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http://trabant.novara. orch/seil/denza-duerre.htm
Durch das sogenannte Wettspringen (oft 50 Sprünge) leidet der Körper sehr, namentlich werden hierdurch Herz, Leber und Nieren (…) in Mitleidenschaft gezogen; ist es doch häufig genug schon vorgekommen, daß bei einem solchen tollkühnen Wettspringen ein Mädchen sein Leben einbüßte.
(Was sollen wir spielen?, Hamburg 1910)

Marchesa Colombi, liebe Maria Antoinetta Torelli-Viollier, die „Königskrone“ und das „Grosse Tor“, den Faden, der im Phlegma Stadt Novara vor den Maisfeldern unbespielt liegt, spulen die Menschen auf dem Markt schnell zusammen; Wörter, folglich tote Schlingen, die Denza, das Mädchen, in Büchern, den Musketieren, nachlesen will, wurden aufgegeben und rollen in der Provinz zu Boden, das Schweigen und das Unterlassen. Zu prophezeiendes, am Hinterkopf geknotetes Garn, und die Stiefmutter, das sagt das Vorwort von Nathalia Ginzburg, ist gar nicht böse, Eisendraht, eine stählerne Perücke. Vor der Rauhheit kann sie sich Denza schwerlich zurecht sticken und diese Spule ist ein Wachzaun, kein  h o h e r  Turm, kein aparter Kreuzstich, denn Schwingen haben Sie dem Mobiliar verboten. In dem Taschenbuch ist eine Orchidee, eine kluge Illustration, der Abfall des Geliebten vom richtigen Glauben an sie. Die Pflanze lugt und windet sich aus den Gassen. Denza Dellara behielt vom Erwachen an Verantwortung über ihren Kelch.

(Kaum zu fassen, dass  d i e  stückweise von rohem Rindfleisch und sechs roten Stühlen auf der Leinwand erschlagen wird.) Novara ist italienisch, damals genau wie 2030, fürchte ich, aber die Herkunft der Kälte ist lokalisierbar; das Klima ist ausserirdisch: Die Wege in Denzas Haus münden in Zwecken. Es ist Permafrost. Die Mächtigkeit ist fast wie die beider marsianischer Polkappen. Eiszeit, vom eisigen Föhn, und „Niemand bewegt sich“. Orchideen, sie würden wachsen, betaut werden und Bohrmilch tropfen (Kulmination der Industrialisierung im nördlichen Italien). Welches Alter ich veranschlage, die Gesichter der Familie sind ein schwarzes Gegenstück zum „Sportstück“, das Elfriede Jelinek vor Jahren uraufgeführt hatte, und die Bewegung war in ihm in allem. Die Familie wandert über die Landstrassen. Sie messen ihre Mühe - den Pflastersteinverbrauch. Die Wanderung wirkt auf mich wie vor einem staubigen Sommerdiafilm.

Stanislaw Lem, der seine Gestalten Ausserirdischer in sehr vielen Ereignissen abgewandt, unter Bewölkung erfand, hindurch die Funksignale dringen, oder uns Schatten auf den ausgebrannten Mauern auf einigen Zweit-Erden übrig gelassen hat, Hiroshima, parsecs-weit, schaute nachteilig in die Sterne: Vorstellungen sollten der Schwamm sein, der das Fremde an den Kanten zerstört? Sein Nichts führte erst in die Phantasie und stiess meine Ausschmückung an. Ich las Marchesa Colombi in der Regel nach seinen Romanen und von ihrem Buch zu Lems zurück. Auch Natalia Ginzburg war unbeholfen. Sie schreibt, dass sie üblicherweise diese Familie behängen wollte. Die Frost stechende Sonne schien per Daumenzeichen einer jungen Maharani kein Jota wärmer in Novara. Das Buch war der Dispens von ihrem frühen Indien.

Lem war meine kreative, omnipotente ,indische, sagenhafte Wahlverwandtschaft: Trümmern und Robotern erfand ich dazu, was ihren Planeten abhanden gekommen war, die Sardinen und die Gesichter. Marchesa Colombi bin ich zwangsverwandt. Nathalia Ginzburg und ich haben im indifferenten Novara gelebt.

