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Sprung

Es ist schon so, dass ich der einzige Fallschirmspringer über dem Fluss bin und sich die Sekunden dehnen, obwohl es um meine Ohren rauscht. Die metallische Mainschleife da weit unter mir teilt die Stadt in zwei Hälften. Die Altstadt angehäufelt an den Odenwald, die Neustadt wuchert in die Ausläufer des Spessarts. Da ist das Gymnasium zu erkennen, dort unterrichtete der Vater. Deutsch, Englisch und Geschichte. Da ist das Kloster, dessen Bier sehr dunkel und klebrig und stark ist. Eine Labsal, wenn du ein Glas trinkst, aber eine beschämende Hilfe, wenn du so den dumpfen Schlaf suchst, der dir noch übrig bleibt.

Das Rauschen des Fallwindes hält deine Nerven gespannt. Der Fallschirm öffnet sich erst beim zweiten Reißen an der Leine mit einem Ruck und steift dir den Rücken. Du sinkst dann wie eine pendelnde Marionette nach unten. Und schon ist der Vorplatz der sandsteinroten Kirche zu erkennen. Der Aufprall könnte hart sein, aber du fürchtest ihn nicht. Du bist routiniert, du weißt das Tempo zu drosseln und du kannst mit einer tänzelnden Bewegung federnd den Boden berühren, ohne dass du hinschlägst.

Außerdem, da gibt es eine Gasse hinter der Kirche. Sie führt zu einem runden Turm. Es ist nicht so, dass dieser Turm immer zu finden ist. Nein, manchmal wendest du dein Gesicht verzweifelt nach links und nach rechts. Die Fachwerkhäuser scheinen dir vertraut, aber der Turm bleibt verborgen. Suchst du dann - durch die Gasse schreitend - weiter, stehst du plötzlich in einer kotigen Straße, welche die Gasse quert. Kein Asphalt, kein Kopfsteinpflaster. Lehmiger Boden, an manchen Stellen Sand. Dort haben die Mainfischer schon vor hundert Jahren ihre stinkenden Netze im Wind aufgehängt. Und Wagenräder haben ihre Spuren eingedrückt, Schleifspuren in brackigem Lehm, kleine Wasserpfützen, darin kleine Leben.

Also ist es ein großes Glück, wenn du ihn gefunden hast. Ein Turm mit einem Durchmesser von etwa sieben Metern, gemauert aus rotem Sandstein, im ersten Stock ein Cafe. Darin eine Anrichte, ein Servierraum. Darunter im Erdgeschoss drei Fenster mit Vorhängen, wohl eine Wohnung, ganz oben ein Glasdach. Zwei Damen bemuttern dich dort im Cafe, wenn du dich auf den grünen Plüschsessel gesetzt hast bei dem Tisch nahe dem Regal. Ein runder Raum, fensterlos, trotzdem lichterfüllt. Manchmal bist du der einzige Gast. Sie haben dich nicht erwartet, aber sie wissen, wann du kommst. Das gibt Sicherheit. Ein Raum für sich.

Du blickst nach oben. Das Glasdach, zusammengesetzt aus acht Teilen, eingefasst in Eisenstreben, sanftes Licht. Du siehst durch die Scheiben den Himmel über dir. Manchmal ein langsam fliegendes Flugzeug. Sehr weit oben. Die alten Damen servieren dampfende Schokolade in weißen Tassen, eine Nougattorte auf weißem Teller, ihre Gesichter sind rosig, sanfte Gesten, der blaue Teppich dämpft ihre Schritte. Draußen die Stadt ist nur zu ahnen.

Links ein Tisch mit Grammophon, dahinter Schelllackplatten in einem Drahtgitter aufgestellt. In dem Regal Illustrierte aus den Jahren 1910 bis 1920. Du stehst auf, wohlig durchsuchst du den Stapel. Im Regal ganz oben stehen fünf große Bände: "Die Gartenlaube", gebunden in grünem Kaliko. Du findest darin einen Fortsetzungsroman von Theodor Fontane. Da gehörst du hin, denkst du, hierher sehnst du dich, seit du das Cafe zum ersten Mal betratest. Die Damen, der warme, gefüllte Bauch, der Schokoladegeschmack im Mund, die satte Süße, die wohlige Ermattung. Ach, schon immer hast du das gewollt.

Jetzt eine Arbeit der beschaulichen Art. Vor dir die Lektüre, du hast die Ellbogen aufgestützt, Fontane auf großen Blättern im Spaltendruck. Die alten Damen bringen dir Schreibpapier. Du machst Dir Notizen, skizzierst etwas, schreibst ein paar Zeilen. Bruchstücke eines Gedichtes. Du hörst die Musen singen. Passagen einer Erzählung. Du trägst ja einiges mit dir herum, in deinem Kopf.

Allerdings geht es an solchen Tagen nicht immer gut. Nicht nur, dass du die Gasse zwar findest, nicht aber den Turm. Nein schlimmer. Manchmal springst Du aus dem Flugzeug ab, der Fallschirm öffnet sich eben auch beim zweiten Ziehen an der Reißleine nicht und das Glasdach wird immer größer. Du durchbrichst es, ein Splittern um dich, dann ein dumpfer Laut, wenn dein Körper auf den Teppich schlägt.

Allerdings ist das nicht das Ende. Die rundliche Dame mustert die Bescherung auf dem Teppich. Sie schnippst mit den Fingern, der Film läuft plötzlich rückwärts, es zieht, es saugt dich nach oben, das Glasdach setzt sich unter dir wieder zusammen, bis du dich - Stopp! - an deinem Ausgangspunkt befindest.

Du stehst also oben in der Luke des Flugzeugausstiegs und blickst nach unten. Der Turm ist diesmal gut erkennbar. Das Glasdach des Cafes ist so intakt. Du fühlst nach dem Fallschirm auf deinem Rücken, denn du bist bereit zum Absprung.



Willi Wamser
Lyrik
Prosa