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Roland Steiner

(Jellineks) Treffen

Trattnig lachte und Adenauer lachte, eigentlich lachten alle, die den gelben Überstellungsschein in Schlagers Hand erkannten, grünes Köfferchen zwischen den Beinen und kein Bier in der Rechten. Dreck starrend die Mölzer, vorsenil die Bohnenstange und neidisch der Adenauer, rasselnd wie eine Zombiebande ohne Messer erhoben sich die Grüngesichter, einer kotzte im Hohn. Und wer Schlager am nächsten kam, durfte – der Pfarrer war aus­wärtig verpflichtet – Ellbögen ausfahren oder „alles Gute und stirb schön“ grunzen. Echo, Pilot hebt ab, gehallt in den Spiegeln, zitternd die Kauwerk­zeuge der Geschichte, eiternde Löcher, wo Zähne einst Leben sehnten.

La Tour, das wusste Schlager noch, war der Name des Dealers aus einem orangenrot empfundenen Film mit elegischer Musik und melancholischen Bildern und einer Susan Sarandon als mütterliche Auftraggeberin die auf Kosmetik umstieg, während William Dafoe in Schlagers Erinnerung nicht erst weinte, als seine Liebe aus dem Fenster gesprungen war. Falsch: LeTour. Aber was maße ich mir an, auch in meiner Bleibe tickt eine Korkuhr und surren die Aufzeichnungsapparate, auch hier räuspert sich nebenan ein Mensch, der nicht fliegen kann an brennenden Kerzen.

Die Frühlingslichtblume ist ein Zeitlosengewächs mit zwittrigen Blüten und einer Sprossknolle als Überdauerungsorgan… aber das, Schlager, hast du schon im Wagen des Grünen Kreuzes gelesen, weil die Blumenbroschüre der christlichen Krankengemeinde das letzte war, das im VinziDorf du schnapptest, ehe die faulende Zombierasselbande dich rausstocherte, wo dank Pauls Engagement die Herbsthoffnung wartete. Almrausch, erinnere dich Schlager, ist auch eine Pflanze: dein erster Geschlechtsverkehr im Berggewächs des Reitings liegend, das Kratzen an Sissis Hintern, neun­hundert Jahre vor dem 1. Dezember, deinem Einlieferungstag in die letzte Entwöhnung.

Winter, Ende, vor dem Waschbecken stehend hast du deinen Wurmfortsatz über dem Kontaktmagazin der Adenauer gerubbelt und nichts Eiweißklares aus deiner stumpfen Körperbildersammlung rausbekommen, da alles grau war ohne Silber, weiß die Fliesen. Und Trattnig ist eingebrochen in die letzte Tat deines schalen Lebensjargons und hat deine Traumehefrau und Traum­kinder ruiniert, weil deren Erinnerungsfotos am Boden lagen, und er pissen musste.

In deinem Leben sicher nicht, sicher nicht wird es vorkommen, dass eine solche Chance du erhältst, die Flüsse sich in der Verschmelzung von Hirn und Herz vereinen und gemeinsam in Richtung Selbstaustrocknung strömen. Falsch, Schlager: Du bist dran, ganz leise. Erinnerst du dich an den „Präsidenten“, die göttliche Komödie an unserer Schule? Aus der Hauptstadt krochen wir abrupt stolze Ratten gewordene, im Antlitz noch gespurte Mäuschen an und stellten holprig uns in die Schlange der zuzuteilenden Aufgaben für ein Fußballspiel des Turnlehrers, dessen Augenrotschillern dreißig Jahre zurücklag, erinnere dich: Als er dich rippenlose gescholten hat und gar ohne Brustkorb deine salzige Säule, Mannschaften vor uns auf Posten bereits und inmitten dieser alte Mann, ganz unbewacht und leer, im Ankick. Deinen Schädel hat er getroffen und deine Nase hat geblutet und du hast nichts gespürt, weil dir jener gedrechselte Helden-Smog des Rockkonzertes, das aber so etwas von großartig war, und die verflüssigten Nachwehen deinen Schädel beschwerten, und einfach umgefallen bist wie ein Weinsack deines Vaters, während ich meine Blase kontrahierte im Zwang. Nie mehr würde dir ein Arsch in dein Blasengesicht schlagen, hast du geschimpft im Wasserbett der Urologie, weil kein anderes dir Minderjährigem zur Verfügung gestanden wäre. Wie konnte ich… niemand konnte ahnen, was dann geschah. Der „Präsident“ ist heute in höherer Funktion für Symbolik zuständig, deinen Turnlehrer hat man posthum mit einem Landes­preis geehrt, und ich –

