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Martin Beyer
Bei Madame Thérèse
Alle Wasser laufen ins Meer (Roman, Klett-Cotta 2009)

Martin Beyer erzählt in seinem Roman von der obsessiven Beziehung des Dichters Georg Trakl zu seiner Schwester Grete und beschreibt die schöpferische Raserei und Leidenschaft junger Künstler.

Das Freudenhaus von Madame Thérèse in der Judengasse war stadt­bekannt. Die Möbel im sogenannten Aufenthaltsraum waren sicher weit über ein halbes Jahrhundert alt und aufs Geratewohl zusammengestellt worden. Eine dunkelbraune Rumpelkammer, staubig, gemütlich, in der Regel hielt man sich hier ohnehin nicht lange auf und verschwand in eines der Zimmer.

Draußen war es etwas stürmisch geworden, vielleicht ein Gewitter, es zog und der Wind drang in den verqualmten Raum. Es roch nach einer sehr speziellen Mischung aus Alkohol, Zigaretten und blumigen Parfums. Georg schwitzte immer noch, zugleich fröstelte ihn. Er wirkte angeschlagen, dabei hätte es doch sein großer Tag sein sollen. Der Dichterkreis war gekommen und zollte widerwillig Respekt, alle anderen hatten sich entschuldigt oder entschuldigen lassen, unter ihnen auch Streicher, was Georg besonders schmerzte.

»Sie werden verstehen, dass ein Mann meines Rufes sich nicht mehr ohne Not in ein solches Etablissement begibt. Und schon gar nicht, um nur zu reflektieren.«

Ein Lachen. Aber dann hatte sich die Miene des Künstlers verdunkelt, er schüttelte Georg lasch die Hand und verschwand. Georg war sich sicher, dass er ihn fortan nicht mehr so häufig sehen würde. Förderer wollten auf Dauer Erfolge ihrer Schützlinge sehen, aber er hatte versagt.

»Georg, es geht mich ja nichts an …« Adolf Schmidt, Lisas Heiliger, sprach ihn an. Er sah noch übler aus als sonst.

Mit seiner spitzen Nase hatte er ein blasses Draculagesicht, seine Augen waren gerötet. In ihnen brannte ein Feuer, das ihn zu verzehren schien. Auf seiner Stirn perlten die Schweißtropfen, er wischte im Minutentakt mit seinem Arm dar über. Adolf schien den ganzen Abend nur getrunken zu haben. Im Theater hatte er ihn jedenfalls gar nicht bemerkt. Und das Störende an Adolf war, dass ihn der Rausch aggressiv machte, seine Stimme wurde hysterisch schrill und laut, er bellte wie ein kleiner Köter und fuchtelte unkontrolliert mit den Armen. Er verfiel nicht selten in eine Art missionarischen Übereifer, in eine religiöse Raserei, in der er die anderen um ihn her um bekehren wollte, um jeden Preis. Was vielleicht auch der Grund war, war um Lisa ihn einen Heiligen nannte.

»Obwohl, eigentlich geht es mich sehr wohl etwas an!«, fuhr er fort. Er hatte die Eigenart, in jedem Satz das für seine Botschaft wichtigste Wort derart zu betonen, dass er es beinahe buchstabierte. »Du wirst deine Stellung in der Apotheke doch nicht ausnutzen, um der kleinen Lisa den Kopf zu verdrehen und sie am Ende, am Ende zu verführen? Also wie ich euch da neulich gesehen, vielmehr, überrascht habe. Also …«

»Ach, das«, sagte Georg gelangweilt. Er hatte beim besten Willen keine Lust, sich auch noch damit auseinanderzusetzen. Wo nur Thérèse war! Sie würde ihn von diesem aufdringlichen Affen befreien.

»Und dann dein Stück heute, ich kam zwar erst später und habe die Hälfte verpasst, aber das hat mir zu denken gegeben. Zu denken, Georg! Hier bei Theresa …«, Adolf sprach nie ihren französischen Namen aus, »hier bei Theresa spielst du den Retter der Frauen und schwingst große Reden, aber am nächsten Tag nutzt du Lisas, wie soll ich sagen, Lisas Freimütigkeit schamlos aus, um mit ihr körperlich zu werden.«

Georg verschränkte die Arme vor der Brust.

