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Dominic Angeloch
Aufzeichnung aus einer verlassenen Wohnung
aus: Blinder Passagier (Verlagshaus J. Frank)
Gerade ist es ruhig. Vielleicht schlafen sie. Oder haben sie sich zurückgezogen? Wahrscheinlich hat sich gar nichts verändert, und sie warten noch immer draußen, auf dem Hof, oder im Keller.
Worauf warten sie, Pablo?

Das Telefon zuerst, früh am Morgen, ich öffnete die Augen, kaum halb fünf auf dem Wecker. Ich blieb liegen und hörte dem Klingeln zu. Als es abbrach, stand ich auf und ging ins Bad, zog mich aus und wusch mich.
Zurück im Zimmer, begann ich mich einzucremen; das Gefühl, nicht allein zu sein, ließ mich innehalten. Da bemerkte ich den Mann, der bewegungslos auf der Straße vor meinem Fenster stand und mich anstarrte. Ich war von seinem Anblick so erschrocken, daß ich sogar vergaß, mich zu bedecken. Sein aufgedunsenes Gesicht war von langen, schmutzigen Haaren und einem rotbraunen Vollbart verdeckt; in seinen kleinen Augen lag etwas Brutales.
Nur kurz, nachdem ich den Vorhang zugezogen hatte, begann das Telefon wieder zu läuten. Diesmal hob ich den Hörer ab. Am anderen Ende zuerst nur Stille – nein, ganz still war es nicht, bei genauerem Hinhören war da leise Orgelmusik im Hintergrund, unwillkürlich dachte ich an Musik, die auf den Jahrmärkten gespielt wird, während man mit dem Kettenkarussell durch die Luft fliegt. Dann kreischte der Anrufer den Anfang eines Geburtstagsliedes und wünschte mir "Alles Gute", was er vor Lachen schon kaum mehr herausbekam. Ich sagte, er müsse sich verwählt haben, daß heute nicht mein Geburtstag sei. Aber statt einzuhängen horchte ich weiter in das Rauschen der Leitung hinein, wahrscheinlich wartete ich auf etwas, irgendeine Erklärung. Als die Musik verstummte, lachte der Anrufer wieder, anders diesmal: ein schnarrendes, obszönes Lachen platzte aus dem Hörer und lief mir, zu einem Schauder geworden, den Rücken hinunter.
In diesem Moment hatte ich das Gefühl, jemand stehe hinter mir – ich drehte mich um und sah, wie sich der Kopf des Bärtigen gerade durch den Spalt zwischen den beiden Vorhanghälften schob. Das Bimmeln des Telefons, mit dem ich auf den Bärtigen einschlug, bis seine Braue aufplatzte. Er zog sich zurück, ohne auch nur den mindesten Laut von sich zu geben; das Blut aus der Wunde versickerte in dem Grinsen, das seinen verwahrlosten Bart zerteilte. Als ich den Vorhang aufriß, sah ich den kreisrunden Ausschnitt im Glas, durch den er seinen häßlichen Schädel gesteckt hatte. Gemächlich ging der Bärtige davon, rückwärts, als wollte er sich über mich lustig machen. Ich hob den Hörer vom Boden auf und warf das Kreischen zurück in die Gabel.

