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Ischai


 

  Auszug


Ich lernte Ischai an einem Nachmittag kennen, als ich auf dem Rückweg von der Arbeit die Rue longue vie hinunterging. Ich hatte keine besondere Eile, denn zu Hause erwartete mich nichts als meine schweigsame Mitbewohnerin, meine Bücher und der Fernseher in dem kleinen Durchgangszimmer. Seit zwei Wochen war ich in der Stadt und verbrachte meine Tage von morgens bis nach­mittags als Praktikantin in einem Dokumen­tar-Film­verleih, in dem es für mich kaum etwas zu tun gab. Luc, der Inhaber, ließ mich Adresslisten aktua­lisieren und Zusammen­fassungen von Filmen schreiben, die auf abseh­bare Zeit niemand ausleihen würde und die meis­tens einen sozial­kritischen Hinter­grund hatten. Den Verleih finanzierte er von seiner Erbschaft; er befand sich in einem alten Fabrikgebäude zusammen mit Künst­ler­ateliers, einem Stadt­teilbüro und einigen Unter­richtsräumen für Sprachkurse. Ich blickte von meinem Arbeitsplatz auf einen Hof, in dem eine Frau Schrott-Skulpturen herstellte.
  Wenn ich im Ver­leih fertig war, lief ich die fünfzehn Minuten ins Zentrum und spazierte einfach durch die Straßen. Ich sah mir die Leute und Häuser und Läden an, und wenn ich ein Café entdeckte, das mir gefiel, setzte ich mich hin ein, wenn möglich ans Fenster. Ich las oder schrieb in mein Tagebuch oder rauchte und sah hinaus. Es störte mich nicht, alleine zu sein und mit niemandem reden zu können, und die Briefe an meine Freunde zu Hause verschob ich immer wieder. Manchmal stellte ich mir vor, ich wäre jemand anderes, ginge an dem Café vorbei und würde mich dort sitzen sehen. Gleich am ersten Tag war ich mit einem Antiquar ins Gespräch gekommen; sein Laden lag in der Bücher­galerie am Kunst­berg und er hatte vor mehreren Jahr­zehnten in Tübingen über Heidegger promoviert. Seitdem hatte er kaum noch Deutsch gesprochen, auch nicht gelesen, aber er verwendete Wörter wie das Seiende und die Grund­stimmung und lachte darüber, dass von drei Jahren Philo­sophie­studium nicht mehr übrig geblieben war. Manchmal besuchte ich ihn in seinem Laden und wir unter­hielten uns. Ich kaufte Nadja und Les Fleurs du Mal und die Exercices de style in gut erhaltenen Taschen­buch-Ausgaben und legte sie zu Hause auf den Stapel zu lesender Bücher neben mein Bett.
  Ischai kam mir also auf der Rue longue vie entgegen und blieb vor einem Schaufenster stehen; auch ich blieb stehen. Er sah eine Weile in das Schaufenster, ging dann weiter, nahm ein Stück Papier aus der Tasche und las es im Gehen. Dann steckte er es wieder ein und sprang vom Bürgersteig, um einer Frau mit Kinder­wagen auszuweichen. Vor dem Zei­tungs­kiosk über­flog er die Titel mit gerun­zelter Stirn. Er trug einen alten Parka und eine Umhänge­tasche, auf der Pepsi-Cola stand.
  Er nahm eine Zeitschrift heraus, blätterte darin und legte sie zurück. Er schien unschlüssig. Ich stellte mich auf die andere Seite, nahm die einzige deutsche Zeitung zur Hand und tat, als würde ich lesen. Unsere Blicke trafen sich.
  Kannst du Deutsch?, fragte er mich.
  Ich bin Deutsche. Wir lächelten kurz, dann sah ich wieder in meine Zeitung. Der Inhaber rief durch die offene Tür, sein Laden sei keine Leihbibliothek, und ich legte die Zeitung zurück und machte mich auf den Heimweg.
  Ich hatte zwei Jahre Deutsch in der Schule, sagte Ischai und ging plötzlich neben mir, aber ich hab alles vergessen. Er nahm Tabak aus der Tasche und bot ihn mir an. Wir blieben dort auf dem Bürgersteig stehen und drehten uns Zigaretten. Ich kann dich ein Stück begleiten, sagte er und gab mir Feuer, ich muss nirgendwohin.
  Ich musste auch nirgendwohin. (...)

Aus: Sibylle Luithlen: Ischai. rhein-wörtlich 2012  externer Link

Sibylle Luithlen   September 2012   

 

 
Sibylle Luithlen
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