Da der Angeklagte nichts erwiderte, fuhr Adolf mit seinem Monolog fort. »Sie ist verflucht, mehr als jede andere Frau. Ihre Sinnlichkeit ist noch viel stärker und ihr Verstand noch viel schwächer als bei allen anderen. Und was ist der Mann für ein Lump, der das schamlos auszunutzen weiß! Bist du denn ein solcher Lump, Georg? Und wenn ja, sei gewarnt! Dieser Fluch wird auf dich zurückfallen, dar über musst du dir im Klaren sein!«

Georg wusste gar nicht, was er dar auf sagen sollte. Adolf rückte immer näher, beide thronten auf einem schwarzen Sofa, um sie her um hockten die anderen auf einfachen Holzstühlen. Erhard, im Gespräch mit einem Mädchen des Hauses, wandte seinen Blick zum Sofa hin. Er sah ein ungleiches Paar. Da saß Georg, der allein mit seinem robusten Körper einen guten Teil der Sitzfläche einnahm, und neben ihm der dürre Eiferer Adolf, der sich wie eine Klette an seinen Nebenmann heftete.

Der schiefmäulige Grimm bemerkte, dass Adolf kurz vor einem Anfall stand, und sprach Georg direkt an. Allerdings sicher nicht, um ihn vor Adolf zu schützen. »So, da hat sich unser Trakl heute als echter Frauenkenner entpuppt.«

»Jawohl!«, fiel Bruckbauer ein. »Dabei habe ich immer gedacht, der Trakl denkt a bisserl anders. Nun, wie soll ich sagen, ich war in erfreulicher Weise überrascht.« Gelächter. Grimm nahm seinen Faden wieder auf.

»Das war ja nahezu beispielhaft demonstriert, wie gefährlich die Frau in ihrer ganzen sinnlichen Überreiztheit wirklich ist. Da steht dieser Wanderer mit einem Bein in der rettenden Stadt, in der Zivilisation, und da wird er von einem liederlichen Frauenzimmer doch noch dar an gehindert.«

»Von der Imagination einer Frau!«, korrigierte Georg.

»Was macht das für einen Unterschied?«, fragte Bruckbauer. Schmidt zuckte nervös neben Georg, als würde er jeden Moment platzen.

»Das macht einen riesigen Unterschied, du Musenfreund !«, sagte Erhard und lachte. Er war, im Gegensatz zu allen anderen jungen Männern im Raum, ohne Anspannung und bester Laune. »Diese Lufterscheinung zeigt eben all das, was der Wanderer offensichtlich von einer Frau erwartet. Dass sie eben nur a bisserl dummes Sirenchen spielt. Und es geschieht ihm doch ganz recht, wenn er an dieser Ausgeburt seines restriktiven, engen kleinen Verstandes zugrunde geht.«

Heftiger Widerspruch von Grimm. »Das war doch keine Fata Morgana, Erhard! Wer bestreitet denn hier, dass man die Frau vor ihrer angeborenen Triebhaftigkeit schützen und bewahren muss? Das ist eine Tatsache!«

Erhard zog genüsslich an seiner Zigarette. »Also an einem begrenzten Verstand leidet hier doch nur der Mann. Und da er nicht fähig ist, diesen Mangel zu erkennen, muss er sich einen Luftgeist züchten, auf den er alles schieben kann. Introspektion, meine Herren, Introspektion! Das würde uns allen guttun!«

»Skandal!«, brüllte Grimm. »Willst du uns unser Weltbild in die Jauche ziehen, Erhard?«

Erhard lachte bloß. »Weltbild? Wir sind kaum zwanzig Jahre alt, und du sprichst von Weltbild. Sind wir denn jetzt schon die Philister von morgen? Verschanzen wir uns schon hinter einem Weltbild? Geh zu, bitte!«

»Du nennst uns Philister?«, schrie Bruckbauer. »Jetzt hör aber auf mit deinen dummen Provokationen, sonst, sonst.«

»Sonst was?«

»War um sitzen wir denn überhaupt hier?«, fragte Adolf plötzlich hysterisch in die Runde. An seiner Spitznase hatte sich ein Tropfen gebildet. »In einem Bordell! Doch nicht, um uns der Körperlichkeit hinzugeben, sondern um die Frau, wenigstens an einem Abend, vor ihrem Leidensweg zu bewahren. Wenigstens einen Abend wollen wir sie von ihrem Fluch erlösen

»Fluch?«, fragte Erhard. »Glaubt ihr denn, dass auch nur irgendjemand da draußen versteht und vor allem glaubt, dass wir hier nur Händchen halten und warme Reden schwingen?«

»Mitnichten!«, brüllte Adolf, der nun aufsprang. Georg tat es ihm gleich und drückte den dürren jungen Mann zurück ins Kanapee. Jetzt konnte Georg nicht mehr an sich halten.

