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Simone Trieder

Individuum



Ein Klecks weißgrauer Masse klatschte neben mir nieder. Ich sah nach oben. Jetzt konnte ich das Geräusch einordnen, das sich durch den Verkehrslärm hindurchgewunden hatte: Wildgänse, ihr Flügelschlag hatte ein Stück Rost vom Rand meines Herzens bröckeln gemacht, ich war schon ein paar Schritte leichter gegangen, nun wusste ich weshalb.
Sie waren schon nicht mehr zu hören, sie zogen ihre Route, die sie auf unsichtbaren Wegen durch den Himmel ausgerechnet über diese Kreuzung, die sich Eck nennt, führte. Der weißgraue Klecks markierte einen Punkt in einer mir unbekannten Ordnung. Zu dicht gehe ich an diesen Schienensträngen entlang, die von hoch oben aus der Luft vielleicht Flussläufen ähneln mögen, sehr begradigten Flussläufen, die in ihren Betten vom Mäandern träumen oder von Fischen und Lurchen. Sie kennen Lebewesen nur als plattgefahrne Präperate, von Gewitzten hochkant an den Bürgersteig gelehnt.
Hier schneiden sich Parallelen, hier beschränken sich Gefühle.
Ich bin dankbar für einen Staub­sauger­beutel. Die Dame im Elektro­fach­geschäft hat einen weißen Angora­pullover an, deren Häarchen im rechten Winkel weg vom Körper der Trägerin streben, als wär sie Mittelpunkt eines elektrischen Feldes. Sie hat die S 62, Ursache meiner Gefühle. Eben die Sorte Staub­sauger­beutel, die mein komplizierter Staubsauger akzeptiert.
Hier an der Kreuzung, die sich Eck nennt, hat der blond­lockige Zeitungs­verkäufer seinen Kiosk aufgeschlagen. An sonnigen Tagen steht er an einem Tischchen vor dem Kiosk und spielt mit seinen Kunden Schach. Zwischendurch versorgt er die Hungernden mit neuen Nachrichten aus der Königsebene. Schnell sind sie satt und nicken zufrieden in dem Bewusstsein, grad kein König zu sein, bei den Problemen. Und schon stellt sich der Hunger nach dem nächsten Blatt ein. Sie sehen nicht, dass der blondlockige Zeitungsverkäufer selbst ein König ist, der seinen Königs

