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Das zwanzigste Jahr

Es ist ein brütender Junimorgen, mit dem dieses Jahr beginnt, oder vielmehr: endet, und ein neues beginnt, und ich, wieder einmal erwacht, in den Tag hinübergekrochen, ich, vornübergebeugt, die Ellbogen auf den Knien, am Badewannenrand, die erste Zigarette an diesem flimmernden Sommermorgen, der durch das gekippte Oberfenster hereindrängt, Augäpfel fallen auf die Kniescheiben, die weißen Schenkel, plötzlich ganz deutlich das Gewicht meines Körpers, das auf den verfliesten Boden drückt, noch immer das leise Erschrecken, das bin ich, ich weiß es längst, und das bleibe ich, ich werfe die nur halb gerauchte Zigarette in die Klomuschel, es zischt, ganz leise, ein Seufzen, an den weißen Fliesen ringsum echoen die Silben meines Namens, flattriges Crescendo, mein Kopf, ein Kreisel, der die Wände entlang fährt, es rauscht in meinen Ohren, ich drehe den Wasserhahn voll auf, jetzt dusche ich, minutenlang das Wasser auf meinem Körper blau aufgewölbt, so heiß, dass die Haut nur noch in Fetzen von mir hängen dürfte, aber nichts, unversehrt im Badetuch, nur der Tag kreischt immer unerbittlicher herein, schüttet alles zu, stürzt sich mir zu, stülpt sich über mich, mich über mich - aber es ist nichts geschehen, die Welt dreht unbeirrt ihre Runden, die Tage stapeln sich übereinander, die Uhr tickt im Takt, nur ein Tag, wie alle, ein Tag, der immer lauter wird, alles mit sich schwemmt, und ich: schwankend im Badezimmer, wieder eine Zigarette, mittlerweile sogar bekleidet, aber nackt vor diesem Tag, festgekrallt nur an mir, an dieser Stunde, der klebrige Kokon meiner Erinnerung, mein Leben an Spinnenfäden: der Sturz durch den Boden.
Am liebsten hineinkriechen wollen in die dumpfen Mauern, das Fleisch zwischen den Ziegelsteinen zerquetschen fühlen...
Im Spiegel die Reflexion all dieser nackten schreienden Fliesen: weiß
Das Sich-Erinnern-Müssen: der Fleischwolf, durch den wir uns winden, ein Haufen atmender, zuckender Fleischbrocken, knochenlos, hautlos -
Ein Tag nur, der mich anbrüllt, dass ich bin. Ein Tag nur, der ich selber bin. -
Ich sollte hinübergehen, einen Kaffee aufstellen, wenigstens die sichtbaren Spuren vom gestrigen Abend beseitigen, diese unerträglichen Partys mit diesen noch unerträglicheren Partygästen, verschütteter Rotwein, Teller mit sich krümmender nacktrosa Wurst, rasselnde Zungen, Gelächter, das in der Magengrube dröhnt, der Tisch voll Asche und Glas, eine Languste zittert mit den Elfenbeinen, irgendwo müssen hier noch Zigaretten herumliegen, in der abgestandenen Luft noch die zum Schreien komischen Witzeleien all dieser Leute, Fäden von schleimig-rotem Erbrochenen, sie bemerkten nicht, dass du allein warst unter ihnen, was, wenn du unversehens auf den Tisch gesprungen wärst, einen schrillen anhaltenden Ton durch ihren konsistenzlos-qualligen Gehirnschlabber gebohrt hättest, irgendetwas nur getan hättest - statt dessen hast du dich mitlachen hören, sie hätten dich für wahnsinnig, zumindest für stockbetrunken gehalten, hättest du anmerken lassen, dass es nichts gäbe zu feiern, dass es ein bedenklicher Abend sei, sie hätten dir ihr stumpfsinniges Lachen in die Eingeweide gekotzt und gemeint, du würdest dich anhören, als wärst du gerade dreißig geworden oder vierzig oder fünfundachtzig meinetwegen, und natürlich: zwanzig, mit zwanzig gibt es nichts zu bedenken, nicht einmal zu denken, mit zwanzig fragt man nicht, man lebt, in alle Richtungen, ohne Pathos, ohne all jene Fragen: Was ist das, dein Leben, wodurch bist du geworden, als was du dich empfindest, wo ist der Angelpunkt deines Bewusstseins, deine Leidenschaft, deine Eifersucht, deine Melancholie, dein Denken, wo beginnt es: und: wo beginne Ich? -

Damals: Das schlürfende Gekrieche durch jenen dunklen fremden Schlund. Jetzt: Das stammelnde Abtasten der Membran des eigenen endlosen Schlunds, Abgrunds. - Die Vergangenheit: der fleischige Uterus: der das Ich ausstieß. - Die Erinnerung als Geburtsvorgang vice versa.
