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Christophe Fricker

Chlor

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New York war beim Anflug in mein Fenster gerückt und gleich wieder daraus verschwunden. Auf dem Flughafen bin ich mir, übernächtigt, gar nicht so sicher, ob ich mein Ziel wirklich erreicht habe. In der Unter­grund­bahn suche ich festen Halt. Die mehr­sprachigen Werbeflächen, auf denen kostengünstige Operationen beworben werden, fahren mit mir mit. Vor der Station, die mir ein routinierter Concierge am Telefon genannt hat, blitzen einige Male Bilder auf. Gekachelte Bahnsteige. Ich erinnere mich an die Bilder römischer Bäder in meinem alten Lateinbuch. Caldarium, Frigi­darium, denke ich. In der U-Bahn mache ich mich beiden Menschen, die hier unten verkehren, gemein – den Touristen durch den andauernden Blick auf den Liniennetzplan, den Einheimischen durch ergebene Geduld und vielleicht etwas belauschte Ironie: Zwei sich überlappende Fahrgäste stellen übereinstimmend fest, auf ihren Sitzen habe eigentlich nur Kate Moss Platz – die wahrscheinlich niemals mit dem auf sie zuge­schnittenen Ver­kehrsmittel fahren werde. Wieder in New York.
Die Lobby meines Hotels wird eingefaßt von einem langen Bücher­regal. Unter einem silbern bemalten Geweih-Kron­leuchter stehen Tisch­chen, so fragil, daß man nur ein Martini-Glas daraufstellen will, das nach oben wegzustreben schiene. Die Aufzugtüren schließen sich sofort, und in den zehnten Stock dauert die Fahrt nur Sekunden.
Aus braunem Leder ist der Rücken des Bettes, und auf dessen beiden Seiten sind große goldene Schnallen angebracht. An der Wand entlang führt eine dick gepolsterte schwarze Sitzbank mit roten und schwarzen Kissen, die so fest sind, daß sie kaum nachgeben, wenn ich mich dagegen lehne. Die Klassik-Auswahl im Zimmer-System beginnt mit späten Streich­quartetten von Beethoven. Meine mitgebrachte braune Anzughose und das rotbraun und violett gestreifte Hemd passen zum Holz des Schranks. Immer schön, wenn Dinge zueinander passen, die es nicht müssen. Der schwarze und silberne Schirm und mein Notizbuch.
Die Tür zum Bad ist ein dünner Holz­rahmen um Milch­glas­scheiben. Vor dem Spiegel am Waschtisch liegt Seife mit Gurken­essenz. Es gibt Spiegel, in denen man besser aussieht als in anderen. Liegt das daran, daß sie geputzt sind, oder daß sie eine bestimmte Form haben? Wahr­scheinlich liegt es einfach daran, daß man sich verändert. Oder anders anzieht. Heute habe ich ein weißes Hemd mit blauen Streifen an, und meine Augen sind blau. Grau, sagt mein Freund. Naja. Dieser Spiegel hier ist von einem grellen Licht rechteckig umrahmt, das sich in meinen Pupillen spiegelt und sie rechteckig wirken läßt.
Als ich das letzte Mal in der Stadt war und im Hyatt auf der 42. Straße wohnte, spielte in der Lobby ein kleiner Junge auf dem Flügel den Fröhlichen Landmann von Schumann. Er löste bei seinen Eltern ein rhythmisches Klatschen aus, das aber gegen die Chlorspiele nicht ankam. Ein lärmendes Wasserspiel verbreitete seinen selbstbewußt-ungastlichen Chlorgeruch. Es war derselbe Chlorgeruch, den die Wasserspiele vor dem World Trade Center versprühten, woraus ich schloß, daß Sauerstoff nur des gemeinen Mannes Lebenselement ist, während sich alles Bedeutsame an das Chlor hält. Die Installation am WTC bestand aus einer Kugel, deren Abbild die Welt sein mußte. Sie war ganz rund, glänzte, wurde von Wasser umflossen und roch nach Chlor. Darum herum lagen die fünf Boroughs und dann die fünf Kontinente.
Im Erdgeschoß des einen Turms waren die Flaggen der Staaten der Welt gehißt, selbst die von Nationen, die sich jeder politischen Organisation entledigt oder sich dem Welthandel konsequent verweigert hatten, mit ihren Fahnen gleichmütig und glanzvoll vertreten. Zwischen dem Glas und dem Stahl an Wüsten und an Landminen zu denken, schien damals unan­gemes­sen. Ground Zero ist heute von hohen Gittern umgeben, durch die der Blick in einen schwarzen Himmel steigt. Obwohl die Stabilisierung der Fundamente begonnen ist, riecht es bei Regen immer noch – wie auf einer Nebenstraße in Yangon – nach Matsch und Schlamm. Was nach dem Einsturz der Tower übrig blieb.
Eines der unheimlichen Zeugnisse des 11. September ist eine lebensgroße Statue des New Yorker Künstlers Michael Richards. In Anspielung auf den Heiligen Sebastian zeigt sie ihn selbst durchbohrt, allerdings nicht von Pfeilen, sondern von Flugzeugen. Richards' Atelier befand sich im 92. Stock des World Trade Centers. Er war zur Zeit der Anschläge bei der Arbeit und überlebte nicht. Die wenige Jahre zuvor geschaffene Plastik galt als verschollen, tauchte aber im Jahre 2003 wieder auf. Sie steht heute im North Carolina Museum of Art in Raleigh.

