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Werner Rohner

Lektionen im Größenwahn

(Gesammelte Vorurteile II oder
Was man wissen sollte, bevor man schreiben lernt)

Gott spielen

Wichtig ist, alles, was man nicht selbst geschrieben hat, scheiße zu finden. Das ist nicht immer einfach, vor allem in jungen Jahren schart man gern ein paar Götter um sich; doch wozu Götter, wenn man das Leben hat. Aber auch heute noch, wenn es sich nicht vermeiden lässt und ich ein Buch lese (dazu später mehr), trifft es mich manchmal wie – trifft es mich, so verdammt gut ist es. Doch das geht vorbei, da muss man durch, bis man auch in diesem Buch etwas entdeckt, das scheiße ist. Kann man trotz noch so unfairer Lesarten nichts finden, bleibt es trotz anhaltender Voreingenommenheit immer noch perfekt, in sich geschlossen wahr, muss man ihm genau diese Perfektion zum Vorwurf machen: Dann ist es einfach zu perfekt! Natürlich wird das eigene Schreiben davon meist nicht besser. Oft erkennt man darin gar die eigenen Ansätze wieder, nur ausgereifter, weiter gedacht, bis ins letzte Detail ausgearbeitet. Es gilt dann herauszufinden, warum das Eigene doch anders ist, wie es noch mehr anders werden könnte, und weshalb man doch der Beste ist; oder sagen wir: das Potenzial dazu hat.

Einmal, auf einer nicht ganz legalen Substanz, habe ich sogar geglaubt, ich sei Jesus. Ich fand das sehr romantisch, und vielleicht ginge es der Welt besser, wenn mehr Menschen glauben würden, sie seien Jesus. Andererseits, gäbe es wirklich mehrere Jesus (im Zeitalter des Klonens und der großen Anzahl gut erhaltener Jesushaare ist das gar nicht so unwahrscheinlich), so wäre es nicht auszuschließen, dass sie sich bloß gegenseitig taub predigen, die Schuld aus den Schuhen schieben oder gar bekriegen würden, wie man das von anderen Größenwahnsinnigen kennt. Aber genau um diesen Größenwahn geht es: Er ist unabdingbar fürs Schreiben. Man muss sich schon selbst Flügel verleihen, wenn man fliegen will. (Und wenn sie gegen innen wachsen, legt man sich einfach auf die Erdstrahlung, denn auch die trägt – das habe ich letzthin geträumt – und man muss nicht mehr albern mit den Armen flattern.) Den einen oder anderen Absturz wird man zwar nicht überleben (zum Beispiel, wenn man plötzlich nicht mehr unterscheiden kann zwischen dem Geschriebenen und der Erinnerung; oder wenn man Jahre an einem Manuskript arbeitet, um es am Ende nicht einmal mehr gut genug für die Schublade zu finden), aber für Kinder Gottes sollte das mit der Auferstehung kein allzu großes Problem darstellen. (Und es ist ja kein Geheimnis, dass Gott die Welt nach Jesus' Tod den Schriftstellern überlassen hat, seinen eigentlichen Söhnen und Töchtern.) Und auch Jesus ist doch nur so bekannt, weil er sich nach der Krise am Kreuz wieder aufgerappelt hat. Weil er glaubte, es würde ihm sein Leiden erleichtern, wenn er es teilen, mitteilen könnte, damit die Menschen begreifen, wie schwer er wirklich trägt; er war einfach sehr einsam. Einsamkeit und Größenwahn. Und vielleicht noch die Welt (mit der eigenen Erfindung) verändern wollen und glauben, man richte damit nicht nur Schaden an. Das sind nicht die schlechtesten Voraussetzungen zum Schreiben. Wenn man sich nicht selbst zum Gott erklärt, tut es niemand.

