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Das Schwein in der Jauche
Über Franz Kafkas Prozess

Handschriftliches Manuskript: Der Prozess, Seite 1Oft ist es – Unkenrufen zum Trotz – nützlich, bei der Betrachtung eines Werks einen Blick auf seinen Autor zu werfen. Im Falle Franz Kafkas gelingt das mit Hilfe seines besten Freundes Max Brod. Er berichtet, dass Kafka, als er das erste Kapitel seines Prozess zum ersten Mal vorlas, schallend lachte - so sehr, dass er zeitweilig mit Lesen aufhören musste.

Nimmt man diesen Hinweise ernst, geschieht für den Leser ein Interpretationswunder: Aus dem düsteren, ernsten und vermeintlich unverständlichen Buch wird ein auf vielen Ebenen angelegter, temporeicher Justiz-, Polit- und Psychothriller: Mit jener typisch kafkaschen Fülle von spannenden Stories und Substories.

Der Trick beim Lesen des Prozesses – nennen wir es so – besteht darin, seinem Protagonisten Josef K. nicht auf den Leim zu gehen – „Machen Sie doch keinen solchen Lärm mit Ihrer Unschuld!“, maßregelt ihn ein Aufseher – und stattdessen lieber dem Autoren Franz Kafka zu vertrauen, der uns (mit der ihm eigenen Geduld) die Schuldhaftigkeit seines Protagonisten auf rund 240 Seiten Text Zeile für Zeile nachweist.

Der Protagonist Josef K. – geschrieben wurde der Roman zwischen 1912 und 1915 – ist Prokurist einer Bank. Eines Morgens wird er in seiner Pension verhaftet, ohne über die Anklage aufgeklärt zu werden. Der Leser erfährt diese allerdings im Verlauf des Buchs: Allgemeine Gefühls- und Herzlosigkeit. Wer klagt ihn dessen an? Die Köchin der Pension. Von wem wird er verhaftet? Von untergeordneten Personen – eine davon trägt den Namen Franz. Von wem wird er zum Schluss hingerichtet (was er übrigens jederzeit verhindern könnte)? Auch von untergeordneten Personen; Josef K. vermutet heruntergekommene Schauspieler vom lokalen Theater.


Schuld oder Nicht-Schuld?

Was hat es mit der Anklage auf sich? Dass sie von einer Köchin stammt, ist Zeichen dafür, dass jeder Andere sie ebensogut hätte erheben können: Alle sind im Prozess das Gericht. K. ist schuldig, auch wenn Kafka in seinem ersten Satz die Leser zunächst auf den falschen Zug setzt: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“, heißt es im ersten Absatz, aber Vorsicht Falle: Dies ist die Perspektive K.s.

Zweifel an seiner Opferrolle kommen bereits zu Ende des zweiten Kapitels, als er zu nachtschlafender Zeit seine Pensionsnachbarin Fräulein Bürstner bedrängt – heute würde man es „sexuelle Belästigung“ nennen –, er begrapscht sie, küsst sie ab „über das ganze Gesicht, wie ein durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt. Schließlich küsste er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die Lippen lange liegen.“

Assoziationen mit einem Vampir drängen sich auf. Und tatsächlich, im Verlauf des Romans stellt sich der Protagonist nicht als ein Opfer-durch-die-Gesellschaft heraus, sondern als ihr Gegenteil, ein Parasit; jener Spezies Mensch, die nimmt, ohne zu geben. Das gedemütigte Fräulein Bürstner verlässt gebückt das Zimmer, während K. sich ins Bett begibt: „Vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach, er war damit zufrieden, wunderte sich aber, dass er nicht noch zufriedener war.“

Nicht noch zufriedener? Hier müssten eigentlich alle Alarmglocken der Leser läuten.


Ein niedriger Charakter

Der Protagonist des Prozesses ist nichts anderes als ein egozentrisches Bureauwürstchen. Ein Dünnbrettbohrer, berechnend, heuchlerisch, arrogant. Er steckt Menschen in zwei Schubladen: Die Unter- und die Übergeordneten.