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Im Museum of Modern Art. Wo Konzeptkunst ist, zumal in New York, sind die Besucher schöner als die Kunst. Entsprechend macht es auch nichts, wenn sich jemand zwischen mich und das Kunstwerk schiebt. Die meisten Besucher sind schließlich, jedenfalls ihrer Meinung nach, ohnehin noch wichtiger als die ausge­stellten Werke. Manche photographieren, zum Beispiel die technisch reproduzierbare Marilyn Monroe, andere einfach ihre Freundin – oder beide auf einem Bild. Zum Vergleich, vielleicht.
Zur Pause in einem der Museums-Cafés nehme ich mir einen Chicorée-Salat und eine Flasche Wasser vom Buffet, ohne groß nach­zudenken. Eine agile Dame gratuliert mir. Das sei in der Tat ein gesundes Mahl, viel besser als ein Muffin. Das heißt, an jedem anderen Nachmittag würde sie mich abkanzeln, wenn sie nämlich meinen geliebten Muffin sehen würde. Ich sage, manche Tage seien Zucker-Tage, andere seien es nicht.
„Heute haben Sie es richtig gemacht“, unterstreicht sie resolut ihre Position.
Die Fitness-Welle rollt, parallel zur für Europäer ungewohnten Reli­giosität. Beides läßt sich ver­binden: Yoga = Gym + Church, titelte neu­lich eine Zeit­schrift. Habe leider vergessen welche. Wenige hundert Meter voneinander entfernt finden sich auf 125th Street ein über­dimen­sionales Poster aus der Werbe­kampagne von Nike, „The Second Coming“ – das aber nicht die Wiederkunft Christi zeigt, sondern eine Reihe bekannter Basketballer – und ein schäbig aussehendes Gebäude mit der Aufschrift „United House of Prayer for all People“. Es gehört einer Pfingstgemeinde.
Wenn ich allein unterwegs bin, merke ich nicht, wie wenig ich eigent­lich rede. Das ist mir erst aufgefallen, als ich Viscontis „Tod in Venedig“ gesehen habe, in dem ja fast gar nicht gesprochen wird, eben weil Aschenbach allein reist und Tadzio auch nicht wirklich etwas zu sagen hat. An meinem Salat kauend lege ich mein Notizbuch vor mich und überlege: Was waren Dinge, die ich verloren habe? Kleines Requiem für Dinge, die ich auf Reisen aufgenommen habe und auch wieder losgeworden bin:
Die schwarze Umhänge­tasche aus Luang Prabang, mit der schema­tischen Zeichnung von zwei Figuren. Zwei weiße Umrisse, einer mit einer Art Höcker auf dem Kopf, der andere ohne. Als ich durch den Kurpark in Wiesbaden ging, vorbei an zwei Damen, die auf einer Bank saßen, hörte ich eine der beiden mit tiefer Stimme sehr langsam sagen: „Da sind zwei Figuren …“ | Dann gab es da „the evil T-Shirt“, ein rotes Kleidungsstück, das ich in Saigon gekauft habe und das aus so festem Stoff war, daß ich selbst bei polarer Kälte oder im Weltraum oder so wo noch geschwitzt hätte. In den Tropen war es untragbar. Prickly heat, ein Ausdruck, den ich damals lernte. Der andere Grund dafür, daß ich es "teuflisch" nannte, war die Tatsache, daß es selbst nach dem wievielten Waschen noch soviel Farbe abgab, daß das Wasser nachher wie Himbeersaft aussah. Wenn das T-Shirt an der Leine neben einem Hemd hing, hatte das nachher rote Linien