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Reinhard Jirgl
Nichts von euch auf Erden

Roman Enterprise


  Kritik
  Reinhard Jirgl
Nichts von euch auf Erden
Roman
Carl Hanser Verlag 2013
512 Seiten, 27.90 Euro


Ein genialer Autor schreibt einen „kosmosschweren“ Endzeitroman. Wohl jedem wird diese pessimistische Abrechnung mit dem Menschengeschlecht den gut­ge­laun­ten, prächtigen Sommertag vermiesen. Zum Glück ist nun Winter und das im Februar bei Hanser erschienene Werk stand auf der Shortlist zum deutschen Buchpreis. Büchner­preis­träger Reinhard Jirgl gelingt mit „Nichts von euch auf Erden“ ein literarischer Grenzgänger, herrlich anstrengender Jirgl-Wahnsinn mit orthographischen und inhaltlichen Kapriolen, unfassbar und unfassbar nerv­tötend zugleich. Die einen vermuten erschöpft, Jirgl stecke „knietief in Galle und Bitternis“ (Die Zeit), die anderen loben es zu Recht als „Buch mit visio­närer Kraft“ (Süd­deut­sche)

Mond rast auf Erde, wumms

„In=Wahrheit: !Nichts hinter dieser Wahrheit. !Garnix. (...) – :od auch das ist Nichts als 1 ander­lautender?Irrtum. Tiefe tiefste Ratlosigkeit...“ Einst flog ein Teil der Menschheit zum Mars, Terraforming auf einem anderen Planeten als Aus­weich­manöver zum Erhalt einer ausgebeuteten Erde. Nun wollen die Marsianer zum eins­tigen Heimatplaneten zurück. Auf dem mittlerweile aufgrund eines Gendefekts Menschen leben, die nach nichts mehr streben, denen vielmehr „Atem=Schöpfen u freies Sein“ oberste Priorität ist. Selbst die Fortpflanzung hat an Reiz verloren.

Den mit ihren weiß geschminkten Gesichtern an Theater­masken erinnernden Erdlingen ist jedoch auch jeg­liches Interesse an Welt abhanden gekommen. Zugunsten des all­wäh­renden Frie­dens, ist hinzuzufügen, und nach sokratischer Erkenntnis: „Sorge dich ausschließlich um dein Selbst, dann erweist du der Allgemeinheit den größten Dienst!“ Man strebt lediglich noch hin zu Einem: dem Tod. Der „Rück­kehr­wille zur anorganischen Todes=Ruhe als der ursprüng­lichste An-Trieb zum Leben“. Jirgl nennt diese De­tumeszenz, übersetzt das Ab­schwellen einer Ge­schwulst, bisweilen die „erste wirklich gelungene Mensch­heitsrevolution“.

Sich den „schwarzen Aus=Geburten des-Fort­schritz“ zu verweigern, klingt ver­lockend, zynischerweise hilft diese Revo­lution in Jirgls Roman nur eben nicht. Denn wenn es drauf an­kommt, ist niemand mehr zu rebellieren fähig. Die Mar­sianer können ohne Gegen­wehr mit ihrem Umge­stal­tungs­pro­gramm beginnen, die Ver­weich­lichten wieder zu „dienstbaren Körpern“ formen, die Geld­währung erneut ein­führen. So die Pläne des in flammendes Rot ge­hüllten Mars-Hitlers, der mit schnei­dender Stimme zu den belämmerten Erd­lingen spricht. Eigent­lich ist es auch egal, denn der Mond rast auf die Erde, wumms, alles futsch. Bis dahin muss der Leser 470 Seiten Jirgl-Sprech verdauen, hinzu kommen 35 Seiten Anmer­kungen von der Mars­beauf­tragten Io 2034, sowie ein detail­liertes Ver­waltungs­struktur­schema der Mars­stadt Cydonia. In einem Inter­view mit Jirgl fragt der Kritiker Denis Scheck, weshalb die Welt enden muss. Die Menschheit sei doch einmal genug, antwortet der Autor. „Wenn Sie den anthro­pozen­trischen Stand­punkt einmal verlassen, haben Sie plötzlich eine Vielfalt von Lebens­weisen vor sich, die es heute in dieser Form gar nicht gibt.“

