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Tillmann Severin
GO. Projekt 60


Auszug aus einem Roman (I)

Der eigentliche Grund dafür, wusste Igor von einem Techniker, war so eine Art Selbst­schutz der Anwesenden auf der Station. Als hier noch produziert worden war, hatte ein Arbeiter aus Schrott ein Motorrad mit Rädern gebaut, die so breit waren, dass er damit sogar über Neu­schnee fahren konnte, ohne einzusinken. Nachdem er seine freien Tage mit dem Bau verbracht hatte, fuhr er erst probe­weise in der näheren Umgebung des Aus­gangs und war dann ganze Tage unterwegs – bis er eines Tages nicht wiederkam, weil ihm der Sprit ausge­gangen war. Igor stellte sich vor, wie der Mann mit seinem Gefährt über die weiße Fläche glitt, als hätte er keinen Boden unter sich, bloß das ständige Vibrieren des Motors an seinem Körper, das ihn an die Erde band, um ihn nur noch Schnee wie das Nichts, nur entfernte Bäume, die vorbei­zogen als fremdes Leben. Der Mann fuhr immer weiter, schaute sich solange nicht um, bis der Schnee hinter ihm ebenso haltlos wie vor ihm gleißte. Er spürte den kräftigen Motor unter sich, die einzelnen Teile, die die Energie über­trugen, die in der Brenn­kammer explodierte. Die Me­talle darum hiel­ten die Kräfte im Zaum, machten sie ihm gefügig und zwischen dieser kontrol­lier­ten Kraft und seinem eigenen Körper spürte er schließ­lich die Schaum­stoff­polste­rungen und das Leder, das er über sie gespannt hatte, kaum zu trennen von seinen eigenen Kleidern und sich selbst. Alles Müll, den er vor der Station gefunden und ge­formt hatte. Dort hatten sie vor seiner Zeit einen Schuppen einge­richtet, in dem alles ver­schwand, was anfiel wie auf den alten Höfen, die er nur noch verrotten sehen hatte, bevor sie gänzlich ver­schwun­den waren. Die Bauern hatten die Dinge warten lassen und neu verbaut, als ein Platz für sie frei geworden war, in den sie sich fügen konnten. Mit einem Ver­kehrs­schild und einer Gardinen­stange konnte der Blick auf die mit Schnee verstopfte Straße frei gemacht werden und löchrige Wasser­tanks sorgten für eine trockene Stube.
  Der Mann hatte versucht, den Schuppen zu öffnen, dabei war ein Flügel des brüchigen Tors in die schlammige Erde gefallen und die Sonne in seinem Rücken warf eine Säule durch die Öffnung, die den Staub belebte und die Dinge unter ihm auf­leuchten ließ: Eine Maschine, wer weiß wofür, von der einzelne Rohre sich aus Bündeln lösten, verkantet in S-förmigen Speichen eines guss­eisernen Rads, das zu einem anderen Apparat gehörte, poröses Gummi darüber, einzelne schwarze Brocken waren aus den Reifen heraus­gefallen und enthüllten das faden­scheinige Gewebe darunter, Bretter lehnten an der Seite, wolliger Staub in den auf­gestellten Fasern und über dem ganzen Gerümpel ein Geruch von Mineral­öl und Eisen, wie er nach langer Arbeit an den Hand­flächen klebt.
  Die ganzen Teile des Universums musste der Mann unter sich gespürt haben, als er über die Schneefläche glitt, aus­einander­genommen, umge­baut und wieder zusammen­gefügt zu seiner Maschine. Dinge, die er kannte, die zu seinem Leben gehörten, die unter seiner Arbeit nur eine andere Gestalt ange­nommen hatten. Aus einem Fass hatte er Ringe gesägt, innen Speichen gespannt und außen ein Profil aus zersägten Metall­teilen angeschweißt. Es war sein Rad, das ihn über die Ebene trieb und gleich­zeitig das bekannte Fass, die Spei­chen aus der Winde, alles Dinge, mit denen er gear­beitet hatte, die in seine Welt gehör­ten und den Faden zu ihr nicht abreißen ließen in der Leere um ihn. Das Vibrie­ren des Motors unter ihm und die Maschine, auf der er saß, rea­gierten wie ein Körperteil. Wenn die Geschwin­dig­keit sich änderte, schaltete er, kannte ihre Macken, wusste, dass das Schutzblech am Vorder­rad klapperte, wenn er eine bestimmte Dreh­zahl erreicht hatte, die er aber an keiner Anzeige ablesen konnte, sondern nur spürte wie ein Ziehen in der Brust, wenn man zu schnell läuft.
  Seine Fahrten, hatte Nevrova erzählt, wurden immer länger und ir­gend­wann hatte der Mann sich mit dem Sprit verkal­kuliert und blieb im Schnee stecken.