Lems Cities, Sandplaneten und mit Trümmern bedeckte, sind  n a c h  einem Leben tot. Novara, die Provinzheirat, ist gemächlich ausdruckslos. Die „Toten Seelen“, meinen grausigen Film, habe ich nicht gesehen, nur nüchterne - gemächliche und harte Seelen. Ein Zeitwunderautomat ist dumm. Am Ort konnte ich in die verbliebene Vergangenheit und meine Zukunft fahren. Im Haus der Denza und den städtischen Cafes war eine füllige, untersetzte Gegenwart. Die Seelen sind ohne Fluchtpfad miteinander bekannt. In dieser Vergangenheit, 1870, war mir die nüchterne Gegenwart bekannt. Ich hatte sie mit Ginzburg aufzubewahren. Und die Heirat fügte Denza ihren Mann, einen neuen Bekannten hinzu. Die Familie weiss für die ewigen künftigen Jahre, dass sich Denzas Tränen und Lachen auf das beziehen, was sie kennen. Denzas Geliebter ist zugeschüttet (Orchidee und Park und die künstlichen Ruinen, die ich erwähnt habe). Novaras Menschen klebten in Ginzburgs Familienalbum neben ihren Eltern - und sie hätten ihre Eltern sein können. Alte aus Novara schliefen in ihrer Gruft, mindestens bis ins Krematorium. Nathalia Ginzburg wurde erwachsen und auch die Provinzheirat erstand auf, die Einwohner waren lebenslänglich brutale Fakten. - Marchesa Colombi drehte die Schlingen, das Verlangen zum Zeitsprung in die Zukunft, demnach, dass die Zeitlupenbeschreibung vom Haus der Denza Desaster und Stilkrach aller schönen Apartments ist; hat es Atrium und Loft je gegeben? Da ist der Glaube abgewetzt, dass es sie geben kann und wird. Feldgrauer, rieselnder Überfall waren diese Gebäude, ein Smog, und Denza würde Dalis zerlaufene Uhren begreifen. Die Wanderungen verrichten die Kilometer, sind indessen ausserhalb vergehender Zeit. Das bedeutet, Denza ist zehn Jahre nach dem fünfzehnten Geburtstag tätig als Kind und Leibeigene der Eltern, die ihr Altern dämmen. Um 1870 gab es keine Betoncontainer. Nur haben Denza und ihre Familie vieles schallgedichtet, Pflanzen verwahrlost, als ob das Haus ein Neubau ist, unter dem Garagen später dreigeschossig werden. Dann erwarten wir den Marsch der Frachtwagen. Die täglichen Schritte hörten sich auf diesem Fussboden hohl an. - Möbel und Pralinen, Töpfe und Bücher wirken vom Datum ihrer Fertigung an, in Beugung unter zerlaufende Jahrzehnte, rettungslos gebraucht. Eine Stunde danach haben sie eine Lastschrift. Denzas Halbbruder (er bleibt am Leben) kommt ältlich zur Welt, allerdings habe ich bereits Maschen in seiner Babywäsche gesehen, zur Tot­geburt eines Greises. Altern ist Wachstum, ein Körper kumuliert. Ballasternährung wird sein Gewicht austragen, aber ihm fehlt, dass die Falten ein­geprägt sind. Falten sind Zusatz. Sind Brillen und Kutschen second hand herüber gereist, von einer absolut gleichen Spiegelstadt? Grosshandels­erzeugnisse aus einem Nebenkosmos, der drei Jahre voraus ist? Durch die Klappe, einen Zeitschlitz? Neues, ein Buch, wäre sowieso geliehen; Geschenke sind dem Himmel. Denza traut der Frische geweihter Kerzen. - Die „Drei Musketiere“ hatte die Familie untersagt eher, weil das übertrieben und unzweckmässig schädlich im Haus wäre.

