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Ron Winkler
Frenetische Stille

„die verschiedenen obdachlosen Sloterdijks“
Kritik
Ron Winkler | Frenetische Stille   Ron Winkler
Frenetische Stille
Gedichte
Berlin Verlag, 2010
92 S., 18,00 €


Das Cover des neuen Gedichtbands von Ron Winkler ziert ein Gemälde des britischen Künstlers Christopher Winter mit dem Titel Daytripper im Stil der sog. Neuen Leipziger Schule. Man sieht vor einem Gebirgs­panorama, wie Alpen, eine monströs wirkende Idyllik, vor der zwei jugendliche Gestalten, ein Mädchen und ein Junge, im Zentrum des Bildes über einer Bergwiese schweben. Im zweiten Moment könnte man sie für vermeint­liche Suizidanten halten vor einem stark klischier­ten Hinter­grund. Die Ästhetik des Bildes wirkt auf eine befremdliche Weise künstlich und insofern verstörend, dass dem Bild als Ausschnitt – welcher Wirklichkeit auch immer – scheinbar jegliche Tiefe fehlt. Das Motiv des Schwebens, u.a. bei Marc Chagall noch visionär besetzt, wendet sich hier für das Auge des Betrachters in ein lähmendes Entsetzen. Die beiden Figuren schweben mit geschlossenen Augen auf der Stelle – wie in einem kalten Rausch – in einer frenetischen Stille der Disso­ziationen?
  Man möchte fast trotzig meinen: die Stille als Ort meditativer Einkehr gibt es nicht mehr, zumindest in besie­delten Gebieten. Und in den Metro­polen ist die Stille wohl mittlerweile undenkbar geworden.
  Von einem veränderten Begriff der Stille ausgehend, gut fünf Jahrzehnte nach John Cages Silence und dem pop­musika­lischen Timbre von Simon & Garfunkel (The Sound of Silence) wundert es kaum, dass Ron Winkler im Titel seines neuen Werkes die Stille in ein Gegen­satzpaar verwickelt hat. Man möchte fast trotzig meinen in Anbetracht der immer­währenden elekt­rischen Schwin­gungen in der Luft, müsste man die reine Stille mieten können und mit ihr auf der haus­eigenen Yacht vor St. Tropez hinausfahren aufs Meer ...
  Aber zur Winkler­schen Stille bzw. ihrer Frenetik: sie findet sich auf Seite 88 des nämlichen Bandes in dem Gedicht „nach den Erl­königen“. Hier im Zusammen­hang von „irre­gulärer Natur“. Ohne zuviel verraten zu wollen, irregulär ist hier das Pendant zu regulär, im Sinne von regu­lärem Kaffee. Den erhält man in global-uninspi­rierten Gaststuben auf Bahnhöfen, in Innen­stadt­bereichen und Malls. „nur / dass wir keine Saugnäpfe besaßen / war ein Problem. wie gut / hätten wir sonst die Entropie zu reapieren vermocht.“ Wie schön selektiv, wie selektiv schön die Apoka­lypsen doch sind, die uns erreichen. Zum Glück gibt es post­humoris­tische Nachfahren mit unter­gründigem Witz wie Ron Winkler, der seinem poetischen „Flying Circus“ im Sinne jener wunder­baren Welt der Schwer­kraft sonnenen­erge­ti­sche Flügel verleiht. Haftete seinen Gedichten in den beiden Bänden zuvor etwas (geschmack­lich ausge­reift) Delika­tessen­haftes bzw. Fein­geschliffenes an, so findet man in Frenetische Stille weitaus größere sprachliche Aufrau­hungen und grob­körnigere Bildwelten. Gleiches gilt für die Denk-und Sprechfiguren, die in ihren Reflexen und Reflektionen zu stärkeren Aus­schlägen neigen. „wir spürten die Mischung / aus Revolte und Parkplatz. spürten das / Potenzial der Geisha-Chicas so, wie wir / ihre Schmauch­spuren spürten. tief / in uns selbst, wo 17-Fronten-Kriege tobten.“ Wie ironisch gebrochen hier auch Park­platz auf Revolte folgt, es scheint und an einigen Stellen blitzt es auf, als hätten sich zunehmend Momente kritischer Diskur­sivität in Winklers Texte kassibert. Von den „maritimen Verzärte­lungen“ seines ersten Bandes (vereinzelt Passanten, kookbooks 2004) jedenfalls ist auf den ersten Blick wenig geblieben, zu stark haben sich konträre Wirklich­keits­momente den neuen Gedichten einge­schrieben.