Ein kleines Totenköpfchen, eingeengt zwischen Oberschenkeln, vor mir und dennoch, kranker Schlager, dachte ich Weihnachtssterne und Glücksbam­busstäbe dir zu. Am Grab deines Vaters angelangt und niedergekniet, ärgerte mich deine Nachlässigkeit nicht mehr. Meiner an deiner Stellvertretung war die Kameradschaft IV zuvorgekommen, den Kerzenaufkleber Seine Ehre hiess Treue hatte ich dann entfernt und auf deinen in meiner Brieftasche gefalteten Bittbrief gehaftet. „Von unten“, wie du stolzen Ekels heute noch Südtirol nennst, kam er gesund, die Dellung seiner Pneumaschwarte ge­schah im Krieg irgendwo in Kärnten, einen Lungenflügel verlor er an die Arbeit. Das Weitere, Schlager, hatte dein Vater dem Feind zu verdanken: Multiples Beinahe-Organversagen, Netz im Bauch, Hernie-Operationen, schlussendlich hatten ihn Lebertumore in die Erde geknickt.

Für andere mag es fruchtbringend sein, im Vater ein Vorbild zu sehen – Schlager, mein Gott, Schlager dir auch, wenn dein Feind, schon Fettball im Leib, nicht alles verdrängte. Museumspädagoge, Einrichtungsdesigner, Andenkletterer, sozial und vieles mehr wolltest du werden, viel mehr als ein mimetischer Sohn deines Vaters. Dünnwandig wurdest du ans Wasser gebaut und standest abseits bereits, als die Stahlkocher und Bierbrauer sich einmummelten in Familie, Lohnsex und zählbares Glück. Deine ersten Jobs, wem zur Hoffnung, atmeten das Loch, und mit den Herzkranzgefäßen dehnten sich die Erinnerungslücken, was demnächst zu hoffen ausstrahlen du könntest. „Bin und bleib halt ein Katzelmacher“, deine Koketterie, grund­falsch gekotzt, selbst den immunisierten Ärzten hieltest du billig gebastelte Muster hin, sie lachten nicht mal. Die Adria vielleicht, als sie uns sah.

Vorwärts in Sand Meer Weine und Frauen, oben beginnend, den Stiefel hinab, Zeiger der Zeit vorwärts und lasciate mi cantare perche sono pieno rückwärts. Auto stoppend schafften wir es sogar nach Ostia, wo dipinto nel blù unter halberstickten Vögelgeräuschen in der Strandkabine Volare gespielt wurde. Den uns prüfenden Gesichtern, die qanto sei bella Roma nie so emp­fanden wie wir, scherten wir noch Teufelsfratzen, sahen an den zu Stürzen berauschenden Plätzen Freiheitsblasen aufquellen, Fruchtblasen gar, erin­nere dich: Giulia und Gianna anno Schnee, im Regen unter den Baldachinen der Piazza della Cancelleria, vedi la maestà della pioggia? Aber vielleicht war es dir schon damals una festa sui prati della scizofrenia nächst all der Hymen und Eicheln, die harmlos sich schmiegten an deinen anschwellenden Körper, der cosi piccola e fragile das Gramerbe tragen musste, das du nicht ab­schneiden konntest wie all die roten Borsten überm Panikhirn, fünfzehn Jahre später.

Jahre die ich nicht erinnere, Momente: Gell du hast daran geglaubt, es würde diesmal, aber sicher würde ein JA es sein, und du hast es in Nuancen auf dein anderthalb Meter breites Leinentuch über dem Schreibtisch mit dem Weichhaarpinsel strichliert, ein vielleicht schüchterndes zaghaftes überlegtes durchfühltes, aber ganz sicher ein JA: denn wenn eine Kindercomicfigu­renuhr tragende Ilse Aichingerianerin und Gustav Mahlerianerin und Cy Twomblyianerin nicht zu dir – passt nichts. Geträumt hast du. Ein sich im Griffbrett der E-Gitarre zwischen Momus und Daniel Johnston verhedderter Flügel mit täglich entzündender werdenden Augen, weil sich zugeschissen sehend vom Apparat der AichingerMahlerTwomblyMomusJohnston an die infernalische Brut der Desktopnihilisten anzubringen Trachtenden. Geträumt hast du. Raus (Schlager, die Tür stand offen) in den Saal der kommenden Marketenderinnen und rein, wie sie waren: stierend glotzend negierend, in die Reihe Sieben aber geträumt hast du. Wir könnten doch: die winterharten Abgrenzungen und sterilen Einwegreden ab- und den primeligen Duftsog und diesen Live-Mitschnitt anlegen, die Hierarchien die keiner von uns zimmerte in ein Zweiherzmalen verwandeln, darin Du / sie / du. Einen Text geschrieben voll Prosecco in Argumenten und Echauffierung ihre Striche, strichfest die Silben und Kompositionen, ohne jedwede Evaluierung ritt sie am Stuhl im Büro der Toten – wir erheben uns wir beleben uns wir nähern uns, ein Schlager, aber sicher. Geträumt hast du. Gell du hast daran geglaubt, es würde diesmal aber sicher, würde ein JA sein zu den Fuhren an Wärme, ein NEIN sein zu den Muren der Alleinverarztung, ein JA der bedingungsCy Twomblyia­nerindiskutablen Bedürfniseinkehr, ein NEIN zu. Geträumt hasstest du Ambivalenz, geträumt hast du ein Mit– im Einandersein, geschäumt deine Realitäten aus Druck und Pflicht und Angst, dein Warten auf ihre Empfänglichkeit und Träume; dein Angelo Badalamenti Angela Nuova, Einpassen und Mengen an Sehnen.

