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LYRIK-KONFERENZ   9

„Vielleicht hilft es uns“, schrieb Dieter M. Gräf in seiner Eröffnungsmail an Alessandro De Francesco, „wenn wir uns über post-poésie Gedanken machen, klarer zu sehen, wo wir derzeit stehen?“ Beide Dichter beschäftigen sich mit Entgrenzungen, mit anderen Medien, und haben in einer Korrespondenz für den poetenladen ihr Verständnis von zeitgenössischer Dichtung vorgebracht und weiter entwickelt. Nun werden sich weitere Dichter und Lyrikexperten äußern.
 
Tom Pohlmann, 1962 in Altenburg / Thüringen geboren, lebt nach vielfältigen Arbeits- und Studienaufenthalten in Leipzig, wo 2008, im Plöttner Verlag, Die Geschwindigkeit der Formeln. Gedichte und Prosa erschien; experimentelle Filme und Videoclips, Fotoausstellungen und Fotoessays.
 

Neuntes Statement | Tom Pohlmann

Entgrenzungen. Oszillationen
Schon eine Weile bevor sich die Möglichkeit ergab, an der Lyrikkonferenz teilzunehmen, hatte ich den ein oder anderen der bislang veröffentlichten Beiträge gelesen. Spätestens von dem Moment an, da sich die Diskussion an der Aufpfropfung des „Post-“ auf der Poesie entzündete, fiel mir jedoch innerhalb des Gesprächs ein Widerspruch auf, der mich seither beschäftigt. Denn ironischerweise gehören / gehörten Diskurs und Diskursanalyse zu den Spielregeln der postmodernen Literatur, insofern zeigt die hin und wieder demonstrierte Haltung, etwas zu nutzen und gleichzeitig abzulehnen, was bisher an Möglichkeiten zur Selbstbefragung liegen geblieben ist.

Beim Versuch, diesen Widerspruch (der mir nicht fremd ist) unter die Lupe zu nehmen, geriet ich schnell in die Situation, einen Ausflug in den ganzen Wust der theoretischen Belange zu unternehmen; doch schon nach wenigen Ansätzen war klar, dass es nicht das Ziel eines Statements sein kann, umfassende Exkurse in Sachen Postmodernismus zu liefern. Wenn ich dennoch auf zwei Seltsamkeiten hinweise, so deshalb, weil darin eine ganze Reihe von Fragestellungen zu finden sind, über die sich das Nachdenken lohnt. Bei der Recherche der Begrifflichkeiten wird man zum Beispiel rasch darauf stoßen, dass der Präfix „Post-“ auf der Moderne erstmals um 1870 auftaucht, zu einer Zeit, als Rimbaud und Verlaine schrieben, die für uns als Mitbegründer der Literatur der Moderne gelten. Es gab die Bezeichnung Postmoderne also bereits, auch wenn sie die ganze Zeit über, in der wir von einer Literatur der Moderne sprechen, brach gelegen hat und eine Parallelität im Leerlauf darstellt.

Mit Inhalten gefüllt wurde die Zweite Moderne, Moderne nach der Moderne oder Postmoderne, als die Teilung der europäischen Welt in Ost und West innerlich akzeptiert worden ist und der Status Quo, wie er in Folge der Nachkriegszeit entstanden war, als gegeben angenommen wurde. Für die öffentliche breite Annahme des Begriffes und seine Aufnahme in die Terminologie der Literaturwissenschaft scheint diese Tatsache eine nicht geringe Rolle gespielt zu haben; obgleich die Postmoderne (wiederum zeitversetzt!) erst zum begrifflichen Gemeingut zu gehören begann, als dieser Status Quo mit den Bürgerbewegungen in Osteuropa und dem Fall der Berliner Mauer überwunden wurde.

Was mich an der Begriffsbildung „Post-Poesie“ nach wie vor verwundert, ist der Wunsch nach einer Anbindung an die „Post-Moderne“, während in der Zusammensetzung für die Poesie fast zwangsläufig ein generelles Nach-der-Poesie entsteht. Zuerst stellte sich mir die Assoziation zum Gewichtheber her, der auf beiden Seiten gleichschwere Hanteln benötigt, um sein Gleichgewicht zu halten; dann jedoch, wie beim Deja vu, erinnerte mich das Beziehungsgefüge an etwas, das ich erlebte, kurz nachdem mein erstes Buch erschienen war.

