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Nikotinabusus

Dr. Vogt hob eine Hand. „Wieviele Finger sehen Sie?“ Das siebenköpfige Operationsteam schwieg. „68 ohne die versteckten“, sagte ich und gleich darauf: „Ich habe Sie ja gewarnt. Die Narkose wird nicht wirken. Der da...“ - ich wandte meinen Kopf nach rechts und fixierte den Anästhesisten - „...hat mir zu wenig gegeben.“ Dr. Vogt wollte mich beruhigen und rieb mir kurz über den Arm, so als wolle er einen hässlichen Fleck entfernen. „Das wird schon. Zählen Sie jetzt bitte langsam von 20 ab rückwärts.“ Bei zehn und immer noch fester Stimme bemerkte der Anästhesist neben mir „Nikotinabusus!“ Seine Häme war nicht zu überhören. Er hätte auch mit dem Finger auf mich zeigen und „Abschaum! Du bist Abschaum, hörst du?“, rufen können.

Schon im Vorgespräch war ich mit ihm aneinandergeraten. Sein Büro roch nach Zitrone und sein Atem nach altem Papier. Er stellte sich mir als Dr. Jung vor. Sein Gesicht wirkte flach, so, als hätte man es auf einen Teller gemalt und trug den Ausdruck ewigen Erstaunens. Ich dachte an meine Mutter, die in solchen Fällen zu sagen pflegte: „Bei dem haben sich die Züge noch nicht gelegt. Er wird noch in sein Gesicht hinein wachsen.“ Sie sagte das bei Neugeborenen. Dr. Jung war mittleren Alters und kramte auf seinem Schreibtisch nach einem bestimmten Formular. Dann richtete er seine erstaunten Gesichtszüge auf mich und begann mit der Befragung. Es mag sein, dass meine Antworten etwas arrogant klangen. Es fiel mir eben schwer, für jemanden Respekt aufzubringen, der mit seinem Haarschopf locker die Kissen eines 6-Personen-Haushaltes hätte füllen können, ohne sich beim nächsten Rendezvous zu blamieren. Jedenfalls war der Behaglichkeitsfaktor gegen Null gesunken, als Dr. Jung von meinem Zigarettenkonsum erfuhr. Er wuchtete sich das Haar aus der Stirn und kritzelte mit spitzen Fingern eine Horde Ausrufezeichen auf das Formular.

„Sie betreiben Raubbau“, sagte er kühl.
„Halten Sie sich ans Betäuben und wir sind im Geschäft“, antwortete ich gleichmütig und erhob mich.
„Halt, nicht so schnell!“, rief er und sah mich mit erstaunter Verachtung an. „Biegen Sie mal, soweit sie können, den Hals in den Nacken und öffnen Sie dabei weit den Mund.“
„Das ist nicht Ihr Ernst!“, stieß ich hervor.
„Doch!“
„Nein!“
„Doch!“
„Aber wozu denn? Das ist doch nicht üblich!“ Meine Arroganz verflog.
Dr. Jung triumphierte. „Ich muss wissen, ob der Tubus bei ihnen problemlos einzuführen ist oder nicht.“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein!“
Als ich ging, knallte ich die Tür und überlegte, das Tellergesicht wegen Nötigung anzuzeigen.

Bei fünf angekommen, blickte Dr. Vogt auf eines der aufgestellten Geräte und pfiff anerkennend durch die Zähne. „Dafür, dass Sie rauchen, haben Sie aber erstaunlich viel Sauerstoff im Blut.“ Ich hatte keine Zeit mehr, mich zu freuen. Bei drei verlor ich die Besinnung und Stunden später wachte ich unversehrt in einem Zweibettzimmer auf.

„Ich habe sehr viel Sauerstoff im Blut“, berichtete ich meiner Mutter am Telefon.
„Ach ja?“
„Hm, ich überlege, mit dem Rauchen aufzuhören, damit es auch so bleibt.“
Stille.
„Lass‘ es lieber, Kind! Gibst Du eine schlechte Angewohnheit auf, folgen andere.“

