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Ulrich Koch
Von Dank. Keine Rede


  Hugo-Ball-Preis 2011


Auch der liebe Gott ist zugegen.
Er trägt ein hellblaues Matrosenhemd
mit Spitzenkragen und gilt für einen Neutöner.

Hugo Ball, Der betende Hund

„Manchmal bin ich so glücklich, daß ich das Schlimmste befürchte.“
„Weißt du, was wir vergessen haben? Wir haben vergessen, was unser Geheimnis ist. Jetzt weiß es jeder.“
„Ich vertrage die Vergänglichkeit schlecht.“
Beizeiten so schlecht, dass ich den Glauben verliere und zu hoffen beginne. Dann schreibe ich Sätze wie:
„Früher habe ich immer geglaubt, gerettet zu werden, heute hoffe ich, verschont zu bleiben.“


Meine Damen und Herren, „wenn man das Unglück hat, in der Pfalz geboren zu werden, dann muss man immer im Wald herumlaufen, das ist die einzige Rettung“, so schrieb Hugo Ball in einem seiner Briefe. Liebe Pfälzer, verehrte Preisstifter, liebe Jury, geschätz­ter Michael Braun, verehrte Frau Faul, glauben Sie nicht, dass die Tatsache, dass ich heute hier vor Ihnen und nicht vor Bäumen stehe, um Ihnen meinen tief empfun­denen Dank auszusprechen, im Umkehr­schluss bedeutet, dass ich kein Pfälzer bin. Die Pfalz im Sinne Hugo Balls nämlich ist – allgegenwärtig. Meine Pfalz hieß Winsener Marsch, ein Landstrich unter einem, wenn es das gäbe, noch leereren Himmel als dem über Ost­fries­land, bei Nordwind rochen wir die Elbe, bei Südwind hörten wir den Ge­schütz­donner von den Trup­pen­übungs­plätzen der Heide, und im Zentrum der Vater­stadt Ecker­manns, die auch meine ist, Winsen an der Luhe, gedenkt eben diese ihres berühm­testen Sohnes seit dem hundertsten Jubiläum seines Todes­tages, den Ecker­mann einsam und verarmt und um­geben von seinen ge­liebten Vögeln, viel­leicht vier­zig an der Zahl, in Weimar erlebte, dauer­haft mit einem Denkmal in Form eines Schorn­steines aus landes­üblichen Back­steinen, dessen manns­hohen Ab­schluss ein qua­dratischer Beton­deckel bildet. Allein dieser Anblick ist Grund genug, die Juroren anderer Preise vorsorglich um Nach­sicht bei ihrer Ent­scheidung zu bitten. Aber auch dann wäre der nächste Wald ja nicht fern.