Immer aufhören

Alle, die einmal zu schreiben begonnen und vielleicht noch ein Büchlein herausgebracht haben, schreiben weiter. Natürlich, es hält einen auf eine angenehme Art vom Denken ab (oder verlangsamt es zumindest) und manchmal auch von anderen Drogen. Trotzdem sollte man sich von Zeit zu Zeit fragen, ob man nicht besser Schluss machen würde. Es ist wie mit einer guten Beziehung (deren Wesen, genau wie das des Schreibens, die Langeweile ist): Wer sich nicht ab und zu fragt, ob es jetzt nicht reicht, der gibt sich keine Mühe mehr. Und Schreiben ist immer Mühe, Schreiben ist immer Überwindung. Kein Satz, nicht der kürzeste, schreibt sich von alleine (und immer macht ein Satz allein keinen Sinn, ist aber gleichzeitig der einzige, der erste, den man denken kann). Da hilft auch die Eingebung nicht weiter (sogar als Gott muss man Inhalt und Form selbst erfinden), sie reicht selten über ein paar Zeilen hinaus, oft verflüchtigt sie sich schon beim Versuch, sie in Worte zu fassen. Das Schreiben hilft nicht einmal Dinge zu verarbeiten; es hält einen höchstens davon ab, über die Dinge wirklich nachzudenken. Bestenfalls hat dieses dumpfe Gefühl der Besinnungs- oder Gefühllosigkeit durch das Schreiben noch etwas länger Bestand, aber irgendwann hilft auch das Schreiben nicht mehr: Mehr als Aufschub leistet es nie. Wenn man nicht gerade unglücklich ist, macht es nicht einmal glücklicher. Nein, nicht alle sollten deshalb gleich aufhören zu schreiben, aber alle sollten es wenigstens von Zeit zu Zeit in Erwägung ziehen. Schreiben ist nicht wie Atmen, man kann ganz gut ohne Schreiben leben, die meisten tun es.

Bekanntes erfinden

Wie die meisten Kinder in der Deutschschweiz habe auch ich jeweils lernä und lehrä verwechselt. Und genauso wird Schreiben können oft mit Lesen verwechselt. Doch wer gerne liest, soll Lektor, nützliches Mitglied irgendeiner Gesellschaft, allenfalls Leserbriefschreiber werden. Auch Wortverliebte sollen statt zu schreiben lieber Lexika betreuen, sie nehmen die Wörter zu ernst. Wörter sind immer ungenau, oft braucht man Tausende davon, um ein einziges Gefühl zu beschreiben, beziehungsweise ist es beinahe so, je weniger Gefühle man aufs Mal beschreiben will, je isolierter man ein Gefühl vermitteln will, desto mehr Worte benötigt man dazu. (Nicht einfache wie Liebe oder Hass, aber solche, für die es noch gar keinen Namen gibt und die seltener vorkommen, sowohl beim Einzelnen, als auch bei den Menschen überhaupt. Selbst etwas so Einfaches wie Mundgeruch ist mit einem einzigen Wort nicht spürbar zu machen, es referiert bloss auf Erfahrungen des Lesers, anstatt neue zu erzeugen.) Und doch ist jedes einzelne Wort wichtig und nicht beliebig, aber einzeln – losgelöst von den anderen – bedeutungslos. Doch egal, wie viele Wörter man bemüht: Schreiben und Sprechen heißt immer lügen. Möglich, dass der Zweck die Mittel heiligt. Aber nur aus einem Grund, dass es nämlich genau diese Mittel sind, die am besten, vielleicht sogar als einzige, den Zweck erfüllen können.

Wenn man trotzdem liest, sollte man wenigstens darauf achten, dass man nicht liest, um daraus zu lernen. Lesen, um daraus zu lernen, ist wie Abschreiben in der Schule: Es ist zwar der beste Weg, gute Noten zu bekommen, vor allem, wenn man beim Klassenprimus abschreibt und sich nur dann etwas Eigenes traut, wenn man ganz sicher ist, dass der sich irrt. Aber, wie schon mein Klassenlehrer immer gesagt hat: Man betrügt sich damit nur selbst. Klar, die Chancen stehen gut, dass man lobende Kritiken dafür einheimst (viele sogar, weil ja auch Kritiker gern von Kritikern abschreiben und weil die Leser, wie die Lehrer, es nicht merken); aber es ist unbefriedigend. Und wenn man es dennoch einmal nicht lassen kann, soll man es machen wie Kinder, die fremdsprachige Popmusik hören: nie auf den Text achten, einfach nur die Melodie mitsummen und eigene Wörter dazu erfinden.

