen minutenlang an Bord gelotst wurde, ab. Im Halb schatten der Kapitäns­kabine sehe ich meine Aufnahmen auf dem Display durch. Ich sichte alle knapp 300 Aufnahmen. Es gibt kein gemeinsames Bild von Heinrich und mir, zur Erin­nerung, dass wir hier waren. Ich drücke schneller auf die rechte Pfeil­taste um im Urlaub zu blättern und zu suchen. Die Licht­verhältnisse des korsischen Mittel­meer­sommers, die in Graustufen gehüllten Berge, verwilderte Vegetationen der Insel und die Feigenflecke auf den Asphalt­streifen ziehen ohne Leerstelle an mir vorüber. Stationen von Geschichten. Inseln eben. Immer für sich.
  Ich sehe zurück und lösche doppelte Motive. Heinrich sieht glücklich aus. Die Fähre hält auf Santa Teresa. Unter Hitze stehen Wölkchen auf der Horizont­linie. Mit einem Klicken löse ich den Linsendeckel meiner Nikon und halte aufs Meer. Foto Nummer 1. Korsika ist nur noch ein blasser Strich. Ich suche das Deck ab. Heinrich kann ich nirgendwo erkennen.
Marc Oliver Rühle  2011   

 

 
Marc Oliver Rühle
Prosa