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Entropie
Von dem Geruch des Abwassers wachte er auf. In der Badewanne hatte sich braunes Dreckwasser angesammelt, an dessen Oberfläche schwarze, sich kräuselnde Haare schwammen. Staub rieselte von den Gardinen, als er sie zur Seite zog, um das Fenster zu öffnen. Das gleißende Licht stach ihm in die Augen, warme Luft schlug ihm entgegen. Es würde lange dauern, bis der Geruch verschwunden war. Gegenüber spannte der Nachbar gerade seinen Sonnenschirm auf. Auf dem Bürgersteig spielte wieder das Nachbarskind. Bald müssten die Sommerferien vorbei sein. In der Küche standen noch die Butter und der Käse auf dem Tisch.

Seit sie weg war, hatte er die Sachen nicht mehr angerührt. Der Käse wellte sich an den Rändern. In einer Tüte lag noch ein altes Croissant. Nie hatten sie zusammen in der Küche gegessen. „Wer niemals Brot im Bette aß, weiß nicht wie Krümel piken“, und dabei hatte sie sie ihm von der Brust geklaubt. Als er jetzt mit dem Messer in der Butter stocherte, rutschte sie von der Schneide auf die Tischdecke. Mit dem Zeigefinger verschmierte er den Tropfen so lange, bis nur noch ein dunkler Fettleck übrig blieb.

Als es klingelte, war es der Nachbar von gegenüber. Ob sie gestorben sei, die Blumen wären vertrocknet, wollte er wissen. Statt einer Antwort fragte er nur, ob er die Blumen haben wolle. Der Nachbar bejahte und folgte ihm in die Wohnung, die Pflanzen von den Fensterbänken einzusammeln. Beim Eintreten zog er die Nase hoch und fragte, wonach es hier rieche. „Verstopfung“, antwortete er nur und zeigte in die Richtung zum Bad. „Hast du schon den Klempner angerufen?“ Er nickte und schloss die Tür hinter dem Nachbarn zu. Auf dem Weg zurück ins Bett blieben ein paar abgefallene Blüten an seinen Fersen kleben.

Zum ersten Mal hatte sie ihn besucht, da war seine Mutter schon gestorben. Für ihren Mantel hatte es noch keinen Platz an der Garderobe gegeben. Er musste die Winterjacken hinüber ins Schlafzimmer legen. „Gib sie doch zum Roten Kreuz“, hatte sie gesagt. Das Wetter war zu schlecht um nach draußen zu gehen, sie blieben den ganzen Tag in seinem Zimmer. Manchmal las er ihr etwas vor, meistens schlief er davon ein. Sie schliefen so viel, dass das Bett bald zu eng wurde. Abends gingen sie hinüber ins Wohnzimmer, und während sie fernsah, schaute er in die Glasvitrinen der Schrankwand. „Wenn wir heiraten, können wir das ganze Zeug für den Polterabend verwenden“, dabei zeigte er mit dem Kinn auf die Gläser. „Glas darf man nicht zerschlagen, das bringt Unglück.“. Dann fingen die Nachbarn an zu streiten. „Sei froh, dass noch nicht Sommer ist, da brüllen sie auf dem Balkon.“ Sie gingen früh zu Bett.

Bis der Klempner kam, legte er sich noch einmal hin. Aber das Licht war so hell, dass er nicht einschlafen konnte. Schließlich zog er die Gardinen zu. Der Geruch störte ihn weniger als die Helligkeit. Er wachte erst wieder auf, als es mehrmals laut an der Tür klopfte. Benommen öffnete er dem Klempner und führte ihn durch den Flur zum Bad. Sie mussten hintereinander gehen, weil der Gang mit alten Umzugskartons vollgestellt war. „Sie wollen wohl ausziehen?“ fragte der Klempner. „Die können Sie gern haben.“ antwortete er und dachte an den Kleiderschrank seiner Mutter. – „Wie lange wohnen Sie denn schon hier?“ – „Seit meiner Kindheit.“ Dann schloss er die Badtür hinter sich und ging zurück in sein Zimmer. Vom Schreibtisch aus sah er durch das Fenster den Nachbarn die Blumen umtopfen.

Es war sechs Uhr abends gewesen, als er sie zum Bahnhof gebracht hatte. Er kaufte für sie ein Croissant und ein Mettbrötchen für sich. „Das passt zum Abschied“, sagte er und küsste sie zum Beweis noch einmal. Mit dem Croissant in der Hand versuchte sie sich Luft zuzufächeln. Die Blätterteigkruste krümelte auf ihren Pullover. „Wer niemals Brot am Bahnhof aß, weiß nicht wie –“, aber es fiel ihm kein Ende ein und klopfte ihr stattdessen nur die Krümel vom Ärmel. Der Rucksack kippte immer wieder um, weil sie die Sachen einfach hinein gestopft hatte. Das meiste davon hatte sie nicht getragen. Schließlich gingen sie zum Gleis. Er wollte ihr die Fahrkarte lösen, doch er wusste nicht wohin. Als sie weg war, ging er noch einmal zum Bäcker und holte sich ein Mettbrötchen und ein Croissant.

Der Klempner sagte, da könne man nichts machen, das läge an den alten Rohren. Es wäre wohl besser, bald auszuziehen und dabei klopfte er mit der flachen Hand auf einen Umzugskarton. Er nickte nur, gab ihm das Geld und brachte ihn zur Tür. Zurück in der Küche setzte er sich an den Tisch zum Geschirr seiner Mutter. Die Tüte mit dem Croissant lag immer noch da. Er holte es vorsichtig heraus und fing an, die Blätterteigschichten abzuziehen. Dann zerieb er sie zwischen den Fingern und ließ sie auf die Butter fallen, bis sie ganz bedeckt war.

2005

Simone Unger   11.11.2006

Simone Unger
Prosa