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Björn Kern
Flugangst
Kobers Frau liebte den Orient oder vielmehr das, was sie dafür hielt, bevor sie ihn kennen lernte. Schuld sind die Romane, sagte Kober, wir irrten durch das Zigeuner­viertel in Edirnekapi, ein eisiger Wind ging, Frauen schnalzten mit ihren Zungen aus den Fenstern, Kober beachtete sie nicht. Er dirigierte mich in das nächste Teehaus und bestellte &ccdil;ay, rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, erklärte, dass die Romane an allem Schuld seien, ich wollte Raki, Kober kippte seinen winzigen Tee herunter, wobei er sich vor dem Zucker ekelte oder vor dem Schmutzrand am Glas, jedenfalls verzog er das Gesicht, warf ein paar Millionen Lira auf den Tisch und zerrte mich zurück auf die Straße.
Es dunkelte, eine Dogge schlug an. Über uns wurde ein Fenster aufgerissen, ein Mann schleuderte Salven explodierender Kehl­kopf­geräusche auf uns herab, Kober klappte seinen Mantelkragen hoch, er sprach genauso hektisch, wie er lief, es liegt an dieser verdammten Engländerin, sagte er, und an Scheiß-Flaubert und seinem Voyage en Orient, ich bettelte an jedem Kiosk, an jeder Spelunke, Halt zu machen, mein Anschlusszug ging um elf.
Kober irrte durch immer enger werdende Gassen, Jungen fassten nach meinem Rucksack wie nach einem Schatz, Kuppler starrten uns an und winkten uns zu sich, das ganze Viertel schien uns einzuspinnen, festzuzurren, aufzunehmen in jedem noch so kleinen Mauerloch. Kober zischte mir zu: sie lag den ganzen Tag auf der Couch, trank flaschenweise Médoc und las diese verfickten Romantiker. Sie dachte, sie lebt in den Zwanzigern, sagte er, sie verseuchte unsere Wohnung mit Jugend­stil­lampen und Raubtier­fällen, ich musste mich freuen, wenn sie einen Leoparden­teppich durch einen Löwen­teppich ersetzte, er sagte: natürlich waren beide aus Plastik.
Im Halbdunkel erreichten wir die alte Stadtmauer, Kober fluchte und dampfte, er zog mich in eine Nische wie eine Stadtrandhure und eine Rakiflasche aus seinem Mantel, dann entzündete er ein Streichholz vor dem gelben Moos der Bruchsteinmauer, sein Gesicht leuchtete irr. Ich ließ ihn trinken, sein Atem ging bald ruhiger, er zündete ein weiteres Streichholz an, fixierte meine Augen und sprach plötzlich in zusammenhängenden Sätzen, eindringlich und klar.
Seine Frau Sibyl hatte aus ihrer gemeinsamen Berliner Wohnung einen billigen Abklatsch der Belle Epoque gemacht, und sobald sie in einem Roman auf weitere Interieurs stieß, auf einen Briefhalter aus Elfenbein etwa oder einen Beistelltisch voller Schildplatt, durchkämmte sie Flohmärkte und Trödel­läden, bis sie etwas fand, das ihren romanesken Vorstellungen entsprach. Kober sagte: man konnte kaum mehr laufen vor Kitsch und vor Plastik, aber der Ton, in dem er das sagte, verriet plötzlich Wärme, Liebe, dachte ich und erschrak.
Schlimm wurde es, als sie die Franzosen durchhatte und mit Agatha Christie anfing, Kober sagte: mit dieser Engländerin, seine Frau bettelte über ein Jahr, mit dem Orientexpress zu fahren, der auch vor zwanzig Jahren nur noch zu überteuerten Preisen als nostalgische Luxuslinie existierte, der auch vor zwanzig Jahren Kober anwiderte in seiner maßlosen Dekadenz, Kober sagte: wenn wir Zeit gehabt hätten, wäre sie am liebsten gleich nach Bagdad durchgefahren, was damals noch möglich war, aber die Charité gab ihm nur zwei Wochen frei, und so wurde es Istanbul, Wien-Istanbul, über Budapest und Bukarest, das irrsinnige daran, wie Kober sagte: die Fahrt machte ihm sogar Spaß.