»Totschlagen! Totschlagen sollt’ man die Hunde, die behaupten, das Weib sucht nur Sinnenlust! Das Weib sucht seine Gerechtigkeit, so gut wie jeder von uns!«

Kurze Stille. Georg hatte trotz seiner leisen Stimme geschrien. Da sprang Adolf wieder auf.

»Heuchelei! Wir haben ja einen Judas in unseren Reihen! Der Trakl ist doch selbst ein großer Verführer. Wie sein neuer Mäzen, dieser Streicher, der Herr Schriftsteller von Welt. Der am liebsten mit kleinen Dirnen vögelt oder gleich mit Knaben. Und da erwische ich den Trakl doch neulich, wie er sich im Stübl in der Apotheke an der Lisa zu schaffen macht.«

Georg drückte Adolf wieder nach unten, dass beinahe das Sofa durchbrach. Aber Adolf stand sofort wieder auf.

»Das war wohl eher umgekehrt!« Erhard hörte nicht auf zu lachen. Ihn brachte nichts aus der Ruhe, offenbar war seine Zigarette mit Opium bestrichen. »Der Georg kann ja nicht einmal eine Statue verführen! Und du, Adolf, der du dich hier als Großinquisitor aufspielst, wer sagt denn, dass du nicht auch, wenn die Gelegenheit günstig ist, deinen kleinen Zipferl irgendwo reinsteckst und den Concubitus exerzierst. Und sei es nur, um einen Nachwuchsprediger in die Welt zu setzen.«

»Verleumdung!«, kreischte Adolf. »Ich werde euch noch beweisen, dass ich bereit bin, alle Konsequenzen zu ziehen, die dieser Kampf erfordert. Alle Konsequenzen!«

»Was denn für Konsequenzen?«, fragte Erhard. »Willst du alle Freuden­häuser der Welt aufkaufen und sie in Klöster verwandeln?«

»Arschloch!«, schrie Adolf, der jetzt auf Erhard zuspringen wollte. Georg hielt ihn zurück, Adolf war so leicht, dass ihn das nicht viel Mühe kostete. Er drückte ihn wieder zurück ins Kanapee, doch Adolf stemmte sich gleich wieder hoch. »Lass mich, du Sau!«

Jetzt konnte Georg nicht mehr. Rote Schatten flackerten ihm um die Augen, der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er war viel zu nüchtern. Georg dachte gar nicht dar über nach, schon hatte er Adolf einen Hieb in den Magen versetzt. Die Bewegung kam ihm so natürlich vor, dabei hatte er sich immer geschworen, niemals handgreiflich zu werden, gegen wen auch immer. Er war ein Künstler und kein Raufer. Adolf knickte zusammen und keuchte, er rang nach Luft. In diesem Moment kam Thérèse in den Salon, endlich, dachte Georg.

»Nicht in meinem Haus, ihr Kinder!« Sie griff Georg am Arm und zog ihn von Adolf weg. »Charlotte, kümmere dich um den da!« Ein anderes Mädchen, das mit der Dame des Hauses in das Zimmer getreten war, beugte sich zu Adolf und redete leise auf ihn ein. Adolf konnte sich kaum aufrecht halten, aber er verschwand nach einem eindringlichen Blick in die Runde langsam hinter der Dirne aus dem Zimmer. Auch Georg wurde von Thérèse in ein anderes Zimmer geführt.

»Leg dich dahin und wart auf mich. Du hast ja Fieber!« Die Hausherrin verschwand und kehrte kurz dar auf mit einem nassen Tuch zurück.

