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Ursula Kirchenmayer
Jactatio


Das Kind steht in seinem Bett, die kleinen Hände hat es fest um das Gitter gekrallt. Ein Speichelfaden rinnt ihm das Kinn herab, die Windel hängt schwer zwischen seinen Beinen. Das Kind schaut und wartet. Das Kind stinkt.

Die Mutter wendet sich ab von ihrem Kind. Sie geht hinaus auf den Hof, barfuss, schnellen Schrittes scheucht sie zwei Hühner bei­seite. Sie öffnet das Tor. Drau­ßen, auf der Straße, zündet sie sich eine Ziga­rette an. Hinter sich hört sie den Hund kommen. Er hechelt. Er winselt leise. Die Mutter dreht sich herum und geht in die Knie. Der Hund winselt wieder und wedelt mit dem Schwanz. Mein Schöner, sagt die Mutter und klemmt sich die Kippe zwischen die Lippen, damit sie dem Hund mit beiden Händen durchs Fell fahren kann. Mein Schöner, sagt sie, lass ich dich alleine. Ist das Kind wichtiger jetzt. Sie verpasst dem Hund einen Kuss aufs Fell, genau auf den weißen Fleck zwischen den Ohren, dann richtet sie sich auf. Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht und greift mit der linken Hand nach der Zigarette. Sie raucht immer mit der linken Hand. Armer Hund, flüstert sie.

Im Haus gegenüber öffnet sich ein Fenster. Das fleischige Gesicht der Nach­bars­frau glüht rot. Sie hebt eine Faust und fuchtelt damit in der Luft. Lässt du dein Kind wieder alleine, ruft sie. Meine Schwes­ter kümmert sich drum, ruft die Mutter und zieht an der Zigarette. Lüg nicht, ruft die Nach­barin, deine Schwester arbeitet, das weiß ich genau. Die Mutter raucht und schweigt. Deine Schwester ist klug und fleißig, schreit die Nachbarin, aber du taugst zu nichts. Die Mutter raucht. Das Kind schläft, sagt sie, lass du mein Kind in Ruhe. Hinter ihr hechelt der Hund. Verschwinde, zischt die Mutter und versetzt dem Hund einen Tritt in den Bauch. Der Hund winselt, aber er ver­schwindet nicht. Quälst den Köter und setzt diese Brut in die Welt, ruft die Nach­barin, zu nichts bist du gut.

In Deutschland, sagt die Mutter leise, wartet ein Vater auf das Kind, auf uns beide wartet er dort. Die Nachbarsfrau schweigt. In Deutschland, sagt die Mutter noch einmal. Sie sagt es leise, aber fest. Es klingt wie ein Mantra. Lüg nicht, ruft die Nachbarin, du lügst doch wieder. Wir wissen alle, dass du lügst.

Es dämmert schon, als die Schwester der Mutter aus der Arbeit kommt. Das Kind steht im halbdunklen Zimmer alleine in seinem Bettchen und schaut der Schwester entgegen. Es lacht, als es die Schwester erkennt. Die Windel hängt immer noch schwer zwischen den Beinen des Kindes, das Kinn ist speichelnass. Elsa, ruft die Schwester laut. Die Mutter antwortet nicht. Elsa, ruft die Schwester.

Die Schwester schlägt mit der flachen Hand gegen die Wand und flucht. Sie greift nach dem Kind, mit schnellen Bewegungen zieht sie es aus. Die Windel ist nass und stinkt. Die Schwester packt die Windel mit spitzen Fingern und trägt sie hinaus in den Hof. Innen quengelt das Kind leise. Die Schwester wischt das Kinn des Kindes trocken, dann mit dem gleichen Tuch den wunden Po. Sie sucht nach der blauen Niveacreme aus Deutschland. Sie findet sie nicht. Das Kind verstummt und schaut, es weint nicht mehr. Die Schwester schüttelt das Kind, aber das Kind schaut nur stumm, es verzieht kaum den Mund ein bisschen. Gleich wird es wieder quengeln. Elsa, ruft die Schwester noch einmal.

