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Rüdiger Safranski

Gespräch mit Diana Feuerbach für den poetenladen
Wenn sich die Bühne dreht
  Gespräch
poet nr. 22   externer Link
Frühjahr 2017



Literatur und Philosophie – so das Thema der 22. poet-Ausgabe – be­fruchten sich seit jeher gegen­seitig. Die poet-Gespräche geben Einblick in eine schillernde Be­zie­hung, die spä­testens mit Platon beginnt.
Rüdiger Safranski, geboren 1945, ist Philosoph und vielfach ausge­zeichneter, in 30 Sprachen über­setzter Autor von Bio­graphien über Goethe, E.T.A. Hoffmann, Hei­degger, Nietzsche, Schiller, von Büchern über die mensch­lichen Grund­fragen, u. a. über das Böse und die Wahrheit, über die Romantik (2007), über die Freundschaft von Goethe und Schiller (2009) sowie über die Zeit (2015). 2014 wurde Rüdiger Safranski u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis ausge­zeichnet.


 

Diana Feuerbach: Herr Safranski, wie war das Verhältnis von Literatur und Philosophie in der Antike?

 

Rüdiger Sanfranski: Problematisch. Platon zum Beispiel, der wichtigste Säulenheilige der abendländischen Philosophie, wollte, als er den idealen Staat entworfen hat, dass die Kunst, die Literatur besonders, weil sie den Geist verweichlicht, keinen Platz haben soll. Er hat sein berühmtes Höhlengleichnis entworfen, und daraus geht es schon hervor: Die normalen Menschen sitzen vor dem Schattenspiel, gewissermaßen im Kino, und halten das für die Wirklichkeit. Wer aber die Wahrheit erkennt, der erkennt, dass dahinter Figuren vorbeigetragen werden und die werfen nur den Schatten. Wer vor dem Schattenspiel sitzt, im antiken Kino sozusagen, hat das mindere Verhältnis zur Wirklichkeit. Das war zu bestimmten Phasen Platons die Beurteilung: Die Literatur hat es nur mit der Illusion zu tun und die Philosophie mit der Wahrheit. Dabei – und das ist eben das höchst Paradoxe – hat Platon selbst Kunstwerke geschrieben mit seinen Dialogen. Das sind veritable sprachliche Kunstwerke, die auch eine raffinierte Dramaturgie haben. Das könnte man sogar auf die Bühne bringen. Da arbeitet also ein Philosoph mit ästhetisch-künstlerischen Mitteln und will dann die Kunst verbannen aus dem Reich der Wahrheit und sogar aus dem idealen Staat.
  Das nur als Beispiel, dass das Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur immer ziemlich kompliziert war. Ein zweites Beispiel, wie unglaublich wichtig Philosophie für die Literatur gewesen ist, ist Dante. Philosophie in Dantes Zeit war in der Hauptsache Theologie. Die Göttliche Komödie, ein Urtext der abendländischen Literaturkunst, ist ohne theologischen Hintergrund gar nicht zu denken. Aus diesen beiden Beispielen, Platon und Dante, lassen sich zwei Gesichtspunkte heraus­stellen: Erstens gibt es eine Feindseligkeit und Konkurrenz zwischen Philosophie und Kunst bzw. Literatur. Zweitens gibt es ein Verhältnis zwischen den beiden, wo gewissermaßen eine Philosophie-Theologie die Mutter der Kunst ist.

 

D. Feuerbach: Wie hat sich das Verhältnis weiterentwickelt?

 