Thérèse duldete, dass diese halben Kinder von Zeit zu Zeit in ihr Etablissement kamen und ein Gelage abhielten. Solange sie zahlten. Von ihren Theorien wollte sie nichts wissen, sie verstand auch nichts davon. Es amüsierte sie, dass die Buben vor jeder Berührung Angst hatten, ein Kuss war nahezu undenkbar. Es war unter ihren Mädchen ein kleiner Wettkampf ausgebrochen, wer es zuerst schaffen würde, einen aus diesem Kreis ins Bett zu ziehen. Die Mädchen waren dabei nicht ohne Erfolg geblieben, nur an ein paar wenigen bissen sie sich die Zähne aus. Und die Verführten beschworen sie, es ja niemandem zu verraten, die Mädchen kamen aus dem Lachen gar nicht mehr her aus. An den Trakl durfte allerdings keine ran, das war Sache der Inhaberin. Thérèse ging es nicht um die gesellschaftliche Stellung der Familie. Sie mochte diesen Jungen einfach. Georg war alles andere als ein Schwächling, verhielt sich aber unbeholfen und sprach stets zu leise. Und sie wusste, dass Georg ihre Zuneigung erwiderte. Er überhöhte sie, er sah in ihr etwas Besonderes. Das schmeichelte Thérèse, die tags zum Abschaum zählte und in der Nacht dafür bezahlt wurde, den guten Salzburger Bürgern beizuwohnen. Sie hätten sonst vielleicht überhaupt keinen Kitzel und vielleicht auch keine Freude mehr, dachte sie. Bei diesem Jungen war das anders, er ging gebückt durchs Leben. Wie seine Freunde scheute er vor jeder Berührung zurück. Wenn Georg in ihr Haus kam, war es eher wie Urlaub für Thérèse, wie ein Sonntag, an dem man nicht arbeiten musste.

»Ich will gar nicht wissen, wor über ihr euch gestritten habt. Wahrscheinlich wolltet ihr uns Frauen wieder einmal retten. Besten Dank, dass ihr mir dafür das Mobiliar zerstört.«

»Das war gar nicht so!«, sagte Georg.

Die Dame des Hauses tupfte ihm mit dem feuchten Tuch die Stirn.

»Adolf hat behauptet, dass ich ein Mädchen verführt habe und sie damit ins Unglück treiben wolle.«

»Du?« Sie lachte laut auf.

»Wie gut kennt ihr euch eigentlich? Ihr seht euch jeden Tag, aber bei eurem spinnerten Gerede vergesst ihr ganz, wer ihr überhaupt seid.«

»Das wird wohl so stimmen!« Georg entspannte sich, er spürte seine ganze Müdigkeit nach diesem Abend.

»Haben die Leute geklatscht?«

»Geklatscht?«

»Na, nach deinem Stück, du dummer Bub. Du warst doch heute das Sternchen am Salzburger Himmel.«

»Aus Höflichkeit sind die meisten schweigend gegangen, fürchte ich. Sie hätten mich sonst beschimpft.«

»Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich hast du gar nicht dar auf gehört, du wolltest es ja gar nicht hören.« »Wie kommst du darauf?«

»Dummer Kerl, ich habe eben mein Bild von dir. Und das sagt mir, dass du nie mit etwas zufrieden bist.«

Sie fuhr ihm wieder mit dem Lappen über die Stirn, Georg hatte Mühe, wach zu bleiben.

»Du sollst dir kein Bildnis machen«, murmelte er im Halbschlaf. Da flog die Tür auf, Charlotte stand da. Ihr grünes Kleidchen, eher ein Morgenrock, war ganz und gar mit Blut beschmiert. Sie schrie stumm, konnte keinen Laut her ausbringen. Thérèse lief zu ihr hin.

»Was hast du, Kindchen? Hat er dich verletzt?« Sie zog dem verstörten Mädchen das Kleid über den Kopf, Georg sah ihr nacktes Fleisch, es war ganz weiß, es hatte keinen Makel. Sie war völlig unversehrt.

»Oh Gott, der Adolf!«, rief er. Er rappelte sich auf und rannte mit Thérèse den Flur entlang, die hintere Tür war offen. Dort lag Adolf auf dem Teppich, in einer Lache aus Blut. Er zuckte nur noch ganz leicht. Neben ihm lagen seine Hose und ein blutiges Messer.

Thérèse schrie um Hilfe.

Georg beugte sich zu Adolf hinunter. Das Blut lief in Strömen aus seinem Unterleib. Er hatte offensichtlich versucht, sich das Geschlecht abzu­schneiden, Charlotte hatte ihn aber dar an hindern können, es zu Ende zu bringen. So oder so schien er zu verbluten.

Als Georg neben ihm kniete, riss Adolf die Augen auf. Die Flammen waren immer noch nicht ganz erloschen.»

Schau, Georg. Ich kann die letzte Konsequenz ziehen. Das wirst du nie können. Verflucht, das ist der große Unterschied.«

Dann fiel er in Ohnmacht.

Aus: Alle Wasser laufen ins Meer. Roman. Klett-Cotta, März 2009

Martin Beyer      11.02.2009

Martin Beyer
Prosa