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Isabelle Lehn
Abfallen
Die Kunst bestehe darin, den Blick nicht vom Horizont abzuwenden. Ich gähne. Die Kunst des Innehaltens, des Drinnehaltens, ruft Maren durch den Wind und wirft mir eine Pappschachtel zu. Ich fange sie auf, irgendwo am Rande des Blickfelds und ohne zu verpassen, um wieviel Grad das Grau seine Schieflage verändert: dunkles Grau, das sich in kaum helleres Grau hineinfrisst, am Rand der Welt und viel zu weit entfernt, als dass ins Nichts zu stürzen heute noch ein Ausweg wäre.
Wenn du gähnst, ist es schon zu spät, ruft Maren. Ich nicke und habe keine Ahnung, was sie meint, schüttele einhändig die Schachtel. Travelgum. Es schmeckt widerlich. Ist dir schlecht? Ich nicke noch einmal. Wie gesagt. Wenn du erstmal gähnst ...

Wellenberge, Wellentäler, Wellenberge, Wellen... Wenn es Maren und Sven vor die Wolken hebt, spannen sich hier unten die Sicherheitsleinen. Ab und zu wischen Tina und ich uns die Gischt aus den Augen, sonst spielt meine freie Hand am Karabiner, der die Schwimmweste mit dem Gurt verbindet und mich mit diesem Schiff, von dem ich nicht fortkomme. Kai nennt das Schiff unsere Yacht. Sie ist zu klein für uns alle, dich und mich und deine fixe Idee von mir. Ein Boot, das seine Chance zum Kentern verpasst hat, als Kai den Befehl zum Segeleinholen gab. Seitdem fahren wir unter Motor und wollen, wie es aussieht, nicht mehr untergehen. Kai steht am Ruder und du daneben, deine Segeljacke ist rot wie meine und ich weiß, dass auch du darunter nass sein musst und frierst. Doch solange der Motor läuft und der Wind pfeift, höre ich dich nicht. Stephan liegt unten im Salon. Also ist es egal, wohin ich sehe, also sehe ich in irgendeine Richtung, auf die Wellen und denke an nichts, schon gar nicht an dich. Ich bin sediert, fixiert, etwas ruhiger gestellt. Sinken lassen, aber wohin sinken, wohin lassen, solange ich am Haken hänge, an dir; solange ich gähne und mir noch einen Travelgum in den Mund stecke.

Das Land grenzt belanglos ans Wasser. Und wir segeln entlang, Tag für Tag, an einem Streifen Anthrazit, während die Seiten des Reiseführers Wellen schlagen, ungelesen und gebunden in ein Lavendelfeld, das seine Farbe in einem Schrankfach verliert. Nichts ist so gut, wie es war, als wir bloß eine Idee davon hatten.
Maren übergibt sich und Sven dreht sie in den Wind. Unsere Gesichter sind von roten oder gelben Kapuzen gerahmt, um vor jeder Schattierung von Grau auffindbar zu bleiben. Das Wasser hat uns eingekreist: Es schaukelt unter uns, springt hinauf und kitzelt die Wirbelsäule hinab, tropft aus den Kniekehlen durch den Stoff, der sich in keine Richtung dagegen verwehrt. Die Finger verlieren Salz an den Regen, der in jedem Seil steckt. Nicht Tampen, nicht Schot, wenn es doch ein Seil ist, das mir durch die Hände rast und Brandspuren hinterlässt, weil ich es falsch um die Winde gelegt habe und Fahrradhandschuhe eben doch nicht ausreichen. Du sagst, es sei egal: Dass wir das Meer bislang nur vom Strand aus gekannt haben. Und ich glaube dir vielleicht, bis aus dem Nichts ein Sturm heraufzieht und alles schief liegt, genau wie wir. Osmose, denke ich, denn dein Name will mir nicht einfallen. Er brennt in meinem Hals – und wenn du nicht gestorben bist, im toten Winkel hinter meiner Kapuze, was dann? Im Salon liegt Stephan in seiner Schwimmweste, als könnte das Wasser, das wir bereits in die Polster gesessen haben, ihn aus dem Schlaf spülen und davontragen.