Jirgls Dystopie über Gier, Krieg, Unterdrückung, Leben und Tod ist stilis­tisch als auch inhalt­lich ausufernd. Der Autor changiert blitzschnell zwischen Geschichte, Reali­tät, einer mög­lichen Zukunft (Terraforming auf dem Mars erforscht bereits die NASA) und düsterer End­zeitvision, durch­zogen von zahlreichen Bibel­zitaten und philo­sophischen Überlegungen. Vor allem taucht die deutsche Geschichte, flackern Bilder von Deportation, Völkermord und Ver­treibung immer wieder auf. Jirgl wurde 1953 in Ost­berlin geboren, wuchs jedoch bis zu seinem elften Lebens­jahr nahe des so genannten ›Todesstreifens‹ in Salz­wedel bei der Großmutter auf, die zusammen mit ihrer Familie aus dem Sudetenland vertrieben wurde. Der im Roman partiell einge­setzte Ich-Erzäh­ler mit dem Namen BOSXRKBN 181591481184-E beschreibt das Gefühl der Heimat­losig­keit. „Weder Hier­her noch Dorthin, weder zum Mars noch zur Erde – ich gehöre Nirgendwo hin.“
  Jirgl, dessen Bücher zu DDR-Zeiten aufgrund angeb­lich nicht­marxis­tischer Ge­schichts­auf­fassung nicht gedruckt wurden, legt auch in diesem Buch einen Schwer­punkt auf den Themen­kreis von Emi­gration und Rückkehr. Zum anderen verzieht sich Jirgl ins Sprach­labor, expe­rimentiert dort mit Worten herum, dass es nur so faucht. Per­spektive und Ton wechseln je nach Lage. Mal nüchterne Beamten­sprache, pathetische Prosa, Sprechtexte, merkwürdig ritualisiert klin­gende Dialoge, Ab­schnitte ohne Punkt und Komma oder eben zuviel von alledem: Das ist Jirgls kompromiss­loser Stil (un­weiger­lich kommen einem Heiner Müller und Arno Schmidt in den Sinn). „Ich schrei­be nicht, um in einem etablierten Ord­nungssystem unter­zukommen, eher umge­kehrt geht es mir darum, aus den Wirk­lich­keiten des Ich und des Außen, diesem Kon­flikt- und Span­nungs­feld des Menschen, meine eigene textuelle Ordnung (...) zu (er)finden“, sagt der Autor selbst. Auch schert sich Jirgl nicht um Line­arität und um Handlung nur mäßig. Der arme Leser! Der tolle Autor, dessen Vor­stellungs­kraft und kapri­ziöser Sprach­rausch immer im Mittel­punkt ste­hen. Kritisieren mag man ihn nicht für diesen Eigensinn, der in der zeit­genös­sischen Lite­ratur hierzu­lande schließlich allzuoft fehlt.

Überlebende? Die sich selbst schreibenden Bücher

Aufgrund technischer Möglichkeiten schreiben sich in Jirgls Welt die so genannten bio­morfo­logische Bücher selbst fort. „!Gespenstisch : Bücher entwickeln Eigen=Le­ben & greifen gemäß !eigener=Erfor­dernisse ins-Geschehen ein. Automatische Texte, Bücher=für=Bücher, u: nicht mehr für Menschen geschrieben, diese Bücher waren schlauer als die Menschen, man hatte Angst vor ihnen.“ Weshalb sie ver­nichtet werden sollen. Doch aus­gerechnet das, dessen Untergang heute viele heraufbeschwören, hat Bestand. Die Mensch­heit ist längst fort, die Bücher dagegen schreiben „für=andere-Bücher den Roman einer Zukunft“. Jirgls Roman als Hommage an das gedruckte Wort, den blei­benden Speicher menschlicher Erinnerungen. Was von Jirgls Roman bleibt, ist ein metal­lischer Geschmack im Mund und ein Weltraumdröhnen in Kopf. Dieses Buch ist ein lite­rarisches Raum­schiff, staunend und erschöpft schaut man hinauf, schenkt Ehre und Preis. Dann rauscht Jirgls dunkles Flugobjekt hinfort, in weit entfernte Gefilde.

Zuerst veröffentlicht in der Freitag, 2013

Peggy Neidel   21.12.2013   

 

 
Peggy Neidel
Lyrik