Neben Sehnsucht trafen wir damals in deinem Südtirol auf Schriften, ähnlich derer die Schlager vor seiner Entlassung für eine Regionalzeitung gesetzt hatte, an jedem dritten Grab einen Schluck, seine Verwandtschaft schien unauffindbar. „Du, da ist wer mit 1. Dezember als Geburtsdatum, deine Oma“, fragte ich endlich in St. Christina, woraufhin er herantorkelte, die marmorne Grabplatte bestieg, in die Knie ging und stierte. Ein paar Stunden danach hielt ich Schlager den Beweis hin, dass sein Vater das mütterliche Grab bezahlte. Mutter? Das Messer entnahm er dem Schrank eines Mess­dieners und säbelte sich die Haare ab. Jenes Abbild der Sterbenskunde seiner Mutter und die Fotos, die sie konstruierte, ehe sie für Österreich optieren musste und Schlager senior vom Zugfenster aus die Weichen stellen sah? Aus Schlagers versengter letzter Wohnung gerettet, liegen sie im grünen Mitbringeselköfferchen neben dem Packen Briefe, die tatsächlich er geschrieben hatte, an Vater, mich, Geliebte; nie abgeschickt. Aus dem Bahnsteig 3 des Grazer Bahnhofs reckt sich kein Baum, die Rundfunk­stimme kündet den „Eurocity Österreichische Computer Gesellschaft“ an.

Die Schiebetür, Pforte deines Herbstes, öffnet sich, das Treffener Empfangskomitee wacht auf. Drei Männer, die ihre neun Leben dem je einzigen Körper innert weniger Jahrzehnte aufgebürdet haben; mochten sie aussehen wie eine hundertjährige Kastanie oder Müllhalde, so verfaulen sie doch erst seit dreißig Jahren ihre Welt. Neben den Mittvierzigern steht ein hoher Käfig mit einem Nymphensittich, hinter den Polsterstuhlbeinen recken sich Weinbrandfläschchen. Trakt EB 1 der Entzugsklinik atmet Herbstlaub, erholtes Urin und Penaten, frivol lachen die Giftschön, Schlangenbärte, Katzenschwänze und Birkenfeigen, die Wände strahlen Feng Shui. Der aufwendig gestaltete Weihnachtsbaum ist mit liebevoll handgemachten Säckchen behängt, in denen hartkantige Gegenstände ruhen, die keiner der Insassen je begreifen wird können. Die neunzehn Männer und drei Frauen sind fürs Leben blind oder taub, bettlägerig, schwachsinnig bereits, introver­tiert oder senil von Geburt an. Schlager: und wie – sein emporloderndes Lächeln Gesichtchen und Haar, ich laufe vorbei an Rollstühlen, künstlich rege­neriertem und Rostfleisch im Ganzen, Resignation und sons­tigen nicht einnehmbaren Obszönitäten des gesellschaftlichen Vernichtungs­wesens, Schlager aber lacht und winkt und leuchtet und steht auf und ihr, zwei momenteinzige Wesen, umarmt euch, Onda su onda. Einen fleisch­farbigen Pullover trägt er über dem ebenso gebügelten Shirt, sein Alter wurde am Wandinformationszettel unter Anführungszeichen gesetzt. Leise rieselt der Radioschnee und die Krankenschwestern näseln solide, während der einzige Pfleger gestöpselter Ohren die alten Sackleiber zu Tisch schiebt, damit die Schützlinge zumindest die Knödel mit Blicken schneiden könnten, wir hören regionalen Advent.

„Wie ist das Essen… schläfst du ausreichend, durchgehend und gut… verstehst du dich mit deinen Stationskolleginnen… fühlst du dich wohl, bereit…“ – ob er sich zu Hause fühle, erspare ich Schlager. „Ich bin nicht würdig, dass –“ sagen sie in Treffen wohl alle. Eingehen halten wir relativ.

 

Roland Steiner   08.03.2010   

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