R. Sanfranski: Meine These ist, dass die Literatur immer am besten war in Zeiten, wo ein produktives Verhältnis zur Philosophie da war. Das hat beiden Seiten gut getan. In der deutschen Literatur kann man das Beispiel der Romantik und des deutschen Idealismus nehmen. Das war eine Blütezeit der Philosophie und eine Blütezeit der Literatur. Das hat sich wechselseitig befruchtet. Offenbar gibt es Zeiten, wo die Philosophie mit ihren Mitteln zu Einsichten kommt, die befeuernd und entfesselnd auf die Kunst wirken. Das ist im Grunde auch die Erklärung, warum es so große Literatur um 1800 gab und zugleich große Philosophie. In der Philosophie hat man damals zum ersten Mal gesagt: Hoppla! Vielleicht ist es doch so, dass das wichtigste und produktivste Vermögen in uns nicht die Vernunft ist, sondern – das war damals der Ausdruck – die Ein­­bildungskraft. Wir würden heute sagen, die Fantasie. Und dann kommt zum Beispiel der Kant, von dem man manchmal sagt, er sei ein trockener Rationalist. Das stimmt so gar nicht! Der sagt, die Einbildungskraft, das Vorstellungsvermögen, die Fantasie ist der Motor, der treibt. Das ist das Elementare in uns. Auch wenn wir erkennen, bauen wir ein Bild der Wirklichkeit. Wir sind nie bei der Wirklichkeit selbst, sondern wir bauen unablässig Bilder der Wirklichkeit. Und das nennen wir dann Erkenntnis. Was ist der Treibsatz für dieses Sich-Bilder-Machen in der Form der Erkenntnis? Das ist die Einbildungskraft. Und die arbeitet einerseits in den Wissenschaften, auf eine streng reglementierte Weise, und sie arbeitet in der Kunst, auf eine freiere Weise. Damit hatte die Kunst den allerhöchsten Segen bekommen. In den Kreisen, die überhaupt Literatur und Kunst wahrnehmen konnten, weil sie lesen konnten, hatte plötzlich alles, was mit Kunst zusammenhing, einen ganz hohen Stellenwert.

 

D. Feuerbach: Wie genau ist diese Beeinflussung durch die Philosophie vor sich gegangen?

 

R. Sanfranski: Das muss man sich nicht so vorstellen, dass die Künstler um 1800 nun alle anfingen, Philosophiesysteme zu studieren. Es reichte zum Beispiel die Einsicht, wonach das Fundamentale die Einbildungskraft ist. Das reichte aus, um gegenüber allen bisherigen Traditionen die Bühne umzudrehen und ein neues Spiel zu beginnen. Es müssen also nicht ganze Systeme studiert werden, sondern es müssen Einsichten zünden. So war das zum Beispiel bei Kleist. Man redet gerne von Kleists sogenannter Kant-Krise. Kleist hatte nicht sonderlich gründlich Kant studiert, es reichte ein Gedanke von Kant, den er aufgeschnappt hat und wichtig nahm. Der Gedanke, dass wir ja nie die Wirklichkeit selbst erkennen können, sondern immer durch die Perspektive unserer Wahrnehmung. So wie mit Gläsern, ja? Durch ein blaues Glas ist die ganze Wirklichkeit blau. Und für Kleist ist diese Einsicht des großen Kant so angekommen: Ja das ist ja wahnsinnig! Ich weiß ja wirklich nicht, wie die Wirklichkeit ist! Ich lebe ja gewissermaßen in einem Wahrnehmungsgefängnis! Ich berühre nie die Wirklichkeit, wie sie wirklich ist! Das hat ihn zunächst in eine Verzweiflung gestürzt. Und das hat ihn tief geprägt, in den Themen seiner Literatur und seiner Stücke. Da geht es sehr häufig um Missverständnisse, darum, dass da jemand etwas ist und etwas sagt und jemand anders misstraut ihm und nimmt ihn anders wahr, als der sich selbst wahrnehmen will. Und daraus entstehen ganze Dramen. Dass die Menschen aneinander vorbeileben, dass sie einander nicht verstehen, sondern sich nur Bilder voneinander machen und sich überstülpen. Ein solches Misstrauen könnte man allerdings auch ohne Philosophie entwickeln.

 

D. Feuerbach: Sie meinen, aufgrund der eigenen Lebenserfahrung?

 

R. Sanfranski: Ja, von der Lebenserfahrung und der eigenen Gestimmtheit her. Aber sagen wir mal so: Wenn bestimmte Gedanken gewissermaßen einen offiziellen Status bekommen, als gesellschaftliches Etwas, dann hat das nochmal ein anderes Gewicht. Dann ist man noch viel stärker unter der Suggestion dieses Gedankens. Insofern ist es überaus wichtig, was jeweils philosophisch geschieht, was gerade in das Denken der Menschen, auch der Nicht-Philosophen, auch unbemerkt hineinwirkt, was sogar zum Gemeinplatz wird. Später im 19. Jahrhundert hat der marxistische Gedanke eingeschlagen in gewisse Leute, die auf einmal die gesamte Wirklichkeit als Überbau und Basis konstruiert haben. Hier ist eine Basis, das ist die Ökonomie, und da ist der Überbau, das ist die Kunst. Solche Bilder setzen sich so fest, dass man sich gar nicht mehr fragt, ob sie stimmen. Eine bestimmte Interpretation der Welt bekommt eine Dominanz. So läuft das Einflussverhältnis zwischen Philosophie und Literatur. Philosophie, wenn sie eine große Wirkung hat, stellt einem historischen Augenblick und den Menschen, die in ihm leben, eine plausibel scheinende Interpretation der Welt zur Verfügung.