Unfähigkeit, die Teller, Gläser in die Küche zu bringen. Reglos, im Wohnzimmer, auf dem Plüschsofa, dunkelblau, ineinander verschlungene Beine, ich rauche, obgleich ich mich nicht entsinnen kann, eine Zigarette angesteckt zu haben, sogar der Kaffee ist bereits aufgestellt, der aufbrechende Tag: immer greller, ein Konglomerat ineinander verschmolzener Geräusche, plötzlich Lust, mich hinauszustürzen ins Getümmel, versinken, ertrinken im Menschengewirr. Mir selbst entgleiten durch die anderen, um der Lächerlichkeit zu trotzen, die sich zwischen mich und all diese nackten Dinge schiebt, zwischen mich und mich. - Als ob man sich erheben könnte, wahr sein könnte unter all den anderen essenden, sich entleerenden, ächzenden, elenden Körpern und eklektisch-erigierten Köpfen. Als ob man sich vor den anderen nicht noch lächerlicher machen müsste, um weniger lächerlich zu wirken. -
Der Kaffee gurgelt zischend durch den Filter. Das Bedürfnis zu urinieren. Lieber noch eine Zigarette. Die anderen da draußen, ihren alltäglichen Verrichtungen nachgehend, den Kopf im Asphalt vergraben, ich wollte sie verschütten, zuschütten mit Ich, damit sie mich endlich ansehen, mich sein lassen, mich nicht mehr hineintreten und -trampeln in ihren Schlamm, den sie durch ihre großen Begriffe verwässern, den sie Welt nennen und Leben und Wissen und Liebe und Ordnung, sie, die für alles Linien haben und geometrische Formen, für alles eine Regel und einen Rat, und wenn das nichts mehr nützt, einen Gott, sie, die alles nehmen und nicht mehr fragen, die mir erklären, ich müsste nur wissen müssen, was ich wolle, immer nur geradeaus gehen, geradewegs auf ein Ziel zu, sie, mit ihren verscheuklappten Köpfen und Seelen, ihren Büchern und Posen und Anzügen, verhornhäuteten Körpern, Methoden und Definitionen, oh ja, ich werde ihnen sagen, was ich will, und ich wollte, ich hätte eine Sprache, die sie träfe, Wortkugeln, Wortäxte, die sie zerteilten, zersplitterten, maschinengewehrgebrüllte Worte, damit auch sie dastünden, voller Blut, voller Augen, ohne Haut, unter farbig fluktuierenden Sternen, auf einem zerfetzten Boden, auf dem nichts mehr gilt: Ich will 1000 Meter hohe Fabrikschlote, eine Brücke von Rio nach Luanda, Feuerzangen, Dynamit & Eisensägen, Spiegelkabinette & Skalpelle, Gehirnwäschereien & Halluzinationen, ich will Fallschirmspringer, Trommelwirbel & Kannibalen, Aasgeier, Zeppelins & verkehrte Brillen, Zauberer, Löffelschlucker, Seiltänzer & Kopfgeldjäger, Töne von Geigen, die das Rückgrat zerkratzen, orphische Räume in allen Sphären, schmelzende Hände & vibrierendes Fleisch, ich will Blut, bis die Haut anschwillt, aufquillt, bis sich alles ergießt mitten hinein ins dichte Aderngestrüpp dieser Welt, ich will lieben, bis das Quecksilber aus den Thermometern platzt, küssen & saugen & beißen, bis die Lippen reißen, laufen, bis die Kniescheiben bersten, lachen & schreien, bis die Lungen aus dem Mund spritzen, ich will weinen können, bis die Augen herausflutschen aus ihren engen Höhlen, will mich berühren lassen können von Worten & Wunden, will alle Sprachen sprechen, die Weltkanzel erklimmen & mich dann sagen, will Geräusche von mir geben, die bis in den hintersten Winkel dringen, ich will alles gleichzeitig sein, was ich sein könnte & alles auf alle Art spüren, simultanen Pulsschlag alles Lebens, ich will zehntausend Meter Höhenunterschied in einer Stunde, will auf den Händen gehen & während des Essens auf dem Kopf stehen, ich will Stufen hinauf, die hinabführen, Löcher graben & die Erde in den Nasenlöchern spüren, ich will mir die Haut abschälen & bluten & mich so berühren lassen, will den Kopf in den Rumpf stecken & die Farben meiner Innereien betasten, in mir rühren wie Löffel im Kaffee, ich will überdimensionale Ohren, die