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Michael Ebmeyer

Der Neuling

Der Flug der Libelle

Michael Ebmeyer geht mit seinem Buch Der Neuling ostwärts und verschwindet im sibirischen Anderland

Kritik
  Michael Ebmeyer
Der Neuling
Roman
Kein & Aber, Zürich 2009
285 Seiten


Drei aus Zeit und Raum gefallene Menschen treffen an einem Ort auf­einander, an dem es nicht nur eine Realität gibt, sondern viele. Matthias Bleuel, Logistiker aus Stuttgart besucht eine Filiale seiner Firma im für ihn entlegensten Winkel der Welt: Kemerowo, eine Stadt im Westen Sibiriens. Die Reise ist für ihn eine Flucht, vor der Leere, welche die Scheidung von seiner Frau in ihm zurückgelassen hat, aber auch eine Flucht vor sich selbst. Er flieht in die Fremde, weil er sich fremd geworden ist. Bleuel ist ein Quergeher: Während tausende Menschen aus den ehemaligen Sowjet­repu­bliken in den Westen fliehen und alles daran setzten Westler zu werden, geht Bleuel in die andere Richtung. Er ist damit ein literarischer Nachfahre des Schrift­stellers Ronald M. Schernikau, der als überzeugter Kommunist noch 1989 von West nach Ost zog und dessen Biografie dieses Frühjahr von sich reden machte.

Bleuel ist zunächst jedoch von nichts überzeugt, außer von dem Wunsch, so schnell wie möglich wieder abzureisen. Das Fremde, was er suchte, findet er in Kemerowo nicht. Stuttgart lässt ihn nicht los, verfolgt ihn bis hierher: Kjemmerowo. Eine Stadt so groß, wie Stuttgart. Eine Stadt irgendwo tief in Asien, aber dort, wo Asien viel mehr Ähnlichkeit mit Stuttgart hatte, als mit dem, was man sich in Stuttgart unter Asien vorstellte. Der Wendepunkt seiner Reise, der schließlich auch zum Wendepunkt seines Lebens werden wird, ist ein Konzert der schorischen Sängerin Ak Torgu. Die Schoren, ein kleiner indigener Volksstamm Sibiriens, beherrschen den Kehlkopfgesang. Bleuel ist fasziniert von Ak Torgus Gesang mit zwei Stimmen, ihrem Spiel auf einer Laute mit nur zwei Saiten. Es ist für ihn die Initiation in das Wissen, dass hinter der sichtbaren Realität noch etwas anderes stehen kann. Die Begegnung mit Ak Torgu, die zudem eine Schamanin ihres Volkes ist, wird für Bleuel die Begegnung mit einer Fremde, die ihm mehr über sich selbst erzählen kann, als jedes Vertraute. Sie sprechen nicht dieselbe Sprache, behelfen sich mit wenigen englischen Vokabeln. Die Schorin und der Deutsche verstehen sich nicht, verfallen aber gerade dadurch auf Kommuni­kations­formen, die mehr zu verstehen geben als tausend Worte.

Das Unglaubliche geschieht: Da war er. Setzte die Füße auf neuen, heiligen Grund (...) angekommen am Anfang (...) Die Schamanin hatte ihm über die Schwelle geholfen, er hatte schon zwei, drei Schritte tun dürfen, und nun war die Tür hinter ihm zugefallen, was für ein Glück. Bleuel beschließt zu bleiben. Er gibt seinen sicheren Job, sein sicheres Leben im fernen Deutschland auf und folgt Ak Torgu in die schorische Sagenwelt. Die Liebesgeschichte, in die Ebmeyer seine beiden ungleichen Protagonisten verstrickt hätte es nicht gebraucht, um Bleuels Aufbruch zu begründen. Aus Matthias Bleuel wird Matwej Karlowitsch und der Neuling nimmt am Schluss des Romans sogar das Aussehen eines Russen an – Fünf-Milimeter-Haarschnitt und schwarz-violette, spitzzulaufende Schuhe. Doch er geht noch weiter hinter das Russische zurück, zu dem, was östlicher als Sibirien ist, östlicher als die Gulags, die riesigen Erdölfelder und Holzfabriken. Er will in das Anderland, die schorische Parallelwelt, die es dort schon immer gab. Die aus etwas Urwüchsigem besteht, neben dem alles andere nur aufgesetzt ist – der westliche wie der russische Lebensstil. Denn auch die Russen sind Fremde hier in Sibirien, wo sie in den unvorstellbaren Weiten allein mit sich sind, allein, weil sie die Geister der Bäume und Quellen nicht wahrnehmen können, so allein, dass sie trinken, um die Leere in sich zu betäuben.

Ak Torgu ist eine Wanderin zwischen den Welten. Im Alltag trägt sie ihren schorischen Namen nicht, sondern einen russischen: Katja Sabanowa. Ihr gelingt der Wechsel zwischen westlicher, russischer und schorischer Welt scheinbar problemlos: Sie telefoniert genauso selbstverständlich mit einem Handy, wie sie vorher uralte Lieder ihres Volkes gesungen hat. Sie grenzt sich auch nicht von den wodkaschweren Essensgelangen im Haus ihrer Eltern aus, zu denen sie Bleuel in typisch russischer Gastfreundschaft eingeladen hat. Ak Torgu ist keine unantastbare Ikone, sondern eine Frau mit Zweifeln und Brüchen. Ihre Stärke erwächst aus der tiefen Verbundenheit mit der Landschaft ihrer Herkunft. In einer sich immer rascher globalisierenden Welt verhält sie sich völlig anachronistisch. Doch sie ist im Einklang mit sich und ihrer Umwelt.

Anders als Artjom Tscheremnych, Bleuels Dolmetscher und treuer Begleiter durch die sibirische Wirklichkeit. Er hat lange Jahre in Deutschland gelebt, konnte dort seine Homosexualität ausleben und doch nie richtig heimisch werden. Zurück in Kemerowo ist er in der patriarchalisch geprägten rus­sischen Gesellschaft ein Faktotum und wird ein an den Umständen verzweifelnder Zyniker.

Ebmeyer ist ein wundervoller Roman über eine Selbstfindung zwischen östlicher und westlicher Mentalität gelungen. Selbst die naturmagischen Praktiken der Schoren beschreibt er ohne esoterischen Schmelz in einer sacht dahinfließenden Sprache. Bleuels Aufbruch, der sich gegen alle Konventionen stellt, macht nachdenklich und lässt aufmerken.

In seinen Träumen wird der wiedergeborene Matwej Karlowitsch immer wieder von einer Libelle begleitet, die ihn und den Leser zu fragen scheint: Wo und wann in deinem Leben bist du zum freien Flug bereit?
Karen Lohse   15.07.2009   
Karen Lohse