Die Mutter sitzt mit aufgestützten Armen am Küchentisch. Ihre Augen sind rot und klein. Hast du wieder geweint, sagt die Schwester. Die Mutter schweigt und legt den Kopf zwischen die Arme auf den Tisch. Ihr Haar breitet sich fächer­artig auf dem ge­blümten Wachstuch aus. Du hättest ruhig kochen können, sagt die Schwester, alles bleibt an mir hängen. Die Schwes­ter schweigt. Und dein Kind steht dort draußen allein in seinem Bett und wartet, sagt die Schwester. Die Mutter rührt sich nicht. Auf dem Küchentisch zweigen sich die schwarzen Haarbüschel der Mutter. Die Schwester zupft eine schwarze Mutter­strähne vom Tisch. Schnell zieht sie die Hand zurück. Dein Haar ist so schwarz wie das von Vati war, sagt sie leise. Die Mutter atmet laut. Die Schwester wendet sich ab und geht ans Fenster. Die Nach­bars­frau von gegenüber gießt den Wein. Elsa, sagt die Schwester, nimm dein Haar vom Tisch, hier wird gegessen.

Die Schwester putzt die Möhren schnell und geschickt. Die Mutter steht am Fenster und schaut der Nachbarsfrau beim Gießen zu. Die Nachbars­frau reckt die Faust im Zorn.

Ich hab heute mit ihm telefoniert, sagt die Mutter.

Die Schwester putzt die Möhren. Sie sagt: es ist an der Zeit, dass er uns wieder ein Paket von dort schickt, vorher will ich nichts hören von ihm - die Niveacreme ist auch wieder alle. Die Mutter lehnt ihre Stirn ans Fenster­glas und schließt die Augen. Mach dich nützlich, sagt hinter ihr die Schwester, bring mir die Zwiebeln, ich kann nicht alles alleine machen. Die Mutter öffnet die Augen. Die Nach­bars­frau steht im Garten und hat die Arme in die Hüften gestemmt. Die Mutter sagt: Ich hab zu ihm gesagt, er soll mich in einem Auto holen kommen, in einem roten Westauto soll er kommen. Das kann doch nicht so schwer sein, hab ich zu ihm gesagt: ein Auto kaufen. Wo es doch alles gibt dort drüben, wie soll er da nicht ein Anrecht auf das eigene Auto haben. Die Mutter schweigt. Die Schwester legt die sauberen Möhren auf ein Brett und holt das große Messer aus der Schublade. Ich höre, sagt sie.

Er ist böse geworden, sagt die Mutter, ganz laut ist er geworden. Er hat gesagt, ich stell mir alles so einfach vor. Naiv bin ich, hat er gesagt, weil ich Deutsch­land für das Paradies halte, aber in Wahrheit ist es die Hölle. Und dann hat er aufgelegt. Einfach so. Kannst du das glauben.

Die Schwester schneidet die Möhren in zentimeter­dünne Schei­ben. Keine Scheibe darf breiter sein als der Zeige­finger der Schwester. Die Schwes­ter arbeitet schnell und genau. Drüben, im Zimmer, schaukelt das Kind sich alleine in den Schlaf. Es wirft seinen Rücken an die Gitterstäbe, bis es müde wird. Tock, sagt es bei jedem Aufprall: tock.

Beeil dich, sagt die Schwester, gleich kommt der Hansi von der Arbeit und nichts ist geschafft. Die Mutter steht am Fenster und beobachtet, wie die Nach­bars­frau mehr Regen­wasser aus der Tonne pumpt. Das weiße Fleisch ihrer Oberarme zittert bei jedem Zug wie die Götter­speise aus Deutschland, die der Vater des Kindes mitgebracht hat, als er vor drei Monaten das einzige Mal auf Besuch war, seit er auf der anderen Seite der Grenze lebt.

Sie haben mich nicht reingelassen, hat der Vater des Kindes gesagt, sonst wäre ich schon früher gekommen. Ein Jahr lang musst du draußen gewesen sein, hat er gesagt, erst dann lassen sie dich wieder rein. Die Mutter hat einen Löffel aus der Schub­lade genommen und den Aluminium­deckel vorsichtig vom Plastikbecher gelöst. Götter­speise, stand in grüner Schrift darauf geschrieben. Sie hat den Löffel in die glatte Gelatine­decke gebohrt und sich das glibberige Zeug in den Mund geschoben. Götter­speise. Einen Löffel für mich und einen für das Kind. Groß ist es geworden, hat der Vater gesagt, aber es sieht gar nicht aus wie ich. Es hat deine Augen, deine Haare und deine Haut, hat die Mutter gesagt, siehst du das nicht. Einen Löffel für mich und einen für das Kind. Das nächste Mal heiraten wir, hat der Vater des Kindes gesagt, dann habe ich alle meine Papiere fertig. Versprochen. Götterspeise, denkt die Mutter, Götterspeise für das Kind, bis es weint. Das Kind weint sonst nie. Jetzt weint es. Nächsten Sommer heiraten wir, hat der Vater des Kindes gesagt.