Die Provinzheirat, die Kulturgeschichte darin, war ein Schuss in die fernere Zukunft und zu den utopischen Geschichten und Filmen aus Amerika, die Lem hasst: Hier sind historische Trachten zollmässig eingedickt, an Denzas Geliebtem und seinen Freunden. Sie drücken Dumas Musketiere beiseite und vertreten sie ohne Lücken. Die Ära d'Artagnans ist die wöchentliche Runde im Konsum von Novara. Und beim Anblick der Vertretung steht Denza. Die Personen streifen sich über Gestalten und diese Gestalten be­stehen nur noch aus diesem persönlichen Dialekt. Nero, hätte Denza von ihm gelesen, könnte der sein, der ihn  b e s e t z t.  Denza dreht die Augen weg vom Morgenrot. Wenn sie plötzlich die Darsteller von den Dumas-Menschen pellte, hätte sie in der Zukunft eine Garage für sich. Frauen, in anderen Romanen, vermögen dann Schauspielerinnen zu sein. Sie könnte Paris und Ludwig XIII. gewinnen, und sie muss sich damit arrangieren, dass Porthos auch bei Dumas Fabrikant war: Barock riecht wie Benzin (1970) oder Maisbrei (1870). Dumas und die Stiefmutter sind eins. Sind d'Artagnan und ein neuitalienischer Fabrik- (oder Garagen-) Besitzer eins, endet das Bedürfnis zu glauben, dass Paris (1627) ausserirdisch und ein freier Stern abseits von Novara ist. Denzas Annahme ist falsch - dass quasi ihre Lage in Novara (1870) unsterblich sein wird. (Kinder um 1940 dachten, dass Ausserirdische immer schon Statisten, italienische Stuntmen, waren.)

Fünfzig Seilsprünge durch das Fingernetz der kleinen Mädchen kosten Denza nun wahrscheinlich den Verstand; eine vernachlässigbare Möglichkeit, dass Denza Himmel und Kerzen fremd, grösser, werden, weil die Familie bei drei Sprüngen sicherlich wach würde - oder sie wird als Ehefrau drei für fünfzig halten. Denza, denke ich, erfährt niemals, wieviel fünfzig Seilsprünge in Wahrheit sind. Das Phlegma Stadt Novara, Eisenwarenladen und Schulen, ist am Ende das Pseudonym, ein Nebentaufname für Paris in der Welt von Denza. Sie weint und hört auf. „Tatsache ist, dass ich dick werde.“ Infolge der Untersagung einer Scheinwelt lebt Denza in ihr. Zu dem Sprichwort vom Tropfen auf den heissen Stein hält sie ein Schild auf; der Tropfen fällt gebieterischer, wobei die Wandlung, der Tropfkessel in der Steinmitte in Denzas Augen ein blinder Fleck ist. Das war Orwells Dialog über Zwiedenken von „1984“, Sterne, Himmel, Paris und Musketiere gibt es - nichts daraus ist in Denza umfassend vorhanden.

Beim sechsunddreissigsten Seilsprung, ein Dröhnen in den Schläfen, hin-und her schaukelnd, hätte Denza die Wade im Provinzstrumpf auf dem Parkett gehabt, am Hof Ludwigs XIII. Das Rutschen der Strümpfe, staffiert in uralten  n e u e n  Brokat. Provinz-Krebs, der Aufschleiss neu hergestellter Sachen, trocknete an der Frische toter Gewänder. Ich besitze die Erlaubnis meiner citie (dem Kosenamen meiner Stadt) zum überraschten Hinein-­Brechen auf den Platz neuen Loderns. L.E., Albino Amerikas, zu dem es nicht verdammt ist. Wo im Euro stecken die Dollarzähne; wo ist der Reisskiefer - ein Zahlenwert, aus dem die Gräten tranchiert worden sind. Im Umlauf, in der Börse, ein Keil lauter sulzhaltiger Fischchen, der an der Wasseroberfläche wogt. Ein Euro ist für Zahlungen im Plot zu einer brillianten Zukunftssatire, für die statistisch aus allen Provinzstädten der DDR und den Dateien Novaras errechnete Stadt; er, Ket-Wurst, Broiler und Sättigungsbeilage meistern den synthetischen Gang der Dinge im Leben der statistischen Stadt, beschnittene Dinge. Die Beschneidung an Denzas Orchidee ist beschämend. Beutel und Säulchen sollten nicht voreilig Assoziationen vorwärts drängen - Denza wird beschnitten, hier darf man das Inbetriebnehmen der Klitoris im Sinn haben, aber Denza wird unvermögend sein, das ist die Beschneidung, ihre Eingebungen von Ehe auf die Spitze zu treiben. Seilspringen durchs „Grosse Tor“, Den-Faden-Abnehmen sind losgeschlagen. Dieses Seil wird ihr Arbeitsfaden werden, Stopfgarn, einbalsamiert vom Phlegma.