  Zwei Richtungen scheinen deutlich zu werden: eine gewisse lin­gu­isti­sche Ruhelosigkeit im Winklerschen Werk und der stärkere Einfluss gewisser übersee­ischer poetischer Drogen. Letzteres muss auch in der Beschäftigung Ron Winklers mit der nordamerikanischen Gegenwarts­lyrik begründet liegen. In einer Vielzahl von Über­tragungen und Nach­dichtungen, die ihren zwischen­zeitlichen Höhepunkt in der beein­druckenden Antho­logie Schwerkraft (Jung und Jung, 2008) fand, die er herausgab. Seitdem hat sich sein Blick fokus­siert auf metro­politane Dichtung. Fanden sich in Frag­mentierte Gewässer (Berlin Verlag, 2007) deutliche Spuren von Rudi­menten des Natur­gedichts, die Winkler in hohem Maße ironisch-süffisant verab­schiedet hat, so sind im neuen Werk Kühe und andere (halb) tierische Freaks Groß­städte­bewohner geworden. Freaks wie „die verschiedenen obdachlosen Sloterdijks“, die man sich vor dem Cartier- oder Appleladen vorstellen muss. Konzessions­lose Frucht­fleisch­designer, die der Dichter in Urbanitäts­reservaten gescoutet hat für das Gegen­warts­gedicht. Denn schließlich geht es an die Blutbank- und Liege­wiesen­reserven. Ron Winkler weiß das: „bitte tank noch einmal leer. vom Trost, / den der Leser braucht.“ Allent­halben sind Winklers Gedichte für Fünf­sterne­lyrik-Leser tröstlich in dem Sinn, dass sie auch „zungen­sprachliche Liebes­abenteuer“ sind. Ihre Berücktheit entspringt dem unbedingten Willen zu gedank­licher Luzidität. Sie erhellen sich und den Leser ohne kassen­ärztliche Zahn­brücken. Sie kommen ganz ohne geistige Stütz­strümpfe und Ein­lagen aus.
  Das Spiel mit den sprachlichen Hintergründigkeiten bleibt jedoch an einigen Stellen ein schwieriges. Wenn Ron Winkler die „Bewohner der Zukunft“ in seinem mit Freud betitelten Gedicht „elfisch fremde Borderline-Primaten“ nennt, stellt sich die Frage nach den Abgründen, die hinter den Worten lauern und ihrem Erhellungs­faktor im Gedicht. Die Belich­tungs­zeit ist dann vielleicht manchmal notgedrungen zu kurz, wenn Phänomenen allein sprachlich auf den Grund gegangen wird, ohne ihr Wesen, ihre Eigenschaften näher, ambivalenter zu verdeut­lichen.
  Gewiss: den Sprach­optimisten- und halbwegs Naiven in der deutsch­sprachigen Lyrik bleibt Ron Winkler um Jahr­zehnte voraus. Hier haben wir Dichtung im Zeitalter der Globa­lisierung, die zwischen hoher Konzen­tration und lustvoller Abschwei­fung changiert. In poetischen Entwürfen, die Ver­wirrung stiften und Klarheit evozieren. Denn trotz aller möglichen Fach­sprachen- und Fremd­sprachen­register, die Winkler auf irritierend gekonnte Weise in eine Mixtur aus Bauhaus-Stühlen und darauf posierenden Dubuffet-Schafen verwandelt, wissen diese Texte um ihr sinn­liches Potenzial. Es sind niemals Trocken­texte oder Staub­sauger­gebrauchs­anwei­sungen. Im Gegen­teil: am Ende bleiben in kristallinen Über­zucke­rungs­lofts Frosch­subjekte zurück, die gleich­falls geküsst werden wollen.
  Und, für die Nachwelt muss zum Glück nicht gesorgt werden. Auch Kritiker und Betriebs­wirtschaft­ler verfügen über sogenannte Erleuch­tungs­pools und Abend­mahl­reserven. Bon Appetit!
  „wir lebten laboristisch weiter. in den Sommerhäusern / unserer Synaptikclubs. gut, wer über Vignetten / für Clownstunnel verfügte.“
  Ron Winklers poetisches Œuvre hat sich mit Frenetische Stille um ein weiteres Glanzlicht fort­geschrieben im Sinne von Schön­heit als Evidenz. Schönheit als Welt­verständnis.
Tom Schulz   24.03.2010   
Tom Schulz
Lyrik