und Spritzer. Einmal ist mir das passiert, und das entsprechende Hemd sah dann so aus wie eines, das ich in Montreal gesehen hatte, ebenfalls cremefarben, mit roten Spritzern. Nur kostete meines nicht fünfhundert Dollar, sondern entstand aus Versehen im Keller. | In Triest habe ich ein Adreßbuch verloren, das war besonders ärgerlich. Vom Beifahrersitz aus hatte ich meine Freundin Marie ohne Karte und nach (verwirrtem) Gefühl dort durch die Einbahnstraßen gelenkt, rechts und links, und dann konnte man nicht rechts, also wieder links, und noch dreimal, und wieder zurück, und erst Stunden später habe ich an das kleine schwarze mit den Adressen drin gedacht. | Die Diskette, die ich wochenlang in einer Außentasche meines Rucksacks hatte, als man noch Disketten benutzte, war irgendwann verwittert, angefressen. Die habe ich nicht verloren, sondern weggeworfen. | Verloren habe ich einen Schirm, den ich mal früher in New York gekauft hatte. In JFK brachte ich ihn an den Schalter, und weil ich ihn nicht an Bord nehmen durfte, wurde er in eine eigene lange Schachtel verpackt. Der Delta-Mitarbeiterin war das offenbar zuviel Aufwand.
„Der muß ja was ganz besonderes sein.“
„Er ist aus New York.“
Meinem Notizbuch vertraue ich alle diese Dinge an, mögen sie dort gut aufgehoben sein. Wie ich mich umsehe, fällt mir auf, daß mich die Gesichter am meisten fesseln, die ich am ehesten mit dem Wort "leer" beschreiben würde. Dann gehe ich ins Metropolitan Museum, und dort gleich in die beiden Bothmer Galleries. Die griechischen Rüstungen aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Muskulös und ohne Gesicht stehen sie uns gegenüber und warten, daß wir den Körper eines Kriegers in unserer Vorstellungskraft ergänzen. Der Eindruck fort­dauernder Abgeschie­denheit bestimmt das gemessene Tempo von Vitrine zu Vitrine. Zu dem Streitwagen, der von vier Pferden gezogen wird – zwei Fächer aus jeweils acht Hufen umwölken ihn wie der Staub, den sie aufwirbeln werden. Wie der Bediente einer vornehmen Abendgesellschaft tritt eine kleine Figur auf, beide Arme nach vorn angewinkelt, als brächte sie zwei Gläser. Für die sorgfältig Frisierten von Manhattans nahem Ostufer ist er womöglich zunächst nicht der Wagenlenker, der seine Zügel im irdenen Terror jahrtausendelanger Verschüttung verlor. Hier in der Antikensammlung gibt es Jugendliche, die für immer ihre Hände in einer großen Schüssel waschen, und Kranke, die niemals gesund werden. Auf dem gebrannten Ton blicken sie so gleichgültig, als wüßten sie das. Nicht wie Vermeers Briefleserin, die von der Nachricht ihrer Unsterblichkeit, erführe sie sie je, sehr überrascht wäre. Ihr Jahrhundert ist farbenfroher und besteht nicht nur aus kunstvollen Bordüren und glänzendem Terrakotta, nicht nur aus sechs Vasen, zwei davon liegend.

Aus: Christophe Fricker: Larkin Terminal. Von fremden Ländern und Menschen. Stories. Leipzig: Plöttner, 2009.

 

Christophe Fricker  03.06.2009   
Christophe Fricker
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