„Du hast Unmengen von Sauerstoff im Blut“, dachte ich Wochen später, als ich an den Rheinpromenaden saß und meine Uhr betrachtete. Sie war wohl neu. Ich entdeckte sie vor einigen Tagen an meinem Handgelenk und wusste nicht, wo sie hergekommen war. Es war an dem Tag, als ich den Kölner Dom zum ersten Mal bewußt wahrgenommen hatte. Er ragte so gewaltig und dunkel vor mir empor, dass ich erschrocken den Blick senkte. Dabei entdeckte ich die Uhr. Dom und Uhr - beides war mir fremd. Seit ich das Rauchen aufgegeben hatte, passierten mir solche Dinge oft. Ich nahm alles intensiver wahr, vieles wie zum ersten Mal, und zerbrach mir unentwegt den Kopf darüber. Hinter einige Rätsel kam ich nie. So konnte ich niemanden fragen, warum meine Mutter plötzlich so alt aussah und wer all die Häuser und Geschäfte in meiner Nachbarschaft in nur einer Nacht aus dem Boden gestampft hatte. Wirklich bekannt kamen mir nur die Straßenzüge vor, in denen es Zigarettenautomaten und Kioske gab. Sie wurden mir zu hilfreichen Orientierungspunkten, waren mir der Blindenstock, an dem ich mich die ersten zwei Wochen meines suchtlosen Daseins wie eine Fremde durch die Stadt hangelte.

An die Uhr gewöhnte ich mich schnell. Bald konnte ich sie nicht mehr aus den Augen lassen. Jetzt betrachtete ich fasziniert die Digitalanzeige und zählte die Sekunden mit. „57!“, rief ich laut aus und hob meinen rechten Arm. Und dann: „58...59...60!“ Bei der „60“ ließ ich den Arm niedersausen. Eine Alte vom Nebentisch drehte sich nach mir um und schüttelte den Kopf.
„Was gibt es da zu schütteln?“, fragte ich und warf ihr einen Ich-hab-dich-nackt-gesehen-Blick zu.
„Das ist jetzt schon das siebte Mal, dass sie das machen. Geht es denn nicht leiser?“
„Nein, warten Sie nur erst, bis die große 60 kommt.“
„Die große 60?“
„.Gerade zählte ich nur eine popelige Minute“, erklärte ich eifrig und wies tippend auf meine Uhr. „Die große 60 ist die Sekunde, mit der die nächste Stunde voll wird. Da gibt es aber auch noch die ganz große 60 um Mitternacht, wenn ein neuer Tag...“
„Die spinnt ja wohl!“, unterbrach mich die Alte und wandte sich verächtlich ab.
Sie hatte recht.

Ich spinne, habe viel Sauerstoff im Blut und rufe mich vom Bett aus im Wohnzimmer an. Ich kann das jetzt machen, weil die große 60 eben vorbei ist und mich gerade niemand anruft.
Seit ich den letzten Einzelverbindungsnachweis prüfte, traue ich meinem Telefon nicht mehr. Liegt der Hörer wirklich auf, wenn er aufliegt, oder rattern die Gebühren munter weiter? Erst bat ich meine Mutter, mich abends nach 23.00 Uhr anzurufen.
„Lass‘ es nur dreimal klingeln“, forderte ich sie auf.
„Warum?“
„Damit ich weiß, dass es dir gut geht.“
Stille.
„Du flunkerst doch!“
„Nein!“
„Doch!“
„Nein! Also gut, ich möchte sichergehen, dass...Momentchen...59...60!...dass der Hörer wirklich auf...“
„60?“, fragte meine Mutter. „Geht es dir gut?“
„Ja, ja doch. Also rufst du jetzt an oder nicht?“
„Nein!“

Wie gut, dass ich ein Handy besaß. Ich wählte die Nummer meines Festnetzanschlusses und lauschte. Im Nebenzimmer läutete das Telefon. Ich ließ es dreimal klingeln und legte beruhigt auf. Kurz vor dem Einschlafen wurde mir klar, dass das Handy womöglich schon seit Stunden mit dem ADAC-Notdienst verbunden war. Ich warf einen Blick auf das in schwachem Blau schimmernde Display, das mir anzeigte, dass das Telefon ruhte. Aber konnte ich mir da wirklich sicher sein? Nein, auch Krokodile ruhen, kurz, bevor sie zuschnappen. Entsetzt kletterte ich aus dem Bett, warf einen hastigen Blick auf den Radiowecker und registrierte, dass ich bis zur ganz großen 60 noch eine Dreiviertelminute Zeit hatte. Mit zitternden Fingern wählte ich vom Wohnzimmer aus mein Handy an. Es war besetzt! Ich schrie auf, knallte den Hörer auf die Gabel und stürzte zurück ins Schlafzimmer. Nichts! Das Handy war im Ruhemodus. Mir wurde schwindelig. Ich beschloss, mir ein kühles Bier aus der Küche zu holen. Erst gestern betonte ein Fernseh-Arzt mit schlanken Augen und dynamisch wirkenden Koteletten, dass ein Glas Gerstensaft beruhigend wirken soll. „60!“, rief ich, als die Digitalanzeige des Radioweckers auf 00.00 Uhr umsprang. In der Küche hielt ich kurz vor dem Kühlschrank inne und riss ihn dann blitzschnell auf. Wie erwartet ergoss sich ein gelber Lichtschein auf den Fußboden. Wer auch immer da drinnen in der Kälte für Hell und Dunkel verantwortlich war - er arbeitete schnell. Das Telefon läutete. Ich schnappte mir eine Dose Bier, rannte ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Es war Kira, meine Freundin.

