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Patrick Beck
Kleine Rezension über Beschriftung
Machapucharé
 

»Ich würde es so machen wie der Nepale­sische König. Er hatte 1964 die Besteigung des Machapucharé untersagt, eines 6997 Meter hohen Berges. Damit ein Geheimnis bliebe.«




Wenn ich die Welt um mich herum besehe, den Tisch, der vor mir steht, die Linde vor meinem Fenster, den Himmel über dem Haus und die vier Kräfte, die das alles zusammen halten, dann fühle ich zunächst den schmerzenden Zeh, weil ich mich gerade am Tischbein gestoßen habe, oder die Hitze des frisch gekochten Wassers, an dem ich mich fast wieder verbrüht habe. Ich bedenke nicht, das die Welt nicht beschriftet ist, dass also nicht an dem Baum Linde steht, noch nicht einmal Baum, am Himmel nicht Himmel und nicht Firmament und auch nicht Wolke. Genauso wenig beachte ich, dass an der Kraft, die verhindert, dass ich von meinem Tisch direkt zur Kanne mit dem Pfefferminztee schweben kann, kein Schild befestigt ist, auf dem „Gravitation“ oder „Schwerkraft“ oder eine physikalische Formel steht. Auch wenn nach dem Buch der Bücher am Anfang Das Wort war, heute ist die Welt schlichtweg ein unbeschrifteter Ort.
  Nein, es ist eher anders herum. Am Anfang war sie unbe­schriftet. Heute weiß ich schon, dass das grüntragende Holz vor meinem Fenster ein Baum, eine Linde ist, eine Sommerlinde. Bis ich meine erste Winterlinde gesehen habe, hatte ich geglaubt, dass Sommerlinden im Sommer blühen und Winterlinden im Winter. Sie blühen aber fast zur selben Zeit.
  Meine Sommerlinde ist eine Tilia platyphyllos, mit Stamm, Ast, Holz, Krone, Rinde und zwittrigen Blüten mit fünf weißgelblichen Blüten­blättern in Trug­dolden. Die Wolke ist ein Cumulus oder ein Altrostratus und der Tisch ein Bieder­meier. Zu den kleinsten Worten gehören Top-Quark, Higgs-Teilchen, Gluon und String. Die Welt ist umhüllt mit einem Ver­bands­päckchen aus Worten. Gelegentlich wechselt man den Verband aus. Bei dieser Gelegenheit sieht man nach, ob die Welt noch da ist. Das ist sie nie.
  So sehr man auch den Verband verschnürt, so viele Lagen aus den ver­schie­densten Mate­rialien man auch verwendet, irgend­wie schafft es die Welt, weiter­zufließen. Völlig unge­stört. So, als wäre der Verband gar nicht da. Das ist es, was uns stört an der Welt. Dass sie weiterfließt, bevor man etwas verstanden hat. Dass sie bereits in der Zukunft ist, bevor man die Ver­gangen­heit begriffen hat. Dass sie sich von unserem Tun nicht im geringsten stören lässt.
  Trotzdem geben wir nicht auf. Wir verbinden, was das Zeug hält. Auf etwas Fließendes können wir nicht bauen. Und, was das wichtigste ist, mit Fließendem können wir nicht handeln. Wir handeln mit den Worten. Man verpackt ein Stück Welt mit Worten und verkaufen dann die Verpackung. Für einen guten Preis muss man der erste sein. Oder vielleicht der zweite. Oder man präsentiert eine beein­druckendere Ver­packung. Das stimmt mich traurig. Dass die Welt so verpackt wird. Dass so vieles eingeschnürt wird. Das Erstaunen über ihre Wirklichkeit. Ihre Schönheit. Ihre Phantasie. Selbst wenn jeder einzelne von uns sich etwas einfallen lassen würde, bliebe unsere Phantasie doch erschreckend klein.
  Ich würde es so machen wie der Nepale­sische König. Er hatte 1964 die Besteigung des Machapucharé untersagt, eines 6997 Meter hohen Berges. Damit ein Geheim­nis bliebe. Im letzten Moment. Eine briti­sche Expedition war zuvor dem Gipfel gefährlich nahe gekommen, bis auf 30 Meter. Zusam­men mit Jan Skácel ziehe ich meinen Hut vor dem nepalesischen König. Ein Geheim­nis bewahren. Das sollten wir auch mit den Beschriftungen tun. Wir sollten mit unseren Wörtern ein Stück vor der Welt anhalten. Dreißig Zentimeter wäre ein guter Abstand.
Patrick Beck    29.12.2009    
Patrick Beck
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