 

D. Feuerbach: Wann ist das zum letzten Mal passiert, näher an unserer Zeit?

 

R. Sanfranski: Das habe ich mich auch gefragt. Wann ist es zum letzten Mal richtig wuchtig geschehen? Der Marxismus existiert ja in gewissem Sinne immer noch. Aber es gibt noch ein schönes Beispiel, auch nicht mehr ganz aktuell, es kommt aber vielleicht wieder. Das ist der Existenzialismus in der Version von Sartre und Camus oder vielleicht auch von Hannah Ahrendt. Bei allen Unterschieden gibt es da einen gemeinsamen Weltentwurf, der die Menschen beeinflusst, nämlich die Verbindung aus Freiheit und Absurdität. Freiheit, das meint, wir haben immer einen Spielraum, egal, wie das konkrete Bedingungsgefüge ist. Und wir haben immer auch die Verführung, diesen Spielraum wegzuerklären.

 

D. Feuerbach: Der freie Wille des Menschen wird ja aktuell von der Hirnforschung sehr in Frage gestellt.

 

R. Sanfranski: Ja, und jeder Schwachkopf, der den freien Willen in Frage stellt, benutzt seinen freien Willen, um so eine Theorie zu entwickeln. Anders geht es ja nicht. Also, der existenzialistische Weltentwurf, der unterschwellig immer noch da ist, den ich persönlich im Übrigen sehr favorisiere und versuche, auch stark zu machen, setzt sich aus zwei Elementen zusammen: aus einer Aufmerksamkeit gegenüber den Poten­zialen der Freiheit, die jeder einzelne hat, und daraus, dass der Gesamtzusammenhang der Welt und der Natur nur den Sinn hat, den man ihm gibt. Das ist kein objektiver, transzendenter Sinn wie in religiöser Zeit. Das meinte ich mit Absurdismus. Aber es ist auch nicht nur ein Sinn im Sinne des bloßen Nutzens für mich. Der Mensch ist ein Wesen, das sich überschreiten kann. Das ist der Kernsatz des mir sehr sympathischen Existenzialismus.

 

D. Feuerbach: Ohne objektiven Sinn, endet die Welt da nicht im Chaos?

 

R. Sanfranski: Sagen wir so: die Natur ist ein evolutionärer Prozess und wird nicht von einem übergeordneten Sinn geordnet. Da passt dann das Chaos oder der Zufall oder, wie die Philosophen sagen, die Kontingenz, auch mit hinein. Natürlich. Schopenhauer sagt das so schön: Wenn man mal mit einem größeren Abstand schaut, was ist die Erde? Ein erkalteter Planet mit einem Schimmelüberzug von Leben. Der Schimmel hat die Eigenschaft, sich überall auszubreiten, ziemlich unappetitlich, aber in­mitten des Schimmels ist es gemütlich und warm. Das ist natürlich eine Metapher. Übrigens auch ein spannendes Thema, die Karriere von Metaphern. Wir denken ja mit Hilfe von Metaphern. Darin zeigt sich übrigens, dass im Denken selbst etwas Ästhetisches liegt. Viele unserer Begriffe und Ausdrücke sind bildlich. Das geht schon beim Begriff »Begriff« los. Das kommt von be-greifen. Das war jetzt eine Abschweifung, aber eine wichtige. Wenn wir über Literatur und Philosophie reden, müssten wir eigentlich am Anfang sagen: Das Ästhetische ist der Zusammenhang zwischen den beiden. Dieser Zusammenhang liegt schon in der Sprache, und zwar in der metaphorischen Qualität der Sprache.

