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Leben mit Handy

Ich muss nicht mehr mit den Menschen reden. Sie sprechen auch so zu mir. Durch die Stadt gehen und im Zug stehen oder sitzen Menschen, die vor sich hin plaudern. Einige haben ihr Handy in der Hand, die neueren sind so klein, dass sie in der Hand verschwinden. Was würde ein Außerirdischer von Menschen wahrnehmen, wenn er sie unbemerkt beobachten könnte? Unser E.T. würde denken, die Menschen besprächen viele Dinge mit ihrer Hand, in der vermutlich jener Teil des Körpers stecke, der alles lenke und auf eine Art und Weise antwortet, die ein Außenstehender nicht versteht.
    Viele sprechen in ihren Autos, hinter dem Steuer. Obwohl sie das per Verordnung gar nicht dürften. Doch das Verbot erhöht nur den Reiz so zu reden, aktiv zu sein, eine bestimmte Zeitspanne mehrfach auszunutzen: sich fortzubewegen und nebenbei noch Dinge zu klären. Und wer wurde denn wegen einer telefonierenden Hand hinter dem Steuer wirklich schon bestraft? Mit was? Vielleicht mit einem Handy-Verbot?
    Die Dame im fortgeschrittenen Alter: „Nein, ich habe gar nichts dagegen, wenn du mit ihm jetzt eine Beziehung hast. Ich finde es wichtig, dass du dich so um ihn kümmerst, sonst verliert er völlig den Halt. Es beruhigt mich, seine monatlichen Zahlungen gesichert zu wissen.“ Natürlich verhieß die Stimme eine andere Botschaft. Ein solches Gespräch würde ohne Handy ähnlich laufen. Normale Beziehungskisten: das kalkulierte Prinzip Beherrschung, um durch Zuspruch Zweifel zu säen. Aber warum senkt sie ihre Stimme nicht? Merkt sie gar nicht, dass andere mithören? Will sie das? Und wie ändert sich das Leben für uns, die Mithörer, die per Zufallsprinzip vieles aus dem Leben der Mitmenschen erfahren? Intimität löst sich auf. Das Private dringt auf andere Weise in den öffentlichen Raum.

Besonders hemmungslos reden Medienleute per Handy. Die sprechen nicht mehr in die Hand, sondern benutzen eine Freisprechanlage. So kommt es vor, dass sie neben oder vