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Der Überseekoffer

An der Bushaltestelle steht ein Überseekoffer. Daneben stehst du mit einer Hand am Koffergriff. Auf dem Pflaster verschmilzt das Bild zu einem Schatten.
Ich sitze auf der Fensterbank und schreibe eine Geschichte.
Als es dunkel wird, fragst du, ob du deinen Koffer unterstellen kannst.
Ist nur für ein paar Tage, sagst du und stellst den Koffer in die Ecke, bevor ich dich nach deinem Namen fragen kann.
Du wirfst die Tür knallend ins Schloss, ich zucke zusammen und aus dem Wort ist ein blauer Strich auf dem Papier geworden.
Ich fluche leise, dann schreibe ich weiter. Ich schreibe und aus dem Augenwinkel sehe ich immer wieder deinen Koffer. Ich könnte aufstehen und mir den Koffer näher ansehen.
Wohin willst du, frage ich stattdessen.
Ich bin auf der Reise, sagst du.
Du holst den Koffer aus der Ecke. Du zeigst auf eine Schramme.
Ich schüttle verständnislos den Kopf.
Du sagst einen Namen und holst ein Foto aus dem Koffer. Ich male Buchstaben auf das Papier vor mir.
Du zeigst mir andere Schrammen, andere Fotos, sagst mir andere Namen.
Warum sagst du nichts, fragst du.
Ich starre auf die Buchstaben, die das Papier bedecken.
Das interessiert dich gar nicht, sagst du.
Doch, doch, sage ich.
Du packst die Fotos ein und schiebst den Koffer wieder in die Ecke.
Und du, fragst du.
Ich antworte nicht.
Gehörst du zu den Menschen, die keinen Koffer besitzen, fragst du.
Ich denke an meinen neuen Hartschalenkoffer, der in Folie eingeschlagen auf dem Speicher steht.
Nein, sage ich, ich bin auch auf der Reise, mein Koffer steht hier.
Ich zeige auf den Stapel Papier, der vor mir liegt.
Deine Augen fragen, wo, und ich sage, hier, nehme ein neues Blatt und male mit dem Füllhalter das Wort Koffer.
Und weil du nichts sagst, fange ich an zu schreiben. Ich schreibe dir einen Lederkoffer mit dunkel abgesetzten Ecken. Ich schreibe die Schrammen von den Reisen auf den Koffer und die Aufkleber der Hotels und fülle ihn mit buntem Krimskrams und Fotos. Ich lasse die Verschlüsse knacken. Auf. Zu. Auf. Zu.
Vielleicht sollte ich sie mal wieder ölen, sage ich.
Du schüttelst den Kopf. Du bist anders, sagst du.
Und weil mir dazu nichts einfällt, fange ich wieder an zu schreiben. Ich schreibe und vergesse, dass der Koffer in der Ecke steht. Ich schreibe wie im Fieber, bis es dunkel wird und dann wieder hell und alle Blätter voller Geschichten sind.
Die Geschichten drücke ich dir in die Hand und sage, die schenke ich dir.
Du bist anders, sagst du noch einmal und legst meine Geschichten auf das Fensterbrett.
Am nächsten Morgen packst du die wenigen Sachen, die du ausgepackt hast, wieder in den Koffer.
Ich muss jetzt gehen, sagst du, mein Bus wartet.
Du stopfst noch schnell meine Geschichten in den Koffer, die Schnappverschlüsse knacken, dann läufst du los.
Als du weg bist, gehe ich in die Stadt und kaufe neues Papier.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und bedecke das Papier mit Sätzen. Draußen nieselt es und nur ab und zu sehe ich auf, um festzustellen, dass dein Koffer nicht mehr in der Ecke steht.
Ich schreibe und als alles Papier beschrieben ist, schreibe ich auf den Rückseiten der Blätter und dann sind auch die Rückseiten voll und ich schreibe neue Sätze über die alten.
Irgendwann stehst du wieder vor der Tür.
Ich glaube, sagst du, ich werde einen anderen Bus nehmen.
Du stellst den Koffer wieder in die Ecke. Ich sehe die neuen Schrammen, aber ich frage nicht danach und ich frage dich auch nicht nach den Geschichten und den Fotos, die zu den Schrammen gehören.
Du öffnest die Schnappverschlüsse und ich starre dich erwartungsvoll an.
Ich packe nicht aus, sagst du, als du meinen Blick siehst, ich bin nur auf der Durchreise.
Und weil mir der gepackte Koffer in der Ecke Angst macht, setze ich mich an den Schreibtisch und fange wieder an zu schreiben. Während ich schreibe, höre ich immer wieder die Schnappverschlüsse knacken und wenn ich dann aufsehe, packst du gerade irgendetwas aus oder ein. Dann starre ich schnell wieder auf das Papier, damit du meinen Blick nicht bemerkst.