Aber lassen wir das. Sprechen wir lieber kurz über das Gedicht, genauer gesagt über das, was, es zu verfassen, wenn doch nicht ganz unmöglich, doch so schmerzhaft macht. Nennen wir es ruhig auch „dieses halbwegs Pathologische“, wie es Hugo von Hofmannsthal im September 1902 in einem Brief an die Gräfin Thun-Salm getan hat, „dieses halbwegs Pathologische“, das aber doch an einem Ort wie dem Gedicht eher der Regelfall ist, denn, so von Hofmannsthal weiter, „welches Geistige, welches Gestei­gerte, welches Phäno­men der Seele überhaupt wäre nicht pathologisch, vom König Lear, ja von den Evan­gelien angefangen […]“.
  Oft werde ich auf einer meiner täglichen Pendler­fahrten Ohren­zeuge von Ge­sprächen, und oft sind es Gespräche unter Schülern, denn für die erste Etappe der Reise nehme ich den Über­landbus, der bei uns zugleich auch der Schulbus ist, der alles, vom Erst­klässler über den Berufs­schüler bis zum Abitu­rienten, in die Lern­anstalten der Stadt bringt. Vor kurzem waren es zwei Berufs­schüler, angehende Hand­werker, die sich die Fahrt mit einem Gespräch darüber verkürzten, welcher Schmerz wohl der bislang Schlimms­te gewesen sei; auf den Zahn­schmerz wird der Ohren­schmerz gesetzt, der Schlag auf den Daumen gegen das Foul ausgespielt, der Kater vom Saufen durch den Kopfschmerz nach der Schlägerei übertrumpft usw. usf. Es fehlt aber: Der Liebes­kummer. Es fehlen: Das Heimweh, der Ab­schieds­schmerz und der Schmerz um die Schmerzen der anderen. Es fehlt auch: Die Trauer um den Hund, mit dem man auf­gewachsen ist. Es fehlen ihnen zum Glück so viele Schmerzen. Und es fehlt ihnen: Der unaus­sprech­liche Schmerz.
  Denn der größte Schmerz ist die Sprache. Um ihn zu beschreiben, müssten wir hinter den Spiegel schauen können. So bleibt uns keine andere Wahl, als ihn zu umreißen. Schauen wir einem Hund dabei zu, wie er aus einem Napf Wasser trinkt, und wir erkennen nichts als eben dieses: er trinkt Wasser. Selbst dann aber, wenn wir uns vergäßen (wie man so schön sagt), im Rausch, in der Verrückt­heit oder in einem anderen Zustand (Verliebt­heit), in welchem wir einmal nicht mit dem Vogel­futter in der Akten­tasche unterm Arm pfeifend durch die Welt laufen, und wir uns auf allen Vieren daran machten, es dem Hund gleich zu tun: wir tränken nicht Wasser, wir leckten nur an unserem Spiegelbild. Denn die Sprache ist ein unstillbarer Durst. Noch jedes Mal, wenn er gelöscht scheint, be­ginnt der Brand, den er selbst entfacht, von vorn. Aber ist es nicht das, was das Gedicht macht? Ist das nicht der Grund dafür, dass uns ein leichter Schwindel erfasst, so­bald sie sich nach innen wendet? Schon dreht sich die Welt im Kreis, und wir halten uns an unsren Mähnen fest.

Mein Schreiben ist meinem Berufsleben abgenötigt, das ich damit erpresse, alles aus­zupacken, was ich nicht mehr von mir weiß. Morgens schlafe ich in der Bahn. Am Mittag stehe ich am Bürofenster und sehe den Meisen zu. Abends sitze ich in der Bahn und denke so wie jemand mit Tourette-Syndrom spricht. Und dann fällt mir wieder ein, wie der Schmerz anfing, Lenz in Büchners gleichnamiger Erzählung „das Bewußtsein wieder­zugeben“, und an seine Versuche, „sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz“.
  „Der echte Schmerz begeistert“, legt Hölderlin Hyperion in den Mund.
  Und keinen schöneren Satz kenne ich als diesen: Ihm fiel das Sprechen schwer.

Sie denken, das ist nicht neu?
  Was aber, wenn es denn so empfunden ist? Ist es dann nicht erst recht wahr? Und damit immer neu?
Wie gerne sagte ich mich los von der Sprache.
Wie gerne spräche ich mich von ihr frei.

Meine Damen und Herren, ich kann nicht sagen, dass ich weiß, dass ich nichts weiß, das wäre vermessen. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich wenig weiß, und der Kern dieses Wenigen ist die Gewissheit, dass mich das Schreiben begeistert. Ich kann Ihnen dieses Geständnis nicht ersparen. Zu schreiben hat nichts Befreiendes für mich. Ich krümme mich unter den Strichen des Bleistifts. Ich ducke mich weg unter den heraufziehenden Bildern. Ich verstopfe meine Ohren, wenn der Chor meiner verlorenen Kindheit unterm Fenster steht. Und doch. Das Dichten ist ja auch ein Danken, so Hölderlin. Und trotzdem. Und mir fällt das Sprechen schwer.

Und all das ist alt. Und es ist immer neu. Ein Echo.

Der Satz „Die unendlich komplexen Lügen der Zeit, die dumpfen Lügen der Tradition, die Lügen der Ämter, die Lügen der einzelnen, die Lügen der Wissen­schaften, alles das sitzt wie Myriaden tödlicher Fliegen auf unserem armen Leben“, den Hugo von Hof­manns­thal 21-jährig schrieb, war ja auch schon nur ein Echo auf die „Unheil­barkeit des Jahr­hun­derts“, die schon hundert Jahre zuvor ausge­brochen war, denn, so Höl­derlin-Hype­rion, „die Fliegen abzuwehren, das ist künftig unsre Arbeit und zu nagen an den Dingen der Welt, wie Kinder an der dürren Feigen­wurzel, das ist endlich unsre Freude.“
  Und weiter: „Nun sprach ich nimmer zu der Blume, du bist meine Schwester! und zu den Quellen, wir sind Eines Geschlechts! ich gab nun treulich, wie ein Echo, jedem Dinge seinen Namen.“
  Und auf dieses Echo folgte das nächste

ECHO

Allem gab ich meinen Namen
und las ihn von deinen Lippen ab.

