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Walle Sayer – Den Tag zu den Tagen

Axel Sanjosé – Gelegentlich Krähen

Gedichte, Gewalt
Zu Gedichtbänden der Autoren Axel Sanjosé I  und Walle Sayer II 

Walle Sayer | Den Tag zu den Tagen
Walle Sayer
Den Tag zu den Tagen
Gedichte
Klöpfer & Meyer 2006

II.

Auch in Walle Sayers Den Tag zu den Tagen, spielt die Gewalt eine zentrale Rolle. Der Band beginnt mit dem Gedicht Gesuch, seine ersten Zeilen: »An der Steige, / hinter der Kurve gleich, / Schauplatz, auf dem nichts geschieht, / außer daß Dachsparren sich versteckt halten ...« Ein Schauplatz, auf dem nichts mehr geschieht. Die Welt erscheint – wie nach einem Kahlschlag, der vor langer Zeit stattfand – leergeräumt, das Innere maximal weit oder eng auf sich zurückgezogen. Von da aus wird die Wahrnehmung und schließlich das Gedicht organisiert. So das kurze Gedicht Türschild, dessen Titel einen Ort für grundlegende Benennung und Grenzziehung darstellt: »Vorsicht bissige Stille, einzig / ein paar verzogene Jahresringe knarzen, / die Königssuite einer Bruchbude ist dahier / und vierundzwanzig Überstunden hat mein Tag.« Die Stille im Textsubjekt erscheint so konzentriert, dass sie – nähert sich jemand ihr – scharf, »bissig« wird. Verzogen hat sich weniger die Tür, sondern »einzig« ein paar Jahresringe, die mit jeder Näherung »knarzen«. Die »Bruchbude« erscheint geheiligt (hier kann man auch an die Divinisierung des Opfers nach seiner Zugrunderichtung bei Girard denken), avancierte zur »Königssuite«. Und das Textsubjekt wurde seiner Gesellschaft, seinem Kontext ganz entbehrlich. Gerade hier findet sich die ebenso subtile wie deutliche, die fundamentale Kritik.

Dass der oder ein gewichtiger Ausgangspunkt dieser Gedichte ›Leiden‹ ist, und dieses Leiden (auch) auf Gewalterfahrungen verweist, belegt ein Gedicht wie Zimmerarrest: »Ichquarantäne, Zeigefingerrichtungen, / am Himmel aufgeflogene Lehrerhäkchen. / Von nahfern ziehen Schiedsrichterpfiffe / akustische Striche durch den Nachmittag. / Daliegen, an einen Nesthalm nur geklammert, / nichts werden wollen: die größte Ambition. / Das Zimmer paßt in ein Setzkastenfach, / im Sand der Sanduhr lebt ein Wüstenfloh.« Die Gegenstände werden in ihrem Kontext notwendigerweise noch wahrgenommen, aber zugleich ihres Kontexts enthoben, ohne dass sie in einen neuen Kontext gestellt werden könnten – der neue Kontext ist das Gedicht selbst. Die Gedichte insistieren auf dem Zustand, das Übliche verlassen zu haben und etwas Neues nicht oder noch nicht gefunden zu haben. In diesem Raum, der gewöhnlich gemieden wird, siedeln sich die Gedichte an: »Lehrerhäkchen« fliegen auf, entblößen ihre Hohlheit, »Schiedsrichterpfiffe« ziehen durch den Nachmittag noch als »akustische Striche« etc. Dennoch, die Wurzeln dieser Gedichte dürften nicht geradewegs im französischen Symbolismus zu suchen sein. Walle Sayer geht es, dies dann doch, um reale Zustände, um die Auslotung eigener Zustände, »übersetzt« ins kunstvoll geformte Gedicht. »Eigen« meint: Was menschenmöglich ist, wird durch die Koexistenz des Mediums immer auch zur Versuchsanordnung. Nicht nur hier greift der Autor zwangsläufig auf eine reiche Tradition zurück. Eingedenk ihrer erscheinen die Gedichte als Variationen. Die »Ichquarantäne«, das erste Wort des Gedichts nach dem Titel, mag an Beckett erinnern oder nicht: Es verweist u.a. auf die Zerbrechlichkeit, auf die Reinheit des Zustands. Das »Daliegen« sicher auch auf die Kraftlosigkeit, auf die Lähmung unter dem (teils unfreiwilligen, teils freiwilligen) Verzicht auf Ziele (»nichts werden wollen: die größte Ambition.«). Nicht nur hier erscheinen die Zeilen (allerdings) trügerisch: Walle Sayer ist Lyriker, und es lässt sich erst oder zunehmend »nichts werden«, wenn ein Gewordensein, ein (lyrisches) Werk vorliegt. Ein »nichts werden wollen« – und hier tritt die hohe Mehrdeutigkeit der Sprache hervor – bietet dazu einen gewissen Schutz, und ist wohl nur möglich, wenn jemand bereits etwas »ist«. Indessen verkleinert sich die Welt, verschwindet im »Setzkastenfach«. Das Wort Arrest (als Teil des Kompositums »Zimmerarrest«), das all dies übertitelt, deutet dabei auf die verdeckten »Ursprungsereignisse«, auf die immer wieder angespielt wird.

Es sind – auch hier knüpft Walle Sayer wohl mehr oder weniger bewusst an die bereitstehenden Traditionen an – die allerkleinsten Ereignisse, die ins Zentrum des Gedichts rücken. Oft sind es Relikte aus Kindheit und Jugend, die ersten und zugleich letzten Erinnerungsreservoire, es sind die atmosphärischen Relikte mit Verweischarakter: so ein »angenagter Bleistift«, ein »angespitztes Streichholz« oder gar die mit »Kinderspucke zusammengepappten Jahre«.

Das letzte Wort des Gedichtsbands ist das Wort »Opfer«, das, in dürftiger Metaphorik, die – dies dann doch – kein Einzelfall ist, immerhin der prinzipiellen Mehrdeutigkeit überlassen wird: »Eine wolkenlose Schieferplatte / will für den Himmel gehalten werden. / Klarheit: durchsichtige Augenbinde. / Meine schwarzen Bauern, deine weißen, / hoffen auf ein Königsopfer.« Es wird kein Zufall sein, dass die »schwarzen Bauern« mit dem Possessivpronomen ›meine‹ verknüpft wurden, sie verweisen auf den Tod. Während »deine« – als Platzhalter für alle und alles, was weniger versehrt anmutet – »weiß« sind. »Weiß« verweist auf neues Leben, auf Reinheit. Der Gedichtband fordert zuletzt eine andere Welt ein – eine Welt, die ihr Verhältnis zur Gewalt grundlegend überdenkt – und spricht, ja, ihr aus der Stille zu.

Teil I  –  Axel Sanjosé  externer Link
Axel Sanjosé im Poetenladen  externer Link
Walle Sayer im Poetenladen  externer Link
Rezension erschienen bei GlobKult
Walle Sayer: Den Tag zu den Tagen (Rezension von M. Glaßer)

Ralf Willms     25.11.2007

Ralf Willms
Lyrik
Gedichte, Gewalt I, II