„Bei dir ist immer besetzt!“, beschwerte sie sich.
„Ja?“ Mir kam eine Idee. „Hast Du eben auf Handy angerufen, Kira?“
„Klar, weil auf Festnetz besetzt war.“
„Aha! Dann haben wir mein Handy zur gleichen Zeit angerufen. Deshalb kam kein Freizeichen!“, rief ich.
Schweigen.
„Du rufst dich also selbst an?“, fragte Kira.
„Na ja, es gibt viel zu beachten. Beispielsweise den Kühlschrank. Ist es in seinem Innern wirklich dunkel, wenn die Tür verschlossen ist?“
„Wie?“
„Na, woher weißt du, ob in deinem nicht die ganze Zeit hindurch das Licht brennt?“
Kira sog hörbar die Luft ein. „Das kann ich nicht wissen, weil ich schlecht durch die geschlossene Tür blicken kann.“
„Drum!“, gab ich triumphierend zurück.
Erneutes Schweigen.
„Deine Mutter rief mich an. Sie glaubt, du drehst durch und ehrlich gesagt, befürchte ich das allmählich auch.“
„Ach was! Sie übertreibt“, sagte ich und öffnete die Bierdose so leise es ging.
„Sie glaubt, du leidest unter gewissen Zwängen, seit du das Rauchen aufgegeben hast. Ihr ist aufgefallen, dass du dir über die unmöglichsten Dinge den Kopf zerbrichst“, fuhr Kira fort. „Jedenfalls bat sie mich, dich an die Reservepackung Marlboro zu erinnern, die sie mal unter deinen Küchentisch klebte.“
Ich bockte. „Wie gut, dass du mich daran erinnerst. Ich war überzeugt, alle Päckchen weggeworfen zu haben. Das unter dem Tisch habe ich vergessen. Es fliegt gleich in den Müll.“

Am nächsten Morgen erwachte ich mit viel Sauerstoff im Blut auf dem Küchenfußboden. Mein rechter Arm lag schmerzhaft an die Kühlschranktür gepresst. Um mich herum zählte ich fünf leere Bierdosen. Zwei weitere fanden sich im Wohnzimmer, gleich neben dem herausgerissenen Telefonkabel. Meine Erinnerung setzte ein. Die ganze Nacht hindurch hatte ich mich angerufen, Sekunden gezählt und versucht, dem Kühlschrankbeleuchter auf die Schliche zu kommen. Zwischendurch hatte ich wohl den Rat des dynamischen Kotelettenarztes beherzigt. Ich stöhnte auf, als ich meine linke Hand erblickte. Fest hielt sie mein Handy umklammert, das durch den Druck versehentlich die Zeitansage angewählt hatte. Ich hielt den Hörer ans Ohr. „Es ist jetzt neun Uhr, sieben Minuten und 45 Sekunden.“ Mein Kopf schmerzte fürchterlich, aber ich wartete geduldig ab. „60!“, rief ich trotzig ins Handy und legte auf. Dann fischte ich die Reservepackung Marlboro aus dem Mülleimer, öffnete sie und zog eine Zigarette hervor. Lange blickte ich sie an, während ich darüber nachdachte, was besser war: Ein „Nikotinabusus“ oder ein möglicherweise länger andauernder Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt mit einem Überschuss Sauerstoff im Blut.

Jahre später traf ich auf dem Weg zur Arbeit Dr. Jung wieder. Mit erstaunter Miene stieg er vor mir aus einem Taxi, eilte mit schnellen Schritten an einen Kiosk und kehrte mit einer Stange Gauloises zum wartenden Auto zurück. Er hatte es nicht geschafft, in sein Gesicht hineinzuwachsen.



Majissa
Prosa