Gegen Mittag fiel mir ein alter Mann auf, der vor der Wand des gegenüberliegenden Hauses stand. Eigentlich war es nicht der Mann selbst, der mir auffiel, sondern seine in jeder Hinsicht schiefe Haltung: eine Schulter hielt er viel tiefer als die andere, und unter seinem Staubmantel krümmte sich sein Rücken so sehr, daß er offenbar nur mit Mühe vom Boden aufsehen konnte. An den langen Armen hingen zwei prall gefüllte Plastiktüten, die er unentwegt hin und her pendeln ließ, während er die Mauer beschaute. Nach einer Weile stellte er die Tüten ab, streckte die Arme nach oben und versuchte, sich an der Fassade emporzuziehen. Zunächst rutschte er immer wieder ab – als er jedoch seine Füße zu Hilfe nahm und die Spitzen in die schadhaften Stellen schob, gewann er rasch an Sicherheit. Auf diese Weise schaffte er es tatsächlich, bis zu einem Fenstersims im zweiten Stockwerk zu gelangen, wo er sich festklammerte und begann, in das hell erleuchtete Fenster zu spähen. Auch, als das Licht ausgeschaltet und der Vorhang zugezogen wurde, reckte er weiter mit nervöser Ungeduld den Kopf, bevor er gegen das Fenster pochte und wiederholt etwas Unverständliches rief. Dann ließ er sich einfach fallen. Er blieb ein paar Minuten auf dem Trottoir liegen, bis er sich schließlich mühsam aufrappelte und davonhumpelte.
Nach und nach sammelten sich Passanten vor dem Haus, ein Dutzend mögen es etwa gewesen sein. Aus der Ferne hätte man meinen können, daß sie sich miteinander unterhielten. Aber sie sagten kein Wort zueinander, sondern standen einfach nur da und schwiegen. Ziellos wie Blinde drehten sie ihre Augäpfel hin und her – bisweilen hielten sie dann inne und starrten plötzlich in die Ferne, als ob sie dort etwas entdeckt hätten. Manchmal steckten sie die Köpfe zusammen, preßten hastig die Schädeldecken aneinander und verharrten in dieser Haltung, bevor sie den Blick wieder in verschiedene Richtungen wandten.
Nach etwa einer Stunde traten sie auseinander und stellten sich vor die Fenster der Parterrewohnungen, einer nach dem anderen, jeder vor ein anderes Fenster. Wenn die Rolläden heruntergelassen oder die Vorhänge zugezogen wurden, gingen sie ohne Eile zum nächstgelegenen Fenster. Dort blieben sie stehen und schoben ihre Köpfe mit ruckartigen Bewegungen hin und her, bis sie die richtige, wie nach einem exakten Maß aufzusuchende Blickposition gefunden zu haben schienen. Immer mehr Passanten kamen hinzu und traten an die Fenster, um es den ersten gleichzutun.
Ich beobachtete, wie Frau Miller, eine Bewohnerin meines Hauses, schwer beladen vom Einkaufen zurückkam. Bei der Haustür angelangt, hob sie plötzlich den Kopf und besah sich mit verkniffener Miene das Geschehen. Dann ging sie zu einem der Passanten und nickte ihm zu. Als er nach einem zweiten Nicken noch immer nicht reagierte, sondern sich nur wieder seinem Fenster zuwandte, hellte sich ihre Miene auf; sie setzte ihre Einkaufstaschen ab und stellte sich Schulter an Schulter mit ihm vor dasselbe Fenster.
So weit ich sehen konnte, waren die Plätze vor den Parterrefenstern inzwischen in beiden Richtungen der Straße belegt. Einige begannen, die Fassade zu erklettern, um im zweiten, dritten, bis hin zum vierten Stock in die Fenster zu spähen. Die vor den Parterrefenstern Stehenden lösten ihre gegen das Glas gepreßten Gesichter allenfalls von den Fenstern, um etwas aus den Tüten zu nehmen, die der Alte, Frau Miller und einige andere hier und da stehengelassen hatten. Aber sogleich, wenn sie etwas Eßbares gefunden und es in großen Bissen hinuntergeschlungen hatten, drückten sie sich, immer noch kauend, wieder gegen die Fenster. Ein ganzer Schwarm von Tauben kam von irgendwoher geflogen, wimmelte grau zwischen den Füßen der Passanten und stritt um die heruntergefallenen Brotkrumen. Eine Taube setzte sich vor mein Fenster, gurrte mich durch das Glas hindurch an und verfolgte jede meiner Bewegungen mit ihren schwarzen Stecknadelkopfaugen, die kurz weiß wurden, wenn sie, von einem Zucken des Kopfes begleitet, die Lider schloß. Angewidert wandte ich mich ab, um das Loch, das der Bärtige am Morgen in mein Fenster geschnitten hatte, noch ein wenig fester zu verkleben.
Unterdessen hatte immer wieder das Telefon geklingelt. Aber jedesmal, wenn ich abhob, war nur das Freizeichen oder gerade noch ein Klicken in der Leitung zu hören gewesen. Irgendwann zog ich mir etwas über und verließ trotz meiner Angst die Wohnung.