Mittelmass leben

Manche sagen: Du musst erst leben, bevor Du schreiben kannst. (Was haben die bitteschön gemacht, als sie jung waren? Gelesen?) Ich sage: Abstand ist nichts, Jetzt ist alles. Und doch denke auch ich manchmal: Es ist noch viel zu früh für dieses eine bestimmte Buch. Es könnte ein großes werden, aber noch bin ich nicht gut genug. Und vor allem: Vielleicht werde ich noch erleben, worüber ich schreiben will, und das würde es vereinfachen, aber auch zu einem anderen Buch machen.

Es hat aber auch Vorteile, wenn man statt des gelebten Lebens das ungelebte fürs Schreiben nutzt. Es hindert einen daran, die eigenen Fantasien auszuleben. Nichts ist schlimmer als ausgelebte Fantasien, die womöglich auch noch schöner sind, aber eben – im Gegensatz zu den Fantasien – vorübergehen. Außerdem, wo kann man sich schon für jede Person ein eigenes Lachen aussuchen und für sich selbst ein neues Leben, immer wieder. Man sollte ein bisschen Phantasie allerdings auch nicht gleich mit dem Leben für das Schreiben verwechseln, denn das ist ebenfalls ein Irrtum. Und funktioniert nicht einmal dann, wenn man es wollte (außerdem verstehe ich gar nicht, wie man das Leben für irgendwas anderes hergeben will, außer für den Tod). Nicht weil man dann nichts erleben würde, sondern weil man immer schon während des Erlebens filtert, sogar die Fantasien, und das macht das Ganze sehr eintönig. Filtern darf man erst während des Schreibens, manchmal auch erst bei der zweiten Fassung, da muss man sogar. (Aus demselben Grund sollte man sein Schreiben nie zu früh jemandem zum Lesen geben, sonst kann es sein, dass die Richtung allein schon durch das Zeigen zu sehr vorgegeben wird.) Und doch hilft es nichts, sich für das eine oder andere zu entscheiden, denn mit dem Schreiben und dem Leben ist es wie mit dem Regen und dem Himmel. Man sieht den Regen im Himmel nur, wenn es einen Hintergrund gibt, der nicht nur aus Himmel besteht.

Gott verbessern

Im Spitzensport wird schon lange davon gesprochen, dass es nicht möglich ist, mehr zu trainieren; es geht nur noch darum, wer zwischen dem Training besser regenerieren kann. Doch wieso überhaupt trainieren, wenn ich davon ausgehe, dass ein Text immer schon vollendet ist, so wie die Welt von Anfang an vollendet war und sich dennoch immer verändert. Diesen Widerspruch gilt es zu verfeinern, abzurunden, ihm schlussendlich zu widersprechen. Ausserdem gilt es den Leser glauben zu machen, es gäbe einen nicht (weil jeder Autor, der mehr als fiktiv ist, stört). Und als wenn das nicht schon genug Arbeit wäre, kommt noch das Geldverdienen hinzu (oder eben meistens das Kein-Geld-Verdienen), und deshalb auch noch ein Brotjob, dazu das „Nur-Leben“ und andere Störfaktoren (die nie Ausrede sein dürfen). Doch nicht nur kann man als Schreibender das mit der Ruhe am siebten Tag gleich vergessen, man ist auch beim Schreiben selbst nie ungestört, immer schauen einem die Götter – die von früher und die heimlichen, die man erst gestern wider besseren Wissens neu erkoren hat – beim Schreiben über die Schulter. Einer besser als der andere und einer weiß es besser als der andere, sie können nicht still sein. Immer wieder rufen sie Dinge wie klischiert, pubertär, eitel, gestelzt, keine Musik, dumm und langweilig, Arschloch! rein. Fallen sich gegenseitig ins Wort, bezichtigen sich auch mal des Plagiats, streiten gar über Fußball; das Einzige, worin sie sich einig sind, ist, dass der Text, den man gerade schreibt, scheiße ist.

Ich weiß zwar nun, sie sind bloß voreingenommen, erkennen ihre eigenen, veralteten Versuche in meinem Text wieder, nur weiter gedacht, in sich geschlossen wahr, perfekt. Dennoch lese ich alles noch einmal und noch einmal durch, schlage ähnliche Texte nach, überprüfe meinen auf Fantasie, auf das Leben und das Unmögliche; verwerfe alles wieder, mache es anders, noch mehr anders, denn wenn ich schon weiter schreibe, will ich es gefälligst besser machen als die Götter, das eitle Pack.

 

Werner Rohner   05.09.2007   

Werner Rohner
Prosa