 

D. Feuerbach: Welchen Sinn hat das Leben für die Existenzialisten?

 

R. Sanfranski: Der existenzialistische Weltentwurf weist einen objektiven Sinn im Sinne einer Transzendenz oder Zielvorgabe zurück. Aber wir bilden Sinninseln. Das nennen wir Kulturen. Es gibt keinen Sinn, außer wir machen ihn. Sinn ist etwas, was Einzelne oder auch ganze Kulturen, ganze Kollektive, als produktives Vermögen erzeugen in der Art und Weise, wie sie ihr Leben organisieren. Denn Sinn ist im Kern nichts anderes als der Ausdruck für Zusammenhang. Wenn es einen Zusammenhang gibt zwischen A und B, dann sind A und B sinnhaft aufeinander bezogen. Wer sagt, er hat das Gefühl, sein Leben sei sinnlos, der sagt damit eigentlich, es ist ein zusammenhangsloses Leben. Es besteht aus Elementen, die keinen Zusammenhang ergeben, wo man auch keinen Halt findet usw. Die Natur hingegen besitzt einen sehr strikten Zusammenhang. Aber wenn wir über sie sagen, sie ist sinnlos, dann meinen wir damit – das ist jetzt ein erweiterter Begriff von Sinn, denn Zusammenhang hat sie sehr wohl –, dass sie nicht, wie es die theologische Zeit noch sagte, zum Ruhme Gottes existiert.

 

D. Feuerbach: Also es gibt kein höheres Ziel mehr, keinen »vertikalen« Sinn.

 

R. Sanfranski: Richtig. Es gibt kein höheres Ziel. So ist auch der Begriff der Evolution konzipiert. Es gibt zwar eine Höherentwicklung des Lebens, aber das geschieht nach der Darwinschen Theorie nicht aus einem zielgerichteten Geschehen, sondern aus einem Zufallsgeschehen. Zufällige Mutation … und ein paar überleben. Und die werden selektiert, die die besten Überlebenschancen haben. Das heißt: eine Entwicklung, die aber keine teleologische Entwicklung ist, sondern eine zufällige, welche aber trotzdem zum Resultat hat, dass es eine Höherentwicklung gibt. Jedenfalls werden die Darwinisten von sich selbst glauben, dass sie ein Höhepunkt sind. Da lachen dann die Hühner! Wie auch immer: Der Darwinismus ist die heute aktuelle Form des Wissenschaftsglaubens, eine wahrlich durchschlagende Lehre. Der Darwinismus will einerseits eine strenge Wissenschaft sein, durch Beobachtung, Empirie usw., aber er beinhaltet auch viel Spekulation. Er ist ein interpretativer, hochgradig philosophischer Rahmen. Wenn spätere Zeiten auf unsere Zeiten zurückblicken werden und dann die Geisteshistoriker schreiben, ja was war denn da, sagen wir mal in Europa, was waren die maßgeblichen Hintergrund-Weltinterpretationen? Dann wird man auf den Darwinismus kommen, auf die Reste des Marxismus und auf den Existenzialismus, der Rest ist dann langweiliges Herumgemurkse an Erkenntnistheorie und Moral. Allzu häufig entstehen wirklich neue, umwälzende Weltentwürfe nicht. Herausragende sind in den letzten Jahren nicht geschehen. Es sind kleinere Neuinterpretationen, die aus der Philosophie kamen, die einen gewissen Einfluss ausgeübt haben, auch auf die Kunst. Das ist das, was man den Dekonstruktivismus genannt hat. Also das Spiel mit den Interpretationen, das postmoderne, das hat auch in der Literatur eine Rolle gespielt. Aber gigantische Zäsuren waren das nicht.

 

D. Feuerbach: Sind die gigantischen Zäsuren weniger wahrscheinlich geworden als früher? Ich frage das im Hinblick auf die heutige Fragmentierung des Diskurses durch die Vielfalt der Medien und die gewachsene Zahl der Schreiber und Denker. Wie kann sich ein einzelner Weltentwurf da noch durchsetzen?