Die Kälte lähmte meine Glieder und umschloss meine Stirn, bis ich kaum mehr denken konnte, weit entfernt schlug die Dogge wieder an und ich leckte die letzten Tropfen Raki aus dem Flaschenhals. Kober zündete ein drittes Streichholz an, ich ließ die Flasche fallen, sie zerschellte mit einem satten Geräusch auf dem Boden, als wäre sie mit Dung gefüllt, zwischen dem Moos und der Mauer floss eine Wasserader, die in den Scherben mündete, Kober klatschte seine Hand an mein Kinn, drehte mein Gesicht in seine Richtung und schrie: ich rede mit dir, du Hirn.
Für einen Moment verspürte ich den Impuls, einfach wegzurennen, Kober so schnell aus meinem Leben zu streichen, wie er es sich vor wenigen Stunden darin bequem gemacht hatte, ich musste nur umsteigen in Istanbul, vom europäischen Bahnhof in den asiatischen, von Sirkeci nach Heydirpasa, ich wusste längst nicht mehr, wo ich mich befand und wie ich ohne Kober dort rauskäme, ich sagte: erzähl.
Der Salonwagen war ein echter Pullman, rief Kober, und ich wunderte mich, dass er sich für alte Züge interessierte, er sagte: eine Flêche d'Or und die Lok eine restaurierte Blue Star, er hat das auswendig gelernt, dachte ich, weil es ihn an seine Frau erinnert, was mir so wahnsinnig erschien wie normal, für einen Moment sah ich aus einigen Metern Entfernung auf uns hinab, wie wir in einer Nische der Stadtmauer von Edirnekapi über Details von Luxuszügen sprachen, ich musste lachen, Kober sagte: sehr witzig, er sagte: und im Schlafwagen fand sie ihre geliebten Einlegearbeiten wieder, aus Teakholz, ihre ovalen Toilettenspiegel und ihre Mantelhalter aus verchromtem Metall.
Sie schritt durch den Zug wie ein Pfau, sie strahlte und sagte oui, monsieur und yes, Sir, obwohl kein einziger Franzose an Bord war, und kein Engländer, an Bord waren ausschließlich altmodische Deutsche und neureiche Briten. In Istanbul ließ sie es sich nicht nehmen, im Pera Palace abzusteigen und nach genau dem Zimmer zu fragen, in dem Agatha Christie das Manuskript vom Mord im Orient Express versteckt hatte. Kober und seine Frau müssen sich in Istanbul wie auf einer zweiten Hochzeitsreise gefühlt haben, sie liefen Arm in Arm am Bosporus entlang, stiegen den Hügel von Topkapi hinauf, bestaunten die Süleymaniye, und lasen sich vom Galataturm aus die Kulturdenkmäler vor, in Beyoglu klammerten sie sich im Dunkeln aneinander, weil Beyoglu vor zwanzig Jahren eine no-go-area war, wie Kober mir erklärte, ich spürte einen gewissen Widerwillen in seiner Stimme, eine Ungläubigkeit, als er sagte: Es waren die glücklichsten Tage meines Lebens.
Kober, sagte ich schlotternd, ich friere. Lass uns was trinken. Kober schnaufte ein paar unverständliche Silben, aus denen ich Jugend und völlig verweichlicht herauszuhören meinte, dann packte er meinen Arm und zog mich fort. Sobald ich lief, spürte ich den Raki, um mich war alles schwarz, ich fühlte mich unwirklich und schwerelos, wie ein vergessener Astronaut im All, kurz vor dem Schlucken der tödlichen Kapsel.
Am Tag vor unserer Abfahrt, sagte Kober mir beim Überqueren der Galatabrücke, wollte sie noch mal nach Beyoglu. Beyoglu war damals, wie Edirnekapi noch heute ist, sagte er: verdorben, exotisch, fremd. Kobers Frau liebte den Kick, die Gänsehaut im Dunkeln und Kobers schützenden Arm, an den sie sich klammern konnte. Kober flüsterte: ich ging mit ihr rein und ohne sie raus.
Kober, sagte ich vorsichtig, wir laufen im Kreis, mein Zug geht um elf. Ich muss über den Bosporus! Kober spuckte ins Wasser, sagte: wir wollen doch jetzt nicht panisch werden, erst übers Goldene Horn, sagte er, dann über den Bosporus, ich stolperte über eine Angel, die am Brückengeländer lehnte, jemand stieß einen harschen Fluch in die Nacht.