  Igor wusste, dass niemand, der hier arbei­tete, sich mit dem Sprit ver­rechnen konnte. Er musste immer weiter gefahren sein, völlig eins mit der Maschine, fast wie in einer Kapsel, die ihn vor der feind­lichen Leere schützte, und musste in eine Trance ver­fallen sein wie Spazier­gänger, die plötzlich an einem völlig uner­war­teten Ort auf­wachen und nicht wissen, wie sie dort hinge­kommen sind. Der Mann musste ge­spürt haben, wie dem Gefährt lang­sam die Kräfte aus­gingen, in auf­kommender Panik ge­wendet und gleich­zeitig gewusst haben, dass er es nicht mehr schaf­fen würde. Als er stehen blieb, türmte sich die Schnee­fläche auf, als könnte sie über ihm zusammen­fallen, ihn ver­schlingen. Die Teile seiner Maschine, die vorher noch einen Kosmos gebildet hatten, waren auf einmal nichts mehr, gestor­ben, auf­gesogen von einem Vakuum. Der Tech­niker stand in der Eis­wüste, neben sich seine Maschine, ein zuschanden gerit­tenes Pferd, Angst breitete sich in ihm aus, ihm wurde klar, dass er hier draußen völlig allein war, dass er es zu Fuß wahr­schein­lich nicht schaffen würde, dass niemand ihn finden würde und so weiter.
  Igor sah zu, wie die rote Kugel, abgeprallt von der Bande, langsam über die Fläche rollte, immer langsamer wurde und ver­hungerte. Den Mann hatten sie am nächsten Tag halb erfroren gefunden. Er hatte sich neben dem Motorrad tief im Schnee einge­graben und das hatte ihn vor dem Erfrie­ren gerettet. „Wäre er nicht bei seinem Gefährt geblieben, wäre er einfach erfroren. Kein schöner Tod“, war Nevrovas Kommentar.
  Der Mann konnte aber unmöglich die ganze Zeit an einem Ort geblieben sein. Igor stellte sich vor, wie er ange­fangen hatte, an seinem Motor­rad herum­zu­fummeln. War nicht doch noch irgendwo Benzin, wenn er den Tank wendete? Gab es nicht eine Möglich­keit irgendwie ein Signal zu geben? Er hatte eine Thermos­flasche mit Tee, Schnaps und eine Taschen­lampe dabei. Als ihm klar geworden war, dass er nichts machen konnte außer warten, dämmerte es bereits und er hielt es an dem Ort nicht mehr aus. Der Mann ließ den Blick schweifen, irgendwo im Weiß müsste die Station liegen. In der Dämmerung wirkte der Schnee schon dunkler. Hätte er doch nach der Station Ausschau gehalten, als es noch nicht dunkel wurde. Dann hätte er die richtige Richtung gefunden und wäre jetzt schon auf halbem Wege und die Station auch bei Dunkel­heit noch in Sichtweite. Statt­dessen hatte er an diesem unnützen Ding rumge­fummelt und sich in Gedanken verstrickt. Der Mann trat gegen sein Motor­rad, hielt dann noch einmal Ausschau, spürte langsam, wie ihm der kalte Scheiß ausbrach und seine Kehle sich zu­schnürte. Er musste plötzlich Angst bekommen haben, dachte Igor, gezittert haben, nicht vor Kälte, aber vor dem Gefühl, dass es jetzt vorbei war, dass er alles machen konnte, was er wollte, es aber nichts nützte, gegen die Leere um ihn, die ihm nichts tat und mit nichts zusammen­hing, das für ihn etwas zählte. Kristalle, die aus dem Himmel gefallen waren und sich an der Erde verhakt hatten, ein unendliches Leichen­tuch – und dann war er einfach losgelaufen, irgend­einem Flimmern am Horizont folgend, das er nun sicher für die Station hielt, konnte seine zittrigen, verfrorenen Beine gar nicht genug bewegen und musste perma­nent in den Schnee eingebrochen sein. Irgend­wann musste dann die Erschöp­fung gekommen sein, und mit ihr die Idee, sich einfach in das weiße Bett zu legen und einzuschlafen.
  Seit Nevrova ihm die Geschichte erzählt hatte, fragte Igor sich, was den Mann dazu bewogen hatte, überhaupt wieder aufzustehen, zur Maschine zurückzukehren und das zu tun, was seine letzte Hoffnung war: Sich trotz der Erschöpfung und der Kälte, die dem Mann in der Dunkelheit immer mehr unter die Haut gekrochen sein musste, irgendein Metallteil zu nehmen und so fest wie möglich in den Schnee graben, trotz Müdigkeit, und geschützt vorm Erfrieren zu hoffen, dass man ihn fand. Warum hatte der Mann sich nicht einfach hinge­legt? Um sich hatte er die leere Land­schaft, die Stille, die nur durch den Wind unterbrochen wurde und in der Nacht vielleicht, wenn es sehr kalt war, das Knistern seines gefrierenden Atems. In der samtigen Dunkel­heit hätte er den grandiosen Himmel über sich gehabt und das einzige, was er gesehen hätte, wenn er in der letzten Hitze, die sein Körper aufbieten konnte sehen würde, war das Licht der Sterne, die ihm unendlich nah und heiß vorgekommen wären.

Tillmann Severin       20.03.2014       

 

 
Tilmann Severin
Prosa
GO. Projekt 60