Wolfgang Harich
Zum Fraktionsverbot

Nicht wenige Kommunisten glauben, sie seien dem Marxismus-Leninismus schuldig, in ihren Parteistatuten am Fraktionsverbot festzuhalten, und häufig werden sie von bürgerlicher Seite, unter Umkehrung des bewährten Vorzeichens, darin bestärkt. Hier liegt ein Irrtum vor, den es zu überwinden gilt. Von 1903 bis 1912 sind Lenins Bolschewiki selber Fraktion gewesen, und nachdem sie sich auf ihrer Konferenz in Prag, im Januar 1912, unter Trennung von den Menschewiki und anderen Opportunisten zur Partei konstituiert hatten, sollte es während weiterer neun Jahre an Tendenzen, Plattformen, auch Fraktionsbildungen in ihren Reihen nicht fehlen. In diese Zeit fallen, immerhin, der erste Weltkrieg, die beiden Revolutionen von 1917, der Brester Friede und ein dreijähriger Bürgerkrieg, in dem, ehe die Sowjetmacht ihn siegreich bestand, 14 kapitalistische Staaten militärisch gegen sie interveniert hatten. Die Möglichkeit fraktioneller Betätigung ist also bolschewistisch legitim. Sie hat sich desgleichen mit dem straffen Zentralismus der Partei solange gut vertragen, wie der ein demokratischer und kein bürokratischer Zentralismus war. Dazu freilich begann er nach dem Bürgerkrieg zu entarten, und es gilt zu begreifen, warum. Die Zerrüttung des Landes machte den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) erforderlich, unter Wiederbelebung kapitalistischer Elemente. Diesen sollte dabei wenigstens jede Gelegenheit, sich politisch zu organisieren, genommen werden, weshalb jetzt erst das Verbot anderer Parteien erfolgte, das die – bis dahin legal gebliebenen – Menschewiki und sozialrevolutionäre traf. Und um der Gefahr vorzubeugen, daß sich, ersatzweise, „objektiv“ klassenfeindliche Opposition in der kommunistischen Partei selbst sammelte, ward zugleich deren Mitgliedern Fraktionsmacherei bei Strafe des Ausschlusses untersagt. Ich spreche vom X. Parteitag, der im März 1921 stattfand. Zu verantworten sind seine Beschlüsse noch von Lenin und Trotzki, ebenso von Sinowjew, Kamenew, Stalin, Bucharin, kurz von allen damaligen Parteiführern. Nur einer. der bedeutende Marxforscher Rjasanow, wagte zu prophezeien, daß Chaos, Korruption und Bürokratismus die Konsequenz sein würden. Diametral stand dem eine andere Warnung, von Seiten Karl Radeks gegenüber, der, mit einer apodiktischen Schärfe, zu der Lenin sich nicht hinreißen ließ, erklärte: Menschewisten und Sozialrevolutionären Freiheit gewähren, hieße Selbstmord begehen. Von späteren ist das Parteien- und das mit ihm verbundene Fraktionsverbot aus dem Jahre 1921 kaum weniger unterschiedlich bewertet worden. Wenn alle Stalinisten es seitdem immer uneingeschränkt bejaht haben, so kann das nicht wundernehmen. Im Lager des Trotzkismus dagegen rügt Ernest Mandel es als schweren Fehler. Er begründet diese Meinung damit, daß die Furcht vor kapitalistischer Restauration durch politisches Wiederauftauchen der Klein- und Mittelbourgeoisie „eine Fehleinschätzung der kurzfristigen Analyse“, bis 1927, gewesen wäre und wirft seinem Meister Trotzki vor, für die – allenfalls als taktische Bewältigung einer Zwangslage zu rechtfertigenden – Beschlüsse des X. Parteitags 1921 den Versuch einer völlig unannehmbaren allgemeinen theoretischen Fundierung geliefert zu haben, wovon er erst gegen Ende seines Lebens, in einem Brief, abgerückt sei. In diesem Trotzki-Brief, an Merceau Pivert, steht, es müsse, wie immer man zur Korrektheit des Fraktionsverbotes auch stehen möge, jedenfalls klar sein, daß damit der Errichtung des stalinistischen Regimes und der bürokratischen Diktatur in der UdSSR Vorschub geleistet worden sei. Isaac Deutscher, eher zentristisch denkend, bringt ungemein viel Verständnis für Motive kommunistischen Machterhalts auf und beklagt gleichwohl den furchtbaren Preis, den der gekostet habe: „Das lebendige Gefühl der Partei mußte künstlich abgestumpft. ihr Blick verschleiert und ihr Gehör taub gemacht werden, damit sie gegen unerwünschte Einflüsse immun blieb ... Um die Errungenschaften der Revolution zu retten, mußte man den natürlichen Rhythmus des politischen Lebens unterdrücken. Indem die Partei dies tat, verkrüppelte sie sich selber an Geist und Körper.“