 

R. Sanfranski: Ja, das ist eine richtige Beobachtung. Zum einen gibt es sehr vieles. Aber im Zeitalter der Vernetzung kommunizieren diese vielen Ansätze auch untereinander. Das ist ein Unterschied zu früher. Früher haben sie in ihren Nischen ihre Sachen gemacht und allenfalls kommuniziert, wenn die Werke fertig waren. Die mediale Wirklichkeit hat sich ungeheuer verändert in den letzten zwanzig Jahren, auf der Ebene der horizontalen Kommunikation. Das erzeugt eine Vielfalt, aber eine Vielfalt, die voneinander weiß und sich auch wechselseitig befeuert, aber es eigentlich nicht zulässt, dass es so ganz durchschlagende, originelle Entwürfe gibt. Die einen machen etwas, die anderen machen es klein – so läuft das Spiel. Das ist mein Eindruck. Ich hatte auch schon vor unserem Gespräch überlegt: Gibt es irgendetwas, so in den letzten zwanzig Jahren, auf den Gebieten der Literatur und der Philosophie, von dem man sagen könnte, da hat sich die ganze Bühne gedreht? Ist mir nicht eingefallen. Zwar wird in jeder Saison das »absolut Neue« propagiert, das gehört zum Marketing, aber es ist bislang immer eine Variation des eigentlich Bekannten, auch in der Literatur. Ich mache ja seit einigen Jahren im Schweizer Fernsehen den Literaturclub. Deswegen habe ich die literarische Neuproduktion sehr nah verfolgt. Man findet immer wieder interessante Bücher, klar, aber nicht so, wo man sagen würde, das ist ein großer Wurf. Und in der Philosophie genauso.

 

D. Feuerbach: Sie haben Beispiele genannt für die Beeinflussung der Literatur durch die Philosophie. Ist es auch einmal andersherum passiert? Dass ein literarisches Werk erschienen ist, welches dann wiederum den philosophischen Diskurs geprägt hat?

 

R. Sanfranski: Ja, das hat es auch gegeben. Und zwar auf der Ebene, dass die Philosophie sehr viel Anschauungsmaterial aus der Literatur gezogen hat. Ich meine die Philosophie, die ich vorher am Wickel hatte, um 1800. Die hat natürlich unglaublich viele Anregungen von Schiller und Goethe bekommen. Das ist sozusagen der Grenzverkehr zwischen Literatur und Philosophie.

 

D. Feuerbach: Ein schönes Wort!

 

R. Sanfranski: Dieser Grenzverkehr war immer sehr intensiv. Ich möchte nur unterscheiden, was sozusagen der Alltag der wechselseitigen Befruchtung ist, und den Moment, wo sich mal so richtig die Bühne dreht. Das Beispiel vorhin mit Kant und der Einbildungskraft, das war ein neues Paradigma. So wie es ein neues Paradigma war, als mit Freud das Unbewusste mächtig auf die Bühne geschoben worden ist. Über das Unbewusste ist auch schon vorher, zum Beispiel in der Romantik, nachgedacht worden. Aber zum richtig zentralen Thema, zum neuen Paradigma, wurde es erst mit Freud. Und das ist ja letztlich auch Philosophie, was er da vorlegt. Eine Philosophie vom Menschen. Der Mensch ist gesteuert von seiner Emotion und nicht von seinem Verstand her. Diese Beobachtung oder Behauptung war ein gefundenes Fressen für die Literatur, und davon lebt sie. Und dann gibt es die Rückkopplung. Freud bezieht sich worauf? Auf Literatur! Auf den Ödipus zum Beispiel. Das ist ein literarischer Mythos. An diesem Beispiel lässt sich das Rück­kopplungsgeschehen verfolgen. Freud benützt einen literarisch-antiken Mythos, um seine Forschungen in den Tiefenstrukturen der menschlichen Seele voranzutreiben. Er kommt zu seiner Traumtheorie und der Theorie des Unbewussten. Und die Literatur um 1900, die Wiener Szene, aber auch international, alle sind davon angeregt und schreiben ihre Geschichten und Romane im Geiste der Entdeckung des Unbewussten. Da hat man richtig das schöne Geben und Nehmen.

 

D. Feuerbach: Ein Kapitel Ihres zuletzt erschienenen Buches Zeit: was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen widmet sich dem Spiel der Literatur mit der Zeit, also dem literarischen Umgang mit einem hochphilosophischen Gegenstand. Würden Sie Ihre Gedanken dazu kurz skizzieren?