Denza wurde apathisch und tolerant. Die Toleranz wurde möglich, weil ihr von innen geschorener Park (Musketiere, Kreuzung des schwerleibigen Liebsten) sie träge gemacht hat. Sie wurde apathisch: Waris Dirie, geschmackvoller purer Phoenix, schrieb einen Reisebericht von einer viel schrecklicheren Beschneidung im eigenen Land Somalia. In der Apathie schluckten sie ihre Wunden, die Lidrand-Röte. Die Tränen kamen mir zähe und haftend vor. Klebstoff aus Kanistern, für Papiertaschentücher (ich fand nicht heraus, dass es das in Novara gab). Der afrikanische Schmerz, den ihnen die Müllhalden geschenkt haben, besteht ganz aus Sehnen. Marchesa Colombis Wunde, gepeilt und wieder auffindbar, verbraucht also Sachen, denen keine Frische je geeignet hat. Sie feilt und knispelt am Geäst, der Stadt, in dem ihr Nest hockt. Sie hockt im Drift, ein versinkender verflachter Kontinent. Novara ist Provinz; Nahaufnahmen von Krumen und Flicken sind mir dennoch problematisch greifbar gewesen, seine Daguerreotypie zu besitzen. Neblig wären erfundene Geschichten - die Familie wirft den Abenteuerromanen Unwahrheit, Lüge am Leben und Vergehen an der Wahrscheinlichkeit vor. Die Menschen in „Eine Provinzheirat“ vergingen sich aber auch am Vertrauen, das Novara gebracht werden kann; es ist ein Ebbestreifen: Nach dem Tod ihrer alten Tante muss Denza Tränen gebrauchen, die sie um ihre Orchidee weinte, den fetten Freund und den Traum von drei Musketieren. Sie muss sich den Ausdruck aufbereiten. Marchesa Colombis Technik, Verbrauch zu zeigen, ist gespenstisch. Ich fragte mich, ob es ein Premake heutiger Naturalien ist. Sie war kompetenter als unsere Ingenieure. Sie hat unsere Diskussion über den Klärwasserkreislauf erträumt, dass Sauberkeit relativ ist. Ich wieder­hole Lem an der Rampe: An einem Himmel wie Novaras wallt das Zentrum der Milchstrasse, hier ein Fast-Food-Teppich, zu dem die Sterne klumpen. Sein Nabel birgt die unermesslichen Entschlackungsapparate der bewohnten Trabanten. Als Kind war der Trabant kein Himmelskörper. Ein deprimierendes rundliches Auto. Ich identifizierte meine Gefühle, mit denen ich in ihm reiste; die Kurven zeichneten seine Ausbuchtungen über die Autobahn. Das Auto hatte Pausbacken. Ihnen anempfand ich, es sei alt, auch einem jungen, objektiv neuen Modell. Koordinierungsräte der Planetenförderation führen in den Milchstrassennabel zerknüllte Speisezimmer ab, das Stoffwechselend-Gemüse aus dem Barock oder 19. Jahrhundert, Norditalien oder Mars. Wir haben den Euro, die Münze, den Erwerb sämtlicher Recyclerechte. Und an unseren recycelten Speisezimmern fühlen wir das Alter der Grund-Zutaten.

Beispielsweise einen Atomkrieg, der Kraken-Köpfe pulverisiert; wenn ihr Altpapier zu neuen Büchern verarbeitet wird, blicken die Buchstaben der Ausgestorbenen stumpf aus der Zeitung der Provinzen hinaus.

Petra BernPrint

Petra Bern

Prosa