Als ich auf die Straße trat, waren nur noch ein paar wenige Passanten zu sehen. Ein penetranter Geruch nach verbranntem Haar durchzog die Luft. Helikopter kreisten geräuschlos am Himmel über dem Nachbarviertel.
Ich überquerte die Straße; der Taubenschwarm stob auseinander. Ich entdeckte Essensreste und Zeichen, die mit Teerfarbe und Kreide an die Fassade bis auf den Boden davor gemalt worden waren, Pfeile, die auf Treppensymbole zeigten, verschiedene Kombinationen aus Kreisen und Dreiecken, deren Sinn mir restlos unverständlich blieb.
Es war ein normaler Werktag, dennoch war niemand auf der Straße, und die meisten Rolläden und Vorhänge waren geschlossen. Erst, als ich die vorstädtischen Wohngebiete und den Park durchquert hatte und mich der Stadtmitte näherte, begegneten mir wieder Menschen. Hier und da entdeckte ich weitere Symbole, auf den Häusern ebenso wie am Boden und an Bäumen; die Farbe war teilweise noch nicht getrocknet.
Als ich die großen Einkaufsstraßen erreichte, wirkte alles so, wie wenn nichts geschehen wäre. Ein stetiger Wind hatte in die seit Tagen über der Stadt hängende Wolkendecke Löcher geblasen, durch die die Sonne schien. Die meisten Leute machten einen entspannten Eindruck auf mich.
Ratlos, was ich als Nächstes tun sollte, ging ich an den Schaufenstern entlang. Die Angestellte eines Konfektionsgeschäftes war gerade dabei, nackte Puppen zu bekleiden. In der Enge ihres Glaskäfigs stellte sie sich jedoch so ungeschickt an, daß eine Puppe gegen die andere kippte, bis alle übereinanderfielen und es so aussah, als veranstalteten sie eine Orgie. Ein Arm ragte grotesk aus dem Haufen hervor und hielt ein Schild mit der Aufschrift Langerwisch's Bauelemente-Studio – Willkommen in der Welt der individuellen Haustüren in die Höhe.
Ich ließ mich in der vom Menschenstrom vorgegebenen Geschwindigkeit treiben und versuchte, in den Mienen der entgegenkommenden Passanten zu lesen. Meine Augen ermüdeten jedoch schnell, und die Gesichter begannen, einander so sehr zu gleichen, daß ich bald nur noch einen einzigen Physiognomiebrei an mir vorüberquellen sah. Zuerst versuchte ich, meinen Blick einfach vom Wogen der Mienen, Gesten, Mäntel, Augen, Schuhe, Farben und Geräusche abzuwenden und auf den unter mir laufenden Asphalt zu richten. Aber dann scherte ich aus dem Passantenstrom aus, um mich irgendwo hinzusetzen und ein wenig auszuruhen.
Als ich den Straßenrand fast erreicht hatte, wurde ich so heftig angerempelt, daß ich fast zu Boden gefallen wäre. Ich hatte mich gerade so gefangen und blickte dem Kerl hinterher, der mich ansah, als hätte ich ihn und nicht er mich gestoßen – da wurde ich abermals angerempelt, ich dachte, aus Versehen. Aber auf den dritten Stoß, den mir eine ältere Frau kurz darauf mit ihrer Schulter verpaßte, folgten ein vierter und fünfter, so viele, bis ich das Gleichgewicht verlor und zwischen die Beine der Passanten hinuntergerissen wurde. Jemand trat so hart gegen meine Schläfe, daß mir die Sicht verschwamm.
Überrascht, wie ich war, trafen mich die Schläge und Tritte, die dann auf mich prasselten, in die Rippen, in den Bauch, ins Gesicht, ich kam nicht einmal dazu, mich mit den Armen zu schützen. Ich hörte Geräusche, die mir immer noch merkwürdig vorkamen, als ich schon begriffen hatte, daß ich es war, der sie ausstieß, Laute wie aus einem kaputten Kassettengerät, gedämpft und weit weg, indessen es in meinem Kopf ganz still blieb. Während ich zusah, wie sich ein dunkler Punkt zwischen meinen Augen zu einem goldgeränderten Kreis auszubreiten begann, flackerten Bilder einzelner Körperteile auf: ich sah einen silbernen Ring an einem Finger stecken, ein Korallenarmband, das unter dem Ärmel einer weißen Bluse hervorrutschte, braune Male auf dem Rücken einer zur Faust geballten Hand. Das letzte, was ich wahrnahm, war ein Gesicht, ein bläulich angelaufenes Gesicht – dann wurde ich von einem spitzen Schuhabsatz getroffen, der nur knapp das linke Auge verfehlte. Der Kreis in der Mitte meines Sichtfeldes zerplatzte, etwas Schwarzes schoß heraus, und mein Körper wurde fortgerissen wie in einer Stromschnelle.

 

Aus: Blinder Passagier. Verlagshaus J. Frank, Berlin 2008

Dominic Angelochl  14.04.2008   Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht   Seite empfehlen  empfehlen

Dominic Angeloch
Prosa