An dem Abend, sagte Kober, war Beyoglu am Dampfen. Die Männer johlten in den Hinterzimmern, die Garküchen nebelten die Gassen ein und an den Kebabs perlte das duftende Fett. Kobers Frau benahm sich wie eine Diva in Disneyland, ein bisschen großkotzig, ein bisschen kindisch, sie musste alles ansehen, alles anfassen, alles kommentieren. Je mehr sie sich umsahen, desto mehr wurden sie selbst angeglotzt, sagte Kober: die einzigen Westeuropäer, schlendernd, im T-Shirt, unter hektischen Männern im Jackett.
Was Kober sich bis heute vorwirft: die feixenden Türken, die seiner Frau hinterher starrten und in die Hände klatschten und grölten, als belustigenden Teil des Lokalkolorits missverstanden zu haben, was ihm, wie er mir fast unter Tränen gestand, nüchtern nicht passiert wäre.
Kober ermutigte die Männer geradezu, er legte seiner Frau den Arm um die Hüften, nickte den Gaffern zu und fühlte sich wie auf dem Laufsteg. Zwei junge Männer mit geölten Haaren folgten ihnen sogar eine Weile applaudierend, bevor sie wieder im Gedränge verschwanden, Ich dachte, die feiern uns, rief Kober, ich dachte, die mögen uns, ich dachte, die erfreuen sich an einer schönen Frau.
Kober hatte sich warmgeredet, ich hatte mich kaltgeschwiegen unter dem Parka, Kober beachtete mich nicht. Vor uns stand eine leere unbeleuchtete Straßenbahn, hinter uns eine Reihe längst geschlossener Frittierbuden, Kober zog mich durch die Nacht wie ein laufmüdes Kind. Sinan, der Kuppler, habe sich ihnen an die Fersen geheftet, sagte er, als sie am nördlichen Ende der Istiklal Caddesi in den Fischmarkt einbogen. Es brauchte einige Meter, bis Sinan einsah, dass Kober und seine Frau kein Haschisch kaufen wollten, hippies always want hash, er verstand nicht, was sie dann in Istanbul suchten, Kobers Frau beobachtete einen Fisch­verkäufer, der in einer großen Aluschale Schwarzmeerfische frittierte, sie sagte: wir wollen sehen, wie man hier lebt: authentic, you know?
Kober hatte das noch immer ausgesprochen komisch gefunden, er machte sich sogar über seine Frau lustig: too many novels, sagte er, der Kuppler verstand nicht, klopfte Kober aber auf den Rücken, da denkt man doch, das ist freundschaftlich, sagte Kober mir zwanzig Jahre später im Hafen von Eminönü, er habe sich bei seiner Frau untergehakt, ebenso naiv wie sie Sardinen und Schwertfische und Krabben bestaunt, zwischen Gemüsebergen und Obstpyramiden, er habe mit Sinan über die Vorzüge orientalischer Frauen gefachsimpelt: beautiful skin, black hair.
Ich blickte verstohlen auf meine Armbanduhr. Noch eine Drei­viertel­stunde. Ich hatte längst genug getrunken, um mich nicht mehr zu fragen, warum ich Kobers Lebensgeschichte lauschte, in wenigen Stunden musste ich am Mittelmeer sein, es war mir ein Rätsel, wie ich dort hinkäme, meine Freundin war inzwischen gelandet und wartete schon. An dem Abend vor zwanzig Jahren manövrierte Sinan, der Kuppler, seine beiden Opfer in eine Seitengasse, es wurde Nacht, Kober und Sibyl hatten keine Ahnung, wo sie waren, Sibyl sagte: I want to see the fish, Sinan kratzte sich zwischen den Beinen: come my friends, lots of fish over there.
Spätestens hier, gestand Kober, hätte er nüchtern nicht mehr mitgespielt, hätte er seine Frau zurück auf den Fischmarkt gezogen und das Hotel aufgesucht. So aber sagte er, sie solle sich nicht so zieren, sie suche doch den Kontakt mit den Einheimischen, und wenn sie was erleben wolle, woran sie auch in zehn Jahren noch denke oder in zwanzig, dann hier.
