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Sandra Niermeyer
Schriftzeichen
Es war nicht die Art, wie sie sprach, die mir als erstes an ihr aufgefallen war, sondern die Art, wie sie schwieg. Ihre Augen waren dann konzentriert, die Haut ihres Gesichts fast durchsichtig. Wichtig ist nur das, was man nicht sagt, sagte sie.
Wenn ich sie ansah, konnte ich mir vorstellen, was sie dachte. Sie erzählte es nie, und ich konnte mir einbilden, richtig zu liegen.
Sie konnte sieben Fremdsprachen, in denen sie beharrlich schwieg. Nach einiger Zeit meinte ich an ihrer Körperhaltung zu erkennen, in welcher Sprache sie schwieg. Vielleicht lag ich falsch, denn irgendwann fing sie an zu schreiben. Sie kritzelte vornübergebeugt auf ihre Hand, die Augen zusammengekniffen, als könnte sie selbst kaum lesen, was sie schrieb. Bevor die Tinte trocknete, drückte sie ihre Hand auf meinen Arm, und ich nahm dann einen Spiegel und las es. Die Handlung wirkte bald wie einstudiert. Wenn sie einen Stift zur Hand nahm, holte ich den Spiegel.
Waren die Worte in einer Fremdsprache, die ich nicht kannte, wußte ich, daß sie an meiner Fähigkeit sie zu verstehen im Allgemeinen zweifelte. Wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, klatschte sie mir ihren Handballen vor die Stirn. Ich ging dann ins Badezimmer und las unter dem kalten Licht der Neonröhre die Worte im Spiegel. Ihre kurzen, abgehackten Sätze, die sich veränderten, wenn ich die Stirn runzelte, einen anderen Rhythmus bekamen, sich meinen Gedanken anpaßten.
Ich war blaß, schon immer gewesen, aber jetzt wurde ich immer blasser, von Tag zu Tag. Die Tinte sickerte durch die Poren ins Blut. Sie werden langsam vergiftet, sagte mein Hausarzt, von Worten vergiftet. Ich werde blaublütig, sagte ich, ganz und gar blaublütig. Auf der Haut hatte ich Spuren, die sich nicht wegwaschen ließen, einzelne Kommas und Ausrufezeichen. Sie war sparsam in der Verwendung von Satzzeichen, trotzdem schienen sie auf meiner Haut zu haften wie Tätowierungen. Sie waren noch zu sehen, wenn die Buchstaben längst weggewaschen waren.
Ich schlug die Bedeutung der Fremdworte in Wörterbüchern nach. Aber sie sprach in Idiomen. Du willst nicht, daß ich deine Sätze verstehe, sagte ich. Du würdest sie auch dann nicht verstehen, wenn du ihren Sinn erfassen würdest, sagte sie. Dabei sah sie mich an, die Hand erhoben, auf der noch die Reste der Tinte klebten, deren Spiegelbild auf meinem Arm oder meiner Stirn war. Jedes Wort verändert sich, das von mir zu dir geht, sagte sie. Sobald es bei dir ankommt, ist es nicht mehr dasselbe. Ich runzelte die Stirn. Siehst du, sagte sie. Deine Worte gehen mir doch in Fleisch und Blut über, sagte ich. Sie zuckte die Schultern und drehte sich um.
Ich wußte, daß sie mich nachts beobachtete. Sie stütze ihren Kopf auf die Hand und sah mich an. Ich merkte es durch die geschlossenen Lider. Ich fragte mich, ob sie mich betrachtete oder die verblaßten Schriftzeichen. Einmal öffnete ich die Augen. Sie sah mich ruhig an. Dann drehte sie sich weg, rollte sich auf die Seite, ihre Haare folgten ihr über das Kissen wie eine Schleppe.
Sie verdichtete ihre Mitteilungen immer mehr, drängte die Wörter und Sätze so zusammen, daß sie bald aussahen wie chinesische Schriftzeichen. Ich wurde auf meine Tattoos angesprochen und zeigte sie bereitwillig vor. Ich ließ jeden glauben, daß die Zeichen das waren, für das er sie hielt: Tattoos.
Ihr Lieblingsspiel war Babylon. Ein alter Baukasten, mit dessen Bauklötzen sie als Kind gespielt und den sie nun in Babylon umbenannt hatte.
Sie holte das Spiel aus der Ecke hinter dem Wohnzimmerschrank und schüttelte es, um sich zu vergewissern, daß es noch alle Steine enthielt. Als würde ich sie entwenden, wenn sie nicht da war. Setz dich hin, sagte sie, und ich setzte mich an den niedrigen Tisch vorm Sofa. Niedrig, um genug Platz zur Decke zu lassen. Sie setzte sich mir gegenüber und klappte das Spiel auf. Ich beobachtete sie dabei. Ihr Gesicht war konzentriert, die Lippen zusammengepreßt. Fang an, sagte sie, und ich legte den ersten Stein. Danach hatte ich nichts mehr zu tun. Sie baute den Turm bis weit über unsere Köpfe hinaus.