Bevor es Abend wird, sind wir in einem dieser Häfen, die Kai Marina nennt, wegen der Versorgungseinrichtungen: Flachbauten aus schmutzigem Beton, deren Kanten sich vor dem Himmel verlieren. Darin eine Hafenmeisterei, ein Supermarché und, etwas abseits gelegen, die Duschen. Im Büro hängt eine Tafel, die das Wetter von morgen kennt: Wind und Wolken, erzählt Tina, die Französisch spricht. Auch Kai spricht eine eigene Sprache, wenn er seine Crew aufs Anlegen vorbereitet: Klar bei Fender! Fier auf die Schoten! – worauf wir uns aufgescheucht an der Reling entlang drücken, mit dicken Polstersäcken in den Armen immer am falschen Platz sind und nicht verhindern können, dass unser Schiff gegen die rechts und links vertäuten Boote stößt.
What shall we do ...? Kai hat seine Stirn aufs Steuerrad gelegt, die Hand auf seiner Schulter muss zu dir gehören. Auf dem Steg dreht sich Maren eine Zigarette. Sie singt und ich sitze neben ihr, denn auf dem Boot redet ihr über Dinge, die ich nicht verstehen willen, und dann steigt eine Schwimmweste, Stephan aus dem Salon hinauf. Ich sehe durch die Ritzen zwischen den Planken aufs Wasser, habe leuchtendes Orange im Augenwinkel und deinen Blick wie nassen Stoff am Körper kleben. Stick him in a bag and beat him senseless ... Kai reibt sich die Stirn und Tina stößt ihn an, um auf den Betonklotz in meinem Rücken zu zeigen. Ich stehe auf, Maren steckt mir eine Zigarette in die Jackentasche und Tina ruft: Die Duschen sind umsonst!

Die Duschen sind Stehtoiletten, über denen Duschköpfe angebracht sind. Mir wird übel, ich verkneife mir das Gähnen und denke nicht ans Duschen – noch bin ich nass genug.
Der Wind ist klamm, wo es den Hügel hinauf geht. Unter meinen Füßen quietscht braunes Gras, als hätte die Sonne die Erde erst verbrannt, um sie dann mit Vorsatz zu ertränken. Oben setze ich mich und sehe euch zu, euch und dem Hafen, diesem schaukelnden Campingplatz, diesen immergleichen Booten in ihren gefluteten Parzellen. Nur unser Schiff sieht anders aus, ist ein Zelt, rot und gelb, Tina hat die Jacken zum Trocknen aufgehängt. Von rechts und links laufen Damen in gestreiften Pullovern über den Steg, in den Armen tragen sie Hunde. Auch ein Paar läuft vorbei, ineinander gewunden, bis die Frau sich mit einem Kuss vom Mann löst und im Duschhaus verschwindet. Dann steht er da und sieht ihr nach, als seien die Krähen auf den Abfalleimern Tauben, der fleckige Bau ein Palazzo, als schaukelte hinter ihm eine Gondelarmada. Ich rauche und achte nicht darauf, ob du es siehst.

Stephans Segeljacke ist verschwunden. Sie hing zum Trocknen an Deck, war gelb und neu, unübersehbar. Vielleicht hing sie nicht an Deck, meint Kai. Ich räume im Bug alle Schwimmwesten aus der Klappe, beuge mich in den lackierten Stauraum und taste die Ecken ab. Es riecht nach Schaumstoff, nach altem Schwamm, aber das Fach ist leer. Bis deine Stimme dumpf gegen meinen Hinterkopf stößt – herzzerreißend, dein Einsatz! – bis ich die Augen schließe und darauf warte, dass mein Kopf anschwillt und ich ihn nie wieder herausziehen kann.