Als wenige Meter, nachdem sie in die Seitengasse eingebogen waren, die beiden Männer mit den geölten Haaren aus dem Nichts auftauchten, bekam Kober erstmals Angst. My friends, stellte der Kuppler sie einander vor, come and look. Einer der Männer fasste Sibyl am Arm, Kober wurde unruhig, er hielt ihre Hand immer fester, bis sie sagte: du tust mir weh und ich will hier raus. Kober blieb stehen. In einer Kettenreaktion blieben seine Frau und die geölten Männer stehen, wenig später auch Sinan.
Come and smoke shisha, hatte Sinan zu Kober und seiner Frau gesagt, very authentic, aber Sinans Freunde lachten bereits nicht mehr, ihr Sprache wurde immer härter, Kober merkte, wie ihm alles entglitt, er aber nichts dagegen tun konnte. Sie folgten den drei Türken in ein Teehaus, Kober sagte: wenn wir umgedreht wären, hätten sie uns festgehalten und verprügelt, Sibyl wurde panisch, schwieg aber, im Teehaus rauchten sie dann tatsächlich eine Wasserpfeife, wir sind doch Angsthasen, sagte Kober zu seiner Frau, lauter als nötig, sie versuchte zu lächeln.
Ich habe Sibyl oft lächeln gesehen, sagte Kober mir, als wir Sultanahmet erreichten, wo uns die Blaue Moschee stolz und angestrahlt mit der Nacht versöhnte, Backpacker fotografierten die Hagia Sophia oder die nächstbeste Moschee, die sie dafür hielten, ich habe Sibyl oft ängstlich gesehen, sagte Kober, aber nie zuvor beides zugleich. Ihre Mundwinkel zitterten beim Lächeln, ihre Augen waren rund und voll Panik. Sie wirkte wie ein verstörtes Reh, sagte Kober, er wollte sie am Nacken in Sicherheit tragen, in den Bau, sie ablecken, Kober sagte: so seh ich sie vor mir, beim Einschlafen, zwanzig Jahre später, ein weißes Reh, beim Aufwachen, ihr T-Shirt spannte, wenn ich betrunken bin, in engen Jeans, Shisha-Rauch vor ihrem Gesicht, wenn ich nüchtern bin, in hochhackigen Schuhen, die Luft riecht nach schwerem süßen Tabak, die Pfeife blubbert, in Berlin, in Istanbul und überall sonst.
Kober vergewisserte sich, dass ich ihm zuhörte, der Bosporus lag weit hinter uns und war nur mehr als schwarzes Band zu erahnen, Kober nahm den Hals der Rakiflasche in den Mund, klopfte mit der flachen Hand gegen den Flaschenboden, um an die letzten Tropfen zu gelangen, das Glas schlug mit einem dumpfen Geräusch gegen seine Zähne, er sagte: mein kleines, weißes Reh.
Als Kober an dem Abend vor zwanzig Jahren wieder zu sich kam, lag er durchnässt in der Gosse, allein, im Mund den süßen Geschmack von Apfeltabak. Er tastete im Dunkeln um sich, fand nirgendwo seine Frau, sein Puls schnellte in die Höhe, er glaubte, der Blutdruck zerfetze ihm die Venen, er sprang auf die Füße, dann durchkämmte er Beyoglu und schrie bis zum Morgengrauen.
Im deutschen Konsulat konnten sie nicht glauben, dass Kobers Frau im T-Shirt durch Beyoglu gezogen war, nachts, da hätte sie auch gleich nackt gehen können, hieß es kopfschüttelnd, ich dachte, sie wären Freunde, erklärte Kober, ich dachte, sie mögen uns, außerdem habe er Kopf­schmerzen, die ihm das Hirn zerstampften, der Bedienstete hatte gesagt: turkish knockout, pro Monat haben wir davon zehn. Dann nahm er Kobers Personalien auf.
Nachdem er seine Erzählung beendet hatte, verschwand Kober, wie er aufgetaucht war: mit Handschlag und ohne jede Erklärung. Er kritzelte einige Straßenzüge auf eine Serviette, mit deren Hilfe ich zum Fährhafen fand, ich erwischte das letzte Schiff über den Bosporus und sprang in den Taurus-Express, das Mittelmeer erreichte ich zehn Stunden später. Meine Freundin wartete nicht am vereinbarten Treffpunkt.
Ich machte mich auf die Suche.
Björn Kern   21.12.2008  
Björn Kern
Prosa