auch die Zwischentöne fassen & das Schweigen, ich will Staubsaugeraugen, ein Gehirn, das alles frisst & nie mehr verdaut, ich will mit meiner Zunge über den Asphalt aller Straßen lecken & alle Meere leertrinken, ich will Bibliotheken verschlingen & Köpfe von Philosophen, ich will jeden Morgen eine neue Zeitung, jede Woche eine neue Frisur, immer wieder einen neuen Menschen, um ihn aufzusaugen in mich, mit allem, mit allen Worten & Bildern, mit Haut & Hirn & Gedärm, ich will immer wieder ein neues Gesicht im Badezimmerspiegel, immer wieder eine neue Sprache, immer wieder eine neue Welt. Ja, ich will, dass sich alles auf den Kopf stellt, dass die Welt sich auf den Kopf stellt & die Menschenköpfe übergehen von zu viel Welt, ich will, dass die Welt ihre Richtung ändert, damit die Sonne im Westen aufgeht & das Meer flutet statt ebbt, damit sich die Zeitzonen verschieben & Tag ist statt Nacht, Vollmond statt Neumond & Sommer statt Winter, die Dinge sollen ihre Farben ändern & die Schwerkraft zum Mittelpunkt des Universums streben, die Erde soll sich endlich umdrehen, sie möge die Richtung ändern, damit auch wir uns endlich umdrehen & die Richtung ändern, uns verändern & endlich erkennen, dass nichts so sein muss wie es ist, damit wir endlich sehen!

Das Klicken des Feuerzeugs. Die Sonne hämmert durch die schmutzigen Fensterscheiben. - Ich stehe auf, meine Beine knarren über schwarzes Parkett in Richtung Küche, rote Stehlampe, drei Meter hoher Obelisk, ein Kübel blauer Farbe, Avocadobaum, Mikroskop, mein Albatros, ausgestopft, eine Schreibmaschine, verrostet, Berge von verschmierten Zetteln und alten Zeitungen, Geruch von Zigaretten, Essensresten, flüchtiger Blick in den klebrigen Spiegel, das bin nicht ich, hastige Handbewegung durch das wirre Haar, irgendwo meine grüne Tasse, der Kaffee ist pechschwarz, aber ich trinke ihn immer ohne Milch, es zahlt sich nicht aus, Milch zu kaufen nur für den Kaffee, nach drei Tagen ist sie ohnehin schlecht, besser Zucker, vier Löffel voll, das lässt den Blutzuckerspiegel ansteigen, jetzt stehe ich am Fenster, während ich abwechselnd umrühre nippe umrühre nippe.
Das Gehirn: eine Wurstfabrik, statt Würsten ein dichtes Ineinander von Bildern abspulend, die amorphe Masse sorgfältig umhäutend. Das Rattern des Fließbandes: Die Erinnerung: Meine Zeit, pulsierend in allen Zellen, und doch: Das Erinnern ist sprachlos, die Zeit sukzessive Unaussprechlichkeit, nichts als inwendig zuckende Bilder, Negative, unnachlebbar, unnachsagbar, schwer schaukelnd in den Untiefen verworrener Gehirnschlingen. -
Damals, als dieses Jahr noch am Anfang stand: Juni, und du blühtest inmitten einer Stadt, die deinen Namen nicht kannte, taumelnd, durchflutet vom Geruch von Meer und Jakaranda: Du bist das, stotterst dich an Mauern entlang, echost durch Spiegelkabinette, zertrümmerst den Eisblock der Sprache, fremde Hände spannen sich warm über dich, alles Ich, alles Du, Du alles, Ich alles, keine Grenzen mehr, du zerschmilzt, um dich & in dir rotiert die Welt, eine Welt aus überquellenden Farbtöpfen, taubem Pulsschlag & rasenden Pupillen, REM im Wachzustand, Kopf frisst Welt auf, großer bunter Luftballon, so treibst du durch das Universum von Haut & Worten, Bildern & Buchstaben, du saugst das Fleisch von den Minuten, den Stunden: das unaussprechliche Wogen der Glückseligkeit: Traumzeitraum. -
Und dann: Da steht sie wieder: die Welt aus grauen Sitzmöbeln, geraden Straßen & genauen Uhren. Stumm und starr tappst du. Sekundentakt. Während die vergangene Zeit in dir wühlt. Die Sehnsucht, für die du keinen Namen hast. Du pflasterst den Asphalt des Jetzt mit den Bildern von einst, die Erinnerung verwest nicht, du stammelst als Abglanz des Gestern umher - zerstückelt: vom Jetzt, vom Immer, vom Nie...
Was bleibt: Das rhythmische Fluoreszieren eines jenseitigen Traums...

Und dann, dann der Herbst mit seinem Blätterbrennen, grau-aschene Himmel, die Luft vergilbt ausgezehrt, als hätten die Menschen zu viel geatmet unter der Hitze des Sommers. Langsame Schritte. Neues Land auf deiner Erde. Ein Zimmer, sieben Quadratmeter, Tisch, Stuhl, Bett. Von der Decke eine Hundertschaft nackter Glühbirnen an dünndrahtigen Kabeln. Abends: Rachmaninoff. Dosenbier. Dicke schwere Bücher. - Manchmal: Zwischen Zeilen, zwischen fremden Händen: Das Zerbersten der Linearität. Gesicht gegen die Wand. Schlaf im Stehen. Immer derselbe Traum: Ein Raum, quadratisch, keine Türen, keine Fenster. Wände, Boden, Decke ausgekleidet mit grellweißen Fliesen. In der Mitte eine blecherne Klomuschel, vor der du kniest, vornübergebeugt, die Arme auf die Klobrille gestützt, nackt, reglos. Aus den Wänden plötzlich gleichmäßiges Vibrieren, Summen, Bohren, etwas dringt durch die Mauern, langsam, von oben, von den Seiten, eine Hundertschaft von Phalli, allesamt auf dich sich richtend, kontinuierlich-rhythmisch sich verlängernd, aufblasend, bald spucken sie ihren Samen ihr Blut auf deinen Körper, bis er gänzlich verklebt. Du musst dich übergeben. Schnitt. Die Klomuschel ist verschwunden. Die Penisse zucken blutlos kraftlos klein. Du liegst verteilt im Raum. Der Boden einen Zentimeter hoch überflossen mit deinem Blut. In einem Eck ein Auge, irgendwo ein hervorstehender zerfranster Oberschenkelknochen, eine Brust, die leer hervorstarrt, grünlich-weißhäutiges Knäuel von Gedärmschlingen, im andern Eck ein blubberndes Ohr. - Mit dem Morgen zwischen den Hautfalten: Wieder atmen. Gehen. Peristaltisches Stocken. Stehen. Das Sich-Festklammern an Kreuzungen und Verzweigungen: Am Wegweiser steht: Nirgendwo. - Und plötzlich, als alles zu spät scheint, mitten im Schneegestöber: Da taucht eine Hand auf aus dem Nichts, und beginnt mit der deinen zu tanzen: Schattengewirr, Sternengewirr, sie schlingen sich durch den luftleeren Raum, ineinander verwoben, verflochten, verkrallt, und du weißt: einmal, immer... Nicht Wort, nicht Sinn, nicht Zeit, nur noch Farben, die die Welt infiltrieren, ein feines Netz dröhnender Adern in oszillierend-trunkenem Licht, der Tanz nimmt kein Ende, deine Haut: wächst nach außen, dein Herz: schlägt auf fremdem Boden.
Wie aus weiter Ferne: Ein hässlich vertrautes Geräusch. Telefon. Mir zittert die Tasse samt Kaffee in den Händen. Natürlich: Es ist Zeit, dass... Es läutet erneut. Ich springe unversehens auf: Vielleicht ist es ja... - Ich setze mich wieder. Unsinn. Natürlich nicht. Ich rühre mich nicht. Er ist es nicht. Er ist es nicht. Irgendwann hört es auf. Ich starre auf mein linkes Knie. Die Scheibe darunter häutet sich hervor: ein filigranes pilzhaft-weißes Gewächs. Die Stille pocht verhalten gegen die Schläfen.
Die Vergangenheit: diese unberührbare wunde Haut um uns. -
Ich wehre mich nicht dagegen, dass er plötzlich vor mir steht. Die Linien seines Körpers. Der Geruch seiner Hemden. Die Zeit weiß nichts, gar nichts. Er ist mit mir Straßenbahn gefahren, von Endstation zu Endstation, mit allen Linien, und dann trank er mit mir Sturm in irgendeinem von Rauch und Stimmen überquellenden Heurigen, die ganze Nacht lang, niemals ein Morgen, wir waren alle Zeit, ein immerwährendes Jetzt, ein einziges Wir, und dieses Wir fand bis ans Meer, wir schmolzen unter der Sonne, übereinandergestapelt lagen wir in der Wüste, unter Coca-Cola-Sonnenschirmen, wir tranken eiskaltes Bier, sackten kiloweise Muscheln ein, aßen Oktopussalat und mir ekelte ein wenig vor den langen glitschigen Tentakeln mit den rosa-lila Saugnäpfen und schließlich klebten wir sie uns gegenseitig ins Gesicht und dann, als es Nacht wurde, hüpften wir durch die Gassen, die rochen nach Salzwasser und dampften unter den feurigen Tönen der Straßenmusikanten, wir versuchten ein paar unbeholfene Tanzschritte und die Musiker lachten und wir lachten mit und alles wiegte sich im konvulsivischen Kitsch des Schönen. Und unsere billige Pension die quietschenden mit geschmacklosem Stoff bezogenen Gartensessel am Balkon der bittere Rotwein aus dem Zahnputzbecher, unzählige Zigaretten und ich: stotterte mich hinein in ihn, wollte ihm etwas sagen von mir, von mir, irgendetwas von Bedeutung, aber die Worte entglitten mir allesamt, und er lächelte nur und sagte, das hätte doch Zeit, etwas Flüssiges schwappte in meinem Kopf auf und ab und die Sterne brannten und es wurde kälter und drinnen: die klapprige Couch die abgeschmackte Tapete, draußen das Meer, und ich hörte mein grundloses Lachen ringsum auf- und abgurgeln, irgendwann meine Hand auf seinen Schenkeln zitternd behaart, seine Lippen ganz langsam zu mir mir zu, mich schauderte, und ich packte ihn sogleich, vergrub mich in ihm, Salzwasser Sand Sommer Meer, wir lösten uns nicht mehr voneinander, ineinander gestülpt, so schliefen wir, ineinander verkrallt, einmal, immer. -
Und dann: statt des Immer: ein Irgendwann. Einstürzender Boden. Die Decke im Gesicht. Ein Ungeheuer grellgrün sechzehnköpfig, uns schleimig umschlingend: die Ausgeburt des Rätsels, gepaart mit dem Zweifel. Aber die Liebe, die Liebe will keine Fragen: Ist sie nicht das Echo einer unsäglichen Stille? - Vielleicht, vielleicht hab ich ihn geliebt. Ich wollte ihn ganz, wollte ihn aufsaugen in mich, mit allem. Und mich fallen lassen in ihn, ganz. Seinen Namen auf meiner Haut spüren seine Worte in meinem Blut, seine Hand in meinem Fleisch. Doch je weiter wir uns einander zugruben, desto steiniger wurde es. Wir beide, bewaffnet bis an die Zähne, uns windend unter Kugeln Messern Rasierklingen Scheren. Was blieb: Eine rotfleischige Wunde, jene zwischen Sein und Wort, ein vor Blut triefendes Geheimnis. Wir ertranken. Zerfleischt, zerstückelt, zermalmt. Verkrampfte Ichs, verwesende Dus. Das Schweigen letztlich hat uns getötet. Jenes Nichts zwischen uns, mit dem wir uns vollsogen, das uns zerfraß, mit dem wir die Wunden schlugen: Du, du, du...
Und jetzt: Dein Gewicht auf meinem blutenden Körper. Einmal. Immer.
Ich will keinen Kaffee, keine Zigaretten mehr. - Mich ekelt. Meine Geschichte. Und nichts zu sagen. Lasst mich lachen. Mich in ein Fass voll schwarzer Farbe stürzen. An die Decke kotzen. Einen Menschen nackt ausziehen, mit Kleister bepinseln und ihn von oben bis unten mit Zeitungsstreifen bekleben. Walzer tanzen - gegen den Takt. Die Unterlippe ans Küchenkästchen nageln. Meinen Namen aus der Tür hinausspucken. Die Arme mit den Brüsten verwachsen lassen. Den Kopf in den Kanal stecken. Alle Körperöffnungen vernageln -schrauben -stopfen, damit keine verfluchte Welt mehr herein- und hinauskann.
Aber wir wissen: dass es niemals aufhört. Die Welt nicht, Ich nicht, mein Denken nicht, nicht das Sich-Erinnern. - Und jetzt? Aufstehen. Gehen. Nicht aufhören zu kämpfen: Gegen das Schweigen, in welchem die Welt in sich zerfällt. Gegen das Verkümmern der Welt, der Sprache. Nicht aufhören, dem Ungreifbaren Worte umzustülpen, das Undurchdringbare, das Innere, das eigentliche Selbst in eine Welt zu stottern, die noch atmet. Dem Ungesagten und dem Unsagbaren einen Raum geben, und den Wunden und der Sehnsucht einen Namen. - Die Welt dreht sich. Der Sommer wird kommen. Kein Ende in Sicht. - Und ich, ich will, ja, ich will.

Melanie Strasser

Melanie Strasser

Prosa