Dazu nur einige Beispiele. Die Mutter K.s lebt, alt und grau und schon lange verwitwet, in einer entfernten Stadt – K.s Vater starb früh. Der abwesende Vater ist der einzige Hinweis Kafkas auf einen Grund für die Fehlentwicklung seines Sohnes. Der Protagonist hat sie seit zwei Jahren nicht mehr besucht. Warum? Er ist mit seiner Karriere beschäftigt.

Auch Freunde hat K. nicht, höchstens einen „guten Bekannten“, den Staatsanwalt Hasterer, einen Wichtigtuer und Machtmenschen. Warum ist er mit ihm befreundet? Weil er nützlich ist für Josef K.s Ansehen in der Stadt.

K. führt jenes asoziale Junggesellenleben, dessen Kafka sich immer wieder selbst bezichtigt hat: schwach, gefühlskalt und desinteressiert. Er ist nicht verheiratet – warum? Weil ihm Frauen nur so lange wichtig sind, als er sie benutzen kann – das gilt gleichermaßen für Elsa, Leni und die Waschfrau, die er als Verbündete für seinen Prozess zu gewinnen sucht. Fräulein Bürstners Widerstand – sie allein entzieht sich ihm während des ganzen Romans – glaubt er brechen zu können, weil sie nur ein „kleines Schreibmaschinenfräulein“ ist.


Kein Schmutz zu fremd

Franz Kafka hat als Autor im Prozess nicht viel Mitgefühl für seinen Protagonisten (selbst Patricia Highsmith zeigt mehr davon in ihren Romanen). Auf jeder Seite lässt er Josef K. irren, fehleinschätzen, in Fallen tappen, den falschen Leuten trauen und falschen Spuren folgen. Mit Kafkas Worten: Er schaut nach links, während der Richter rechts steht.

Die Schuld an seiner vertrackten Situation gibt er der Gesellschaft. Dem Staatsapparat, der Korruption, dem undurchsichtigen Gesetz. Was den Priester im neunten Kapitel, der ihm helfen will, schließlich zu dem Aufschrei veranlasst: „Siehst du denn keine zwei Schritte weit?!“ Nein, das tut er nicht. Obwohl er tatsächlich nur einen Schritt aus seinem System heraustreten müsste, um sich aus dem Prozess zu retten.

K. ist schuldig wie alle. Wie jeder. Wie Kafka selbst. Kein Hintergedanke, kein Schmutz sei ihm fremd, schreibt er in sein Tagebuch am 7. Februar 1915, kurz nachdem er die Arbeit am Prozess aufgegeben hat:

„Bei einem gewissen Stand der Selbsterkenntnis und bei sonstigen für die Beobachtung günstigen Begleitumständen wird es regelmäßig geschehen müssen, dass man sich abscheulich findet. Jeder Maßstab des Guten – mögen die Meinungen darüber noch so verschieden sein – wird zu groß erscheinen. Man wird einsehen, dass man nichts anderes ist als ein Rattenloch elender Hintergedanken ... der Schmutz, den man finden wird, wird um seiner selbst da sein, man wird erkennen, dass man triefend von dieser Belastung auf die Welt gekommen ist und durch sie unkenntlich oder allzu gut erkennbar wieder abgehen wird. Dieser Schmutz wird der unterste Boden sein, den man finden wird, der unterste Boden wird nicht etwa Lava enthalten, sondern Schmutz. Er wird das unterste und das oberste sein und selbst die Zweifel der Selbstbeobachtung werden bald so schwach und selbstgefällig werden, wie das Schaukeln eines Schweins in der Jauche.“