Ich war der Entdecker der Milch
und der Erfinder des Schlafs.

Ich schloß mit meinen Händen
einen Vertrag: einsam zu sein,

aber niemals allein.
Ich war es, der das Brot nicht aß

in der großen Pause.
(Ich wurde nie wieder satt.)

Ich hatte noch keine Sprache,
aber einen Mund,

in dem sie heranwuchs wie Gras:
Ich war der Himmel, unter dem ich lag.


Und noch?
Die Trauer.
Aber um nichts.
Hölderlin fragt, „…um was du trauertest in aller deiner Trauer?“
Und Celan antwortet:
„Über aller dieser deiner
Trauer: kein
zweiter Himmel.“
  Und Gott, können wir jetzt weiter fragen, frage ich, weil wir immer weiter, immer atemloser fragen können?
  Man kann ohne Gott leben, antworte ich mir selbst. Aber nicht ohne Gottessuche.
  Denn „ein leben ohne gott ist möglich / das leben ohne gott ist unmöglich“, lernte ich von Tadeusz Rózewicz.

Und wahrscheinlich werden wir ihn tatsächlich eines Tages finden,
während er gerade seine Siebensachen zusammenpackt,
und wir können ihm noch eine Weile zusehen,
wie er beim Aufräumen seines Zimmerchens die Blindenschrift
auf Geldscheinen und Tablettenschachteln studiert,
oder wie er kurz vor seinem Abgang
seine neuen Gesundheitsschuhe einläuft
und im Park mit einem Stück Brot aus einer
Handvoll Spatzen eine Erbengemeinschaft macht,
oder wie er einem heruntergewehten Nest
ins Ohr flüstert, wie's kommt, dass was geht,
oder wie er noch eine Weile einfach weiterlebt
auf Armlänge eines Selbstporträts,
und es reicht dann noch für ein letztes kurzes Gespräch zwischen Tür und Angel und eine Danksagung:

DANKE

für die Notbeleuchtung der Sterne
morgens, Innenhöfe,
vom Dunkel ausgeleuchtet,
und die Holzdose
mit den Milchzähnen meiner Tochter,
die ich mir ausschlug
auf dem Nachhauseweg,

das Sternbild
eines Gesichts,

LEBENDE TIERE
auf dem Heck der Lkw, die
zum Schlachthof fahren,

das Vergessen,
vom Gras geweckt,

das Nachthemd
auf der Wäscheleine,
von Mücken zerstochen,

den Gekreuzigten,
der seine Wunder leckt.


Ein Gedicht, aufgezeichnet und verschifft in einer
Flaschenpost mit dem Ziel Herzland.
Dafür zeichnet man sich ein Boot.
In dieses setzt man sich vorsichtig hinein.
Dann beginnt man zu schöpfen.

„Manchmal bin ich so glücklich, daß ich das Schlimmste befürchte.“
„Ich vertrage die Vergänglichkeit schlecht.“
Beizeiten so schlecht, dass ich den Glauben verliere und zu hoffen beginne. Dann schreibe ich Sätze wie:
„Früher habe ich immer geglaubt, gerettet zu werden, heute hoffe ich, verschont zu bleiben.“
Oder:
„Weißt du, was wir vergessen haben? Wir haben vergessen, was unser Geheimnis ist. Jetzt weiß es jeder.“

Bis heute ist mir dieser Dreisatz nicht aufgegangen. Ich sage ihn mir immer wieder auf. So vergesse ich es nicht. Und Sie? Hören Sie: Sie wissen bitte von nichts. So bleibt das Selbstgespräch mit niemand, das ich dichtend führe, unter sich.

Meine Damen und Herren, aber wenn es doch so empfunden ist:

Das Schreiben ist ein einsamer Animismus.
Doppelt einsam.
Denn alles, so wollen wir doch bitte glauben, ist schon beseelt.
Ulrich Koch    28.05.2012   

 

 

 
Ulrich Koch
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