Bevor Maren und Sven vom Einkauf zurück sind, hat auch Kai die Suche aufgegeben, weil wir ihm schließlich glauben, dass Segler einander nicht bestehlen. Sven trägt Bier in den Armen, Maren schlenkert mit den Plastiktüten und ruft jeder Dame und jedem Hund ein Ahoi zu. Erst an Bord erfährt sie von ihrem Fauxpas, und dass man nur Schiffe so grüßt: Achilles, ahoi! Maren klopft gegen den Baum, und ich zeige auf die Stelle, an der Stephans Jacke nicht mehr hängt. Sie ist weg, sage ich, die gelbe. Du lachst und Sven reicht mir ein Bier: Auf uns!

Auf uns, den ganzen Abend: Ein Wir aus synchronen Schlucken. Bist du das, neben mir? Manchmal glaube ich es, manchmal greifen wir unsere Hände und links von dir sucht Stephan immer wieder nach einem Thema für euch. Nur Kai sitzt etwas abseits. Ich sehe ihn durch die Flasche auf Tinas Knie, über den grünen Pegel hinweg am Kartentisch sitzen, neben all den Lämpchen, Knöpfen und Geräten, wo er abends, wenn er genug von uns hat, ins Logbuch schreibt. Ab und zu blickt er auf: zur Spüle, in der mit jedem Schaukeln die Töpfe klappern. Wasser brandet über den Rand, parallel zum Meeresspiegel und mit Schmorgemüse vermischt, das sich scheinbar unbeteiligt vom Topfgrund gelöst hat:
Vom Land etwas schmecken, das war doch dein Wunsch. Also gehe ich mit, in eine dieser Versorgungseinrichtungen, neben Stephan, der mit Einkaufen dran ist und der Zucchini für Gurken hält. Ich kaufe Gemüse, er kauft Wein. Mehr nicht, und das weißt du auch, leugnest nichtmal, es zu wissen, und hältst dich doch an den Konjunktiv.

Was meinst du wird Kai ins Logbuch geschrieben haben, neben Wellenhöhen, Windstärken und Knotenzahlen? Neben seine Bemerkung vielleicht, dass er sich für Tina schämt, wenn sie im kurzen Rock neben der Winsch hockt? Unter die Kommentare zu Svens Kippen im Cockpit, zum Rauch, der nach unten zieht, wo Stephan liegt und Angst hat, zu ertrinken? Was schreibt er über dich und mich, wenn wir uns im Bug des Schiffes vergessen, während alle anderen schweigend um den Tisch sitzen, weil niemand raus kann, wenn draußen der Regen plärrt, weil niemand reden kann, wenn von nebenan Rotz und Wasser in den Salon schwappt?
Dich wird niemand gehört haben: Ich schenk ihn dir. Hol ihn dir rein. Wieso Markttreiben, Supermarkttreiben, treibts doch gleich hier!
Du lachst, während deine Schwimmweste meine Schläge abwehrt, du lachst, wenn ich mich vom Bett kippen lasse auf der Suche nach einem Grund, und wenn du mir erklärst, wie unbedingt ich sein Glied in meinem Mund spüren will.

Seit es hell ist, seit Maren abgespült und Kai sich vergewissert hat, dass jedes Messer, jeder Topf, jeder Teller verstaut ist, sind wir wieder unterwegs. Hinter der Hafeneinfahrt setzen wir die Segel: Der Wind ist nicht stark, und wenn man genau hinsieht, sind die Wolken heute blau hinterlegt. Links von uns mischen sich braune Flecken in den Küstenstreifen, und im Süden taucht etwas Schwarzes, Eckiges aus den Wellen: Ein U-Boot, versichern wir uns.
Wenn auch du ein Schiff wärst, dann eines, das in die Wolken sticht. Eine Schiffschaukel auf dem Jahrmarkt, die ganz oben verharrt und das Hinabmüssen vergessen lässt, einen Moment lang, bis die Erde an ihr zieht. Aber du bist kein Schiff. Du fällst frei.
Meine Fahrkarte ist längst über Bord gegangen, treibt unauffindbar zwischen Wellenkämmen. Tina will ein Foto schießen, von mir und dem U-Boot. Ich winke ihr zu, und für einen Moment sieht es so aus, als müsste nichts geschehen.
Isabelle Lehn   15.01.2009    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   

 

 
Isabelle Lehn
Prosa