Überbordende Erzähllust

Kafka-Skizze

Kafka ist ein Schriftsteller, der die Schwächen der Menschen ans Licht zerrt und diejenigen anklagt, die ihn selbstgerecht leugnen. Er tut dies mit Parabeln, Bildern, mit philosophischen und religiösen Betrachtungen – und mit den Mitteln der Komödie. So hält er in einer Szene des Prozess eine flammende Rede auf die Gerechtigkeit – in einem Nebenzimmer eines fünften Stockwerks – jedoch vor einem völlig unseriösen Mob und einem noch unseriöseren Untersuchungsrichter. Dieser „Richter“ liest während des Prozesses in einem zerfledderten Buch, das „durch vieles Blättern ganz aus der Form gebracht“ ist – und zusammen mit K. nimmt der Leser an, es handle sich um einen relevanten Gesetzestext – aber Irrtum: Vorwärtsblätternd erfahren wir, dass es ein Sado-Maso-Porno ist mit dem ganz unkafkaesken Titel: Die Plagen, welche Grete von ihren Manne Hans zu erleiden hatte.

In einer anderen Szene wird eine Situation im Büro komödienhaft so verdichtet, dass sie als die bisher beste Mobbing-Szene der Literaturgeschichte gelten kann. Während K. – im gewohntem Eifer, wenn es um ihn selbst geht – seinem Chef, dem Direktor-Stellvertreter, Daten und Fakten zum aktuellen Stand seiner Arbeit vorträgt, zerstört ihm dieser mit dem gleichen Eifer die Balustrade seines Schreibtisches mit einem Lineal. Der Schreibtisch, heißt es, ist eine an sich handwerklich vorzügliche Arbeit. Das endgültige Brechen der Leiste, das einhergeht mit dem Ende des Vortrags, kommentiert er mit dem ärgerlichen Ausruf „Schlechtes Holz!“

Die Erzähllust Kafkas, die eine große Vielfalt an mäandernden Geschichten, Unter- und Nebengeschichten hervorbringt – ähnlich den Zimmern, Unter- und Nebenzimmern des Prozesses –, zeigt sich in allen anderen Szenen des Romans. In der Eingangsszene mit den Wächtern oder in der Szene mit dem Gerichtsmaler Titorelli, in der der Protagonist Josef K. einem Kunstmaler eine Unmenge schlechter und identischer Heidelandschaften (schwache Bäume, Gras, ein Sonnenuntergang) nur abkauft, um sich Vorteile zu sichern.

K. wird zum Schluss des Prozesses hingerichtet. Unspektakulär erleidet er diesen Tod – durch Uneinsichtigkeit. Denn er könnte jederzeit gerettet werden; alle wollen bis zur letzten Seite helfen – die Geliebte in Gestalt Lenis, die Kirche in Gestalt des Priesters, die öffentliche Ordnung in Gestalt eines Polizisten. Ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft geneigt ist, zu verzeihen.

Kehren wir zurück zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen: Franz Kafka hat also gelacht, als er den Prozess seinen Freunden vorlas (übrigens beschwerte sich auch James Joyce gegenüber Ezra Pound einmal darüber, dass kein Kritiker die Komik seines „Ulysses“ hervorhob. „Wenn nur jemand mal sagen würde, dass das Buch so verdammt lustig ist!“): Das müsste jenen Kritikern zu denken geben, die immer wieder nur gebetsmühlenartig die beklemmenden, düsteren und labyrinthischen Aspekte des Prozesses hervorheben.

Dem Roman soll damit durchaus nicht sein brisanter Charakter und sein kritisches Potential, was das bürokratische Elend der Justiz und des Staats angeht, abgesprochen werden. Dennoch legt er vor allem Zeugnis ab für Kafkas detailgenauen Witz. Seiner Lust, dem Leser falsche Fährten zu legen. Ihn mit Rätseln zu beschäftigen. Es würde der Rezeption Franz Kafkas sicherlich gut tun, wenn man ihn aus der Ecke des existenzbedrohenden Kampfes eines Individuums gegen anonyme Mächte und Autorität befreite und wieder eine Leselust an diesem außergewöhnlichen Werk vermittelte.

Christiane Geldmacher          

Christiane Geldmacher
Kolumne
Essay