Ein Rezensent des Buches fand unter den biographischen Daten den Hinweis, dass ich ein paar Jahre lang als Briefträger bzw. „Post“-Bote gearbeitet hatte. Er kombinierte dieses Detail mit dem Umstand, dass ich seinerzeit der postmodernen Literatur zugeschlagen wurde und ordnete die Arbeiten des Buches als „post-post-modern“ ein. Die Oszillationen, die dabei entstanden, fand ich durchaus zutreffend in ihrer leisen Ironie. Gleichzeitig zeigte das assoziative Flimmern zwischen den möglichen Bezugspunkten jedoch ein Dilemma, das nur für mich selbst keines zu sein schien. Gerade dort, wo es mir darum gegangen war, die Moderne als künstlerische Herkunft offen zu legen, wurden durch die Verwendung von Mythen und Alltagsmythen weitere Fundamente sichtbar, und darunter noch weit ältere Bausteine, deren Inhalte an mir nicht spurlos vorüber gegangen waren.

Wenn wir davon ausgehen, dass Inhalte und Formen von den ältesten uns heute bekannten Texten an weitergegeben, verändert und neu bearbeitet wurden, wäre genaugenommen durch die gesamte Literaturgeschichte hindurch bei einer ganzen Reihe Autoren von einer postmodernen Arbeitsweise zu sprechen. Es scheint im Literaturbetrieb nur keiner so interpretieren zu wollen, weil es die Forderung nach einer Art von Originalität untergräbt, die sich in der Nähe zum Ästhetizismus befindet und bei den Lyrikern, die der Postmoderne hinzugezählt wurden, teilweise zu einer Rhizomatik geführt hatte, deren zuweilen wildes Aufbäumen kaum wägbare Inhalte mit ans Licht brachte.

Der größte Zuwachs, der sich in den zurückliegenden Jahren für mein Schreiben ergeben hat, war mit gewissen Einschränkungen in der Verfügbarkeit von Inhalten verbunden und stellt für mich ebenso eine Entgrenzung dar. Das mag unlogisch klingen, zumal man sein Wissen und seine Erfahrungen überall mit hinnimmt: aber damit nicht gleichzeitig auch den vertrauten Sprachraum / die vertrauten Sprachräume. Die vielen Einsprengsel, welche die gesprochene Sprache für einen Muttersprachler bereit hält und einem Schriftsteller durch das relativ zeitgleiche / sofortige Verstehen der Nebenbedeutungen, Idiome und ihrer Bildlichkeit als eine Summe von Verlautbarungen für die Arbeit am Text zur Verfügung stellt: Sobald man im Alltag mit Hilfe von Wörterbüchern zu korrespondieren beginnt, bricht sie weg. Man kann auch nicht davon ausgehen, dass die aktive Teilnahme an der Kommunikation in einer Fremdsprache sofort / umgehend zu brauchbaren Impulsen für das eigene Schreiben führt, weil es ganz automatisch zu einem Aufsplitten zwischen Schreiben und Sprechen kommt. Man verwendet im Alltag die Sprache wieder zum Übermitteln einfacher und einfachster Informationen, ringt förmlich darum, Mehr­deutig­keiten aus­zuschalten und verstanden zu werden in dem, was man sagt, als dass es dabei um die Teilnahme an einem hochkomplexen Sprachspiel gehen kann.

Einen Schlüsselmoment dieser Art verbinde ich mit einem dreimonatigen Aufenthalt in New York. Ohne mich darüber jetzt im einzelnen mitteilen zu wollen, verließ ich damit mehr als eine ganze Reihe von gewohnten Arbeitsbedingungen.

Im Resultat bedeutete es, die Überlegung Kafkas, nach dem Punkt zu suchen, von dem an keine Umkehr mehr möglich ist, musste kein äußerer Punkt sein, wie ich bis dahin annahm.

Was ich seither genieße, ist die Beständigkeit der Weiterreise. Wenn mein Unterwegs­sein vorher von Ruhe­losigkeit und Ziellosigkeit gekenn­zeichnet war, bemerke ich ein Zurückkehren der Gelassenheit. Ich bleibe länger an einem Ort und versuche, ihn zu vermessen, ohne die Fortbewegungsart, die ich für mich selbst gerade als passend empfinde, mit der immer schneller werdenden Kultur (wenn sie diese ihr nachgesagte Eigenschaft überhaupt noch erfüllt ...) ins Verhältnis zu setzen.