kollegen die Dame wegnehmen kann.
In seinem Kiosk zwischen Playboy und Geo, über Bild und unter Brigitte wippt an einer Wäscheleine, gehalten von nur einer Klammer, das ernste Porträt eines Literaten, dessen schmale Bändchen zu verkaufen er bereit ist.
Grad gegenüber, genau am Eck ist der Zigarren­laden. Der Händler, dessen Frauen den Laden am Leben halten, ist nur zeitig, ganz zeitig anzutreffen, wenn er schon oder noch betrunken den frühen Zigarettenkäufern mit dem Wechselgeld den immer gleichen Kommen­tar zum wechselnden poli­tischen Geschehen gibt: Es ist alles längst abgemacht und wir sind die Dummen. Kein Käufer widerspricht, denn er braucht seine Zigaretten. Vielleicht ist gar nicht der Chef, sondern nur eine Aushilfe, bis die Damen ihre Einkäufe erledigt haben. Oder die Post.
Wo die Schlangen der Ent­täuschten nicht abreißen, der Versandfirma den Traumpullover zurück zu senden, weil er wider Erwarten kein Traum war. Zwischen die Ent­täuschten mischen sich die Hoffnungs­vollen mit roten Hektikflecken am Hals. Ihre Pakete und Brief­umschläge enthalten Wer­bungen um Liebe, um einen Job, um Geld, die sie den blassen Damen hinter dem Schalter verschämt anvertrauen. Regungslos profes­sionell stapeln die Hoffnung auf Ent­täuschung bis unter die Decke. Nur ein Ticken in einem der Pakete kann sie irritieren. Sie schauen sich an, legen das Ohr an die einzelnen Pakete. Ein böser Blick streift die Kunden: Wir tun doch alles, was ihr von uns verlangt. Und ihr trachtet uns nach dem Leben. Dann klingelt ein Wecker. Da hat einer mit dem guten Gewissen, dass er das Postgeschäft erledigt hat, sich erschöpft niedergelegt und verpasst nun grad, woran ihn der Wecker erinnern sollte. An der Post vorbei geht eine Hausfrau und spricht in ihr Nokia-Handy: Du kannst die Kartoffeln jetzt aufsetzen.
Zwischen den ans Geländer angeschlossenen Fahr­rädern rekelt sich ein Hund, den vom Herrchen un­beobachteten Moment nutzend, den Vorüber­gehenden sein dürres krummes Geschlechts­teil entgegen zu strecken. Die Frau in dem elektro­betriebenen Rollstuhl sieht es nicht oder übersieht es, ihre Liebe gehört einer Katze. Sie lässt sich in der Drogerie nebenan von einer geduldigen Verkäuferin Leckerbissen für ihren Liebling zeigen. Kann ich die Katze auch waschen, fragt sie in das runde gepflegte Gesicht der Verkäuferin, die lieber Kosmetikerin wär. Die guckt unter den Rollstuhl und versucht sich zu einnern, die waschen sich doch selbst, oder? Der junge Mann in der Kassenschlange hinter dem Rollstuhl wird gebeten, den Stoff­beutel mit den Lecker­bissen für den Liebling am Rollstuhl fest­zuknoten.
Er ist ungeduldig, denn er wartet auf das Geld, das seine Freundin in der benachbarten Bank 24 ziehen wollte. Sie hatte so begeistert von einem Kommilitonen gesprochen, nun sieht er die beiden ständig zusammen. Doch die Freundin sieht nur das leere Konto und wird augenblicklich selbstbewusstlos.
Hoch oben über ihr in dem leeren Haus übt ein Trompeter das "Ave Maria". Fetzen wehen herüber zur Dönerbude und zur Telefonzelle. Dort stehen mäandernde Schlangen von Arabern, die mit einer Telefonkarte sich heimische Eindrücke an die Kreuzung holen oder sich über den Stand ihres Asylantrages erkundigen. Ihr Geruch vermischt sich mit dem der Dönerbude und keiner weiß, was Döner­buden­besitzer und die arabischen Telefonierer von einander halten.
Zwei Straßen kreuzen sich an diesem Eck: Die eine kommt mit sanftem Schwung vom Himmel und verwinkelt sich in grünes Baumgewölbe. Die andere fällt direkt vom Himmel hinunter in die Stadt. Auf ihr stehe ich neben dem von der Wildgans markierten Punkt und warte auf Grün. Auf der gleißenden Kante einer gesprungenen Fensterscheibe sehe ich Straßen­bahnen, Autos und Menschen zu einem wechselnden Farbspiel zusam­men­schmelzen. Auf der anderen Seite der Ampel steht das Individuum. Nein, nicht so ein Individuum wie der Brüller im Schwarzen Anzug, der die Bierbüchse wie eine Weih­rauchampel schwenkend die Kreuzung mit seinen spastischen Reden missioniert.
Nein, mein Individuum ist ein junger Mensch, der sich mit seinem stolzen unbe­kümmerten Blick von allen hier unter­scheidet. Wie ein König, der sich unerkannt unter sein Volk mischt. Er gehört hierher, an diese Kreuzung, zu uns. Er ist schön. Er hat die vom eigenen Denken zerrauften Haare, aber keine Melan­cholie, keine Bitterkeit, keine Ver­gangen­heit oder diese triste Kreuzung bricht seinen Blick. Er sieht mich nicht, als er bei Rot mir entgegenkommt, an mir vorbeigeht. Selbst­verständ­lich. Er hat eigene Regeln. Ich warte auf mein Grün. Oben am Himmel löst sich ein Kreuz aus Düsen­jäger­schweifen langsam auf.

 

Simone Trieder  10.06.2009   
Simone Trieder
Prosa
Reportage