Die Schwester enthäutet mit dem großen Messer eine Zwiebel. Sie hackt sie grob, aber geschickt. Hol die Kartof­feln, sagt sie, wenn du schon nichts anderes kannst. Die Mutter steht am Fenster und denkt an das weinende Kind, und dass sie seit über drei Monaten ihre Regel nicht bekommen hat. Sie denkt an die ausgebliebene Regel, während ihre Schwester den Herd anzündet und in einem Topf ein Stück Butter schmelzen lässt. Die Schwester wirft die Zwiebeln ins Fett. Der Hansi kommt gleich, sagt sie und drückt der Mutter den Kochlöffel in die Hand. Sag es doch, sagt die Mutter, wieso machst du auch immer alles allein.

Sie essen schweigend. Der Hansi sitzt gebeugt über seinem Teller und schlürft. Eine Nudel hängt auf seinem Kinn. Drüben im Zimmer ist das Kind wieder aufgewacht. Sie hören ge­dämpft den regelmäßigen Aufprall des Kinder­rückens an den Gitter­stäben. Der Hansi streicht der Schwester mit einer Hand über den Ober­schenkel. Heute Nacht, sagt er, will ich keinen Mucks hören von dem Bastard. Er spuckt einen Knochen in seine Ser­viette und schielt der Mutter in den Ausschnitt. Dann isst er wieder und schnauft. Keinen Mucks, sagt er. Die Schwester öffnet den Mund. Du halt's Maul, sagt der Hansi und ver­dreht die Augen: Wo kommt man nur hin mit diesen Weibern, die eine ist trächtig wie eine Henne, und die andere kann nicht, die taugt einfach nichts. Die Schwester schaut auf ihren Teller und schweigt.

Erst später, als sie schon den letzten Topf abtrocknet und der Hansi lange nicht mehr in der Küche ist, sagt die Schwester leise: ich hab mich schuldig gemacht. Sie hängt das Geschirrtuch über den Stuhl und hält sich einen kurzen Moment an der Lehne fest, ehe sie sich abwendet und ans Fenster tritt. Die Nach­bars­frau ist nirgends zu sehen.

Als der Vati gestorben war, sagt die Schwester, und wir das Haus räumen mussten, da hab ich einen Fehler gemacht. Die Mutter steht still und horcht. Ich wusste, dass du schwan­ger warst, sagt die Schwester, ich hab das doch gesehen, jeder hat gesehen, dass du schwanger warst. Die Nachbarn haben geredet. Alle wussten es schon, nur du hast den Mund nicht aufgemacht. Ich war wütend.

In der Küche wird es still. Bloß das Kind ist von drüben zu hören, sein rhyth­misches Schaukeln, das leise tock tock.

Die schwersten Möbel, sagt die Schwester, hab ich dir beim Auszug hingestellt, die Werk­zeuge, die Bücher­kisten, den großen Koffer vom Dach. Ich hab die Woll­körbe getragen, den Besen, die Feder­betten, und du das alte Bügel­eisen, die Kiste voller Geschirr, ganz alleine den Tisch. Und du hast alles ge­nommen, obwohl du geschwitzt hast und gelitten, ich hab es ja gesehen. Aber den Mund hast du trotzdem nicht auf­gemacht. Ein Wunder, sagt die Schwester und ihre Stimme bricht: ein Wunder, dass du das Kind nicht verloren hast.

Das Kinn der Mutter zittert leicht. Mit einer Hand hält sie sich am Tür­rahmen fest, um nicht zu schwanken. Die Mutter sieht schmal und müde aus, wie sie da unter der Tür steht und zittert. Das schwarze Haar liegt wirr um ihren Kopf. Sie fährt herum und geht. Die Schwester wendet sich nicht zur Tür, in der jetzt niemand mehr steht. Sie bleibt am Fenster und schaut in den Garten, der wie ein schwarzes Viereck in den Nacht­himmel geritzt ist. Im Haus der Nachbarsfrau sind alle Lichter schon gelöscht. Die Schwester hört das Schaukeln des Kindes jetzt nicht mehr.

Die Mutter läuft an ihrem Kind vorbei hinaus in den Hof. Hinter sich hört sie den Hund leise hecheln. Sie geht neben dem Hund in die Knie und krault ihm lange das Fell. Armer Hund, sagt sie, du armer, armer Hund.
Ursula Kirchenmayer   21.05.2014   

 

 
Ursula Kirchenmayer
Prosa