Ich zog einen Stein aus der Mitte des Turms, weil sonst nicht genug Steine da waren. Hör auf, sagte sie, mach nicht wieder alles kaputt. Es reicht sonst nicht, sagte ich.
Der Turm war noch nie zusammengebrochen. Wir spielten das Spiel, wie es sich tatsächlich ereignet hatte. Der Turm wurde nicht zerstört, er wurde verlassen.
Ab einer bestimmten Höhe erzählte sie die Geschichte. Sie wurden in alle Winde verstreut, sagte sie. Dabei hatten sie den Turm gebaut, um zusammenzubleiben. Aber sie haben genau das Falsche getan. Hätten sie ihn nicht gebaut, wären sie zusammengeblieben. Ihre Augen glänzten dunkel und ich fragte mich, ob die Augen aller Menschen fiebrig zu glänzen begannen, wenn sie von Religion sprachen. Warum hatte Gott wohl solche Angst davor, daß den Menschen nichts mehr unmöglich sein würde, wenn sie den Turm zu Ende bauten? fragte sie. Ich zuckte die Schultern. An dieser Stelle verlor ich immer das Interesse am Spiel. Über diese Frage war sie noch nie hinaus gekommen. Warum mußte ein Gott Angst davor haben, daß den Menschen nichts mehr unmöglich sein würde. War er nicht trotzdem noch größer als sie?
Hätte er den Turm einstürzen lassen, hätte das die Menschen stärker zusammengeschweißt. Aber er war schlauer und hat ihnen die Sprache genommen und sie sind auseinandergegangen. Das war ihre Theorie. Wenn wir das letzte Steinchen auf den Turm gelegt hatten, gingen wir auseinander. Sie in ihr Zimmer und ich in mein Zimmer. Es war nicht die gemeinsame Sprachlosigkeit, die uns auseinander trieb, es war immer die Fertigstellung des Turms.
Ich spielte mit dem Gedanken, den Turm zum Einstürzen zu bringen. Die Hoffnung, die damit verbunden war. Aber sie achtete auf meine Handbewegungen, als ginge eine Gefahr von ihnen aus.

Nicht die Bauklötze stürzten ein, sondern das World Trade Center. Der Fernseher stand auf dem Couchtisch, auf dem wir sonst Babylon spielten. Ich war überrascht, welche Spracheinheit dieser Zusammenbruch bewirkte. Niemand, der etwas anderes sagte als die anderen. Die Zeitungsworte ließen sich deckungsgleich übereinander legen, alle Fernsehkanäle waren gleichgeschaltet.
Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa und sahen auf den Bildschirm. Sie kaute an ihren Fingerknöcheln, während die immer gleichen Bilder wiederholt wurden. Für einen Moment war ich froh. Solange sie vorm Fernseher saß, schrieb sie nicht. Solange sie an ihren Fingerknöcheln kaute, würde sie sie nicht beschriften.
Ich fragte mich, warum sich damals in Babylon niemand die Mühe gemacht hatte, die Sprache des anderen zu erlernen. Aber dann fiel mir ein, daß ich ihre Sprache konnte, einige ihrer Sprachen, und daß es nicht darauf ankam, zu verstehen, sondern sich verstanden zu fühlen.
Meine Tattoos waren verblaßt und niemand achtete mehr auf sie. Alle erzählten, wo sie sich aufgehalten hatten, als sie vom Zusammenbruch des World Trade Centers hörten. Ich sagte, ich habe auf dem Sofa gesessen und meiner Freundin beim Fingerknöchel kauen zugesehen. Ich dachte daran, daß meine Eltern erzählt hatten, damals, als Kennedy ermordet worden war, hätten sich die Leute ebenso verhalten. Sie erzählten, wo sie gewesen waren, als sie von dem Mord erfuhren. Die Erinnerung an den Ort und die Uhrzeit hielten sie für so wichtig, daß sie mehrmals täglich davon berichteten. Wie um das Geschehen in ihre kleine Welt einzugliedern.
Irgendwann hörten die Fernsehbilder auf, die Spracheinheit hielt noch lange vor. Ich wartete, ob sie die Bauklötze wieder hervorholte. Aber sie tat es nicht. Sie holte auch die Stifte nicht wieder hervor, und ich dachte, daß sie Recht gehabt hatte, daß ein zusammengestürzter Turm Menschen zusammenhielt.
Aber dann ging sie, und ich dachte, wie hoch Menschen auch Türme bauen konnten, manche Dinge blieben immer unmöglich.
Sandra Niermeyer    29.07.2009    
Sandra Niermeyer
Prosa