 

R. Sanfranski: Gern. Über die Zeit nachzudenken ist eine Herausforderung – für das Alltagsdenken sowieso. Es ist auch eine Herausforderung für die Wissenschaften. Und natürlich für die Philosophie. Das Besondere aber bei der Literatur ist, dass man in ihr einen Souveränitäts­ge­winn erleben kann. Das passiert beim, wie ich es nenne, Spiel mit der Zeit. Ver­gangenheit, Gegenwart, Gleichzeitigkeit … ein Romanautor kann gottgleich darüber verfügen, und wir als Leser können ihm dabei folgen. In einem Buch erleben wir den Kontrast zweier Zeitformate. Das eine Zeitformat ist dieses: Während man das Buch liest, wird man älter, treibt man dem Ende ein Stück weit näher. Das ist die lineare Zeit, unwiderruflich, der irreversible Zeitpfeil. Ihr sind wir unterworfen, egal, was wir machen. Und das andere Zeitformat ist, dass wir uns Zeiten vorstellen und in ihnen hin- und herspringen können. Durchaus reversibel. Nennen wir mal das eine die »Zeit 1« und das andere, die vorgestellte Zeit, die »Zeit 2«. Diese beiden Zeitformate können in einen erheblichen Konflikt zueinander kommen. Aber sie sind besonders lustvoll zu spüren im Verhältnis von Literatur und Leben. Und so sehr ist es dort, nach meiner Ein­schätzung, ein Zentralpunkt, dass ich fast sogar sagen würde, dass das wohl die entscheidende Attraktion ist, die die Literatur auf uns ausübt: dass sie uns in die »Zeit 2« befördert und somit unsere latenten, eingestandenen oder uneingestandenen Probleme, die wir mit der »Zeit 1« haben, etwas kompensiert. Das ist der kleine Triumph beim Spiel mit der Zeit – seit Homer seine Epen erzählte und das Publikum begierig lauschte.

 

D. Feuerbach: Sie schreiben unter anderem über den berühmten Ro­man Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust, der die Zeit ausdrücklich zum Thema erhebt.

 

R. Sanfranski: Proust verspricht sich vom Schreiben, ein Stück der un­widerruflich verfließenden »Zeit 1« in einem Element von Dauer fest­zuhalten. Das ist die sogenannte unwillkürliche Erinnerung, wenn der vergangene Moment und der Jetzt-Moment gewissermaßen zusammenschießen und das Gefühl einer kleinen Ewigkeit entsteht, die über der Zeit ist. Das ist dieses Madeleine-Törtchen. Das ist der Versuch, mit der »Zeit 2«, also dieser vorgestellten Zeit, so in die »Zeit 1« einzudringen, dass für einen Moment der Zeitfluss angehalten ist und etwas anderes spürbar wird, eine Art von Dauer, die gewissermaßen eine dritte Dimension ist. Das ist nämlich der Punkt: Wenn früher, in religiösen Zeiten, von der Ewigkeit gesprochen wurde, hat man sich das auch nicht als eine endlose Zeit vorgestellt. Das könnte ja wirklich langweilig werden. Nein: Ewigkeit wurde schon immer verstanden als ein Moment der Zeit-Enthobenheit.

 

D. Feuerbach: Ein Moment ohne Zeit?

 

R. Sanfranski: Ja. Ohne Zeit. Nicht eine endlose Zeit, sondern ein »Jenseits von Zeit«. Dann bekommt man es auch ein bisschen schärfer gepackt, was bei Proust der geniale Aspekt ist: Er versucht in seinem Roman, das Element des »Jenseits der Zeit« zu fassen, in der Zeit jenseits der Zeit zu sein. Das ist eine Art literarische Mystik. Sehr schön, sehr großartig. Und darum hat Proust vielleicht über seine Zeit triumphiert und ist zum Homer der Moderne geworden, mit einer Wirkungs­geschichte, die wohl noch eine große Zukunft hat.

 

D. Feuerbach: Das wäre also ein solcher großer Wurf der Literatur, der wiederum auf die Philosophie ausstrahlen kann?

 

R. Sanfranski: Das ist tatsächlich so ein großer Wurf, der da in der Literatur gemacht worden ist. Es gibt ein paar Leuchttürme, wo die Literatur zu ihren besten Möglichkeiten kommt. Da merkt man auch, dass man sich an manchen Punkten, wenn man über Literatur und Philosophie nachdenkt, lösen muss vom Denken in getrennten Disziplinen. Wo es richtig spannend wird, gehen Philosophie und Literatur ineinander über.

 

D. Feuerbach: Herr Safranski, ich danke Ihnen für das Gespräch.
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