Es mag sein, der Gedanke an eine (auch kulturelle) Kontinuität jenseits der Wiederholungen ist eine dieser stillen Hoffnungen, die dazu geführt haben, dass ich mit den neuerlichen Überlegungen zu einem Anything goes noch weniger anfangen kann als vorher. Unabhängig vom jetzigen Zeitpunkt lag das in der Vergangenheit oftmals an der fehlerhaften Eindeutschung des anything in der Parole, die mich dann um so mehr an Nietzsches Aphorismus „Alles ist falsch.“ erinnerte. Drei Worte, die sich zwischen Allmachts- und Ohnmachtsphantasien bewegen, wenn man sie in ihrer Meta­phorisierung versteht, und die Neben­wirkungen des Anything goes gut beschreiben.

Der Wunsch, dass „alles“ gehen möge und nicht nur etwas von vielem, hält sich vielleicht von Haus aus beim Nichts-ist-richtig auf oder lebt von der engen Nachbarschaft zum Rien ne va plus. Für die Lyrik der Neunziger erwies sich das ständige Umkippen dieser Positionen ins jeweils andere Extrem als Killer der Vielfalt. Es begünstigte zumindest ein semi-öffentliches Sprachspiel, bei dem es nicht mehr um ein freies Spiel der Kräfte ging, das (unter anderem) von dem Staffellauf durch Zeit und Raum lebt, wie er sich beispielsweise zwischen Rimbauds kolossaler Einfriedung: „Man muss das Leben ändern.“ und der monologisch / dialogischen Struktur bei Rilke zeigt, der sich daran förmlich anzuschließen scheint und schreibt: „Du musst dein Leben ändern.“ Vor dem Hintergrund einer schwindenden Leserschaft für Gedichte war daraus in der Praxis ein despektierliches Intermezzo der Zusätze geworden, dessen Absurdität ich der Verstehbarkeit wegen symptomatisch nur auf den imaginären Bild-Punkt bringen kann, dass man Rilke auch mit dem Satz antworten konnte: Ändere du mal dein Leben.

Möglicherweise erleichtern es Selbst­definitionen, innerhalb der Viel­stim­migkeit schneller einen Platz für sich zu finden und einen Claim abzustecken. Ich habe mich vor gut zehn Jahren dafür entschieden, meine Arbeiten als Philosopheme zu bezeichnen, und dabei ist es im Großen und Ganzen geblieben. Was ich damit meine, ist nicht so sehr die Erstellung eines Lehrsatzes, sondern die Tendenz, dem Material zu vertrauen, den Text durchzuarbeiten, dem jeweiligen Thema zu folgen. Manchmal komme ich dabei meinem früheren Ideal nahe, dem Gedicht, Prosatext oder Essay die Qualität einer Formel mit auf den Weg zu geben; aber das ist schon deshalb nicht in Serie zu bewerkstelligen, weil das Material etwas vom Autor zurückfordert. Es entstehen ganz automatisch Mischungsverhältnisse zwischen mir, den Inhalten der Wörter und Worte, ihrer Herkunft und ihrer Bedeutungen, die mit im Raum sind, sobald ich an einem Text zu arbeiten beginne.
Die Lyrik-Konferenz wird an dieser Stelle mit weiteren Teilnehmern fortgesetzt. Kommentare können per E-Mail gesandt werden.
Tom Pohlmann   15.06.2009  
  1. post-poésie (I)
  2. post-poésie (II)
  3. ästhetisch links
  4. against dualisms
  5. Transfer
  6. (anti)political and transfer process
  7. jetzt
  8. no first class second hand!
  1. Lucas Hüsgen:
    In einer Hoffnung auf Wildnis
  2. Sylvia Geist:
    Finden, Fiebern, Übersehen
  3. Jean-Marie Gleize:
    L'excès – la prose
  4. Noura Wedell:
    Prejudice Perception
  5. Jan Volker Röhnert:
    Poesie und Gedicht
  6. Jayne-Ann Igel:
    Was auf der Hand liegt
  7. Anja Utler:
    Unter dem post-Deckchen
  8. Han van der Vegt:
    The Body Poetic
  9. Tom Pohlmann:
    Entgrenzungen. Oszillationen
  10. Flavio Ermini:
    La passione del dire
  11. Christian Schloyer:
    Tractatus ...
  12. Jérôme Game:
    Poetics of the borders
  13. Jürgen Brôcan:
    „... daß wir können sicher schreiben ...“
  14. Hans Thill:
    Weder Gott noch Metrum
  15. Tom Schulz:
    Anstelle einer Poetik
  16. Norbert Lange:
    Lichtungen