Erst als auf den Blättern nichts mehr erkennen kann, starre ich wieder auf den Koffer.
Packst du eigentlich nie aus, frage ich.
Du ziehst die Stirn in Falten.
Einmal, sagst du dann, habe ich fast alles ausgepackt, da lagen nur noch ein Paar Turnschuhe in meinem Koffer.
Du suchst ein Foto hervor. Der Koffer steht in einer Nische hinter einem Vorhang. Man kann den Koffer trotzdem erkennen, weil er sich im Vorhang abzeichnet. Vor dem Vorhang steht jemand und versucht mit einem Lächeln vom Koffer abzulenken.
Das war, bevor ich das erste Mal vor deiner Tür stand, sagst du, auf dem Koffer waren schon große Staubflocken, ich wollte gerade die Turnschuhe auspacken, da habe ich plötzlich Angst bekommen.
Jetzt ist deine Stimme sehr leise.
Hast du immer noch Angst, frage ich.
Ich bin nur auf der Durchreise, sagst du, das habe ich dir doch gesagt.
Ich nicke und suche nach einer passenden Antwort, da stehst du schon vor mir mit dem Koffer in der Hand.
Wenn du jetzt gehst, beginne ich. Aber du hast die Tür ins Schloss geworfen, bevor ich den Satz beenden kann.
Da gehe ich in die Stadt und kaufe eine Bodenvase mit Sonnenblumen. Die Vase stelle ich in die Ecke. Aber die Vase ist zu klein für das Loch, das dein Koffer in den Raum gerissen hat und die Sonnenblumen sind bald vertrocknet.
Ich setze mich auf das Fensterbrett und starre in den Regen. Ich denke an meine Geschichten in deinem Koffer, der jetzt wieder in einer Ecke steht oder in einer Nische hinter einem Vorhang.
Irgendwann stehst du wieder vor der Tür. Als ich dich misstrauisch ansehe, sagst du, keine Sorge, ich bin nicht mehr auf der Reise.
Du stellst den Koffer in die Ecke und drückst mir die Vase mit den vertrockneten Sonnenblumen in die Hand.
Ich werde jetzt auspacken, sagst du.
Ich gehe in die Stadt und kaufe kistenweise Papier. Darauf schreibe ich dir bunte Geschichten, in denen du wohnen kannst und reisen, damit du deinen Koffer nicht mehr aus der Ecke holen musst.
Du setzt dich an meinen Schreibtisch. Du liest und ich schreibe. Manchmal sehe ich ein Lächeln in deinem Gesicht.
Auf dem Koffer in der Ecke sammelt sich Staub, sagst du.
Ich übersehe den Staub. Ich übersehe den Staub, weil ich den Koffer übersehe. Ich übersehe den Staub sogar, als er zu großen Flocken wird. Du lachst, weil ich konzentriert auf die gegenüberliegende Wand starre, wenn ich an der Ecke mit dem Koffer vorbeigehe.
Irgendwann siehst du mich nachdenklich an, ich frage, was, und du sagst, das ist meine Geschichte, du hast eine von meinen Geschichten aufgeschrieben.
Ich murmle, Entschuldigung, und lege den Füllhalter zur Seite.
Du siehst jetzt an mir vorbei. Dein Blick ist auf den Koffer in der Ecke gerichtet. Ich sage nichts.
In der Nacht schiebe ich einen Schrank vor die Ecke. In den Schrank stelle ich meine Bücher, erst ein paar, dann immer mehr. Als sich der Schrank nicht mehr schließen lässt, hänge ich die Türen aus und stelle noch mehr Bücher auf die Schrankböden.
Die Bretter biegen sich schon, sagst du.
Ich staple weiter meine Bücher, bis man die Ecke und den Schrank nicht mehr sieht, bis man kaum noch an den Büchern vorbeigehen kann und bis irgendwann der Schrank mit einem lauten Knall zusammenbricht. Die Bücher liegen überall auf dem Boden verstreut. In der Ecke steht der Koffer. Von großen Staubflocken bedeckt.
Ich steige über die verstreuten Bücher. Ich starre auf den Koffer und strecke langsam meine Hand aus.
Was ist, höre ich dich fragen.
Als ich den Koffer berühre, springen die Verschlüsse auf. Ich sehe hinein. Der Koffer ist halbvoll. Ich höre, wie du kurz den Atem anhältst.
Ich schreie. Ich trete gegen die herumliegenden Bücher. Ich schreie, pack ihn aus oder geh. Ich sehe nicht, dass du schon mit dem Koffer in der Tür stehst. Als ich nicht mehr schreie, sagst du leise, bis bald, und meinst, auf Wiedersehen.
Ich setze mich auf die Fensterbank. Draußen regnet es. Ich schreibe eine Geschichte. An der Bushaltstelle steht ein Überseekoffer.

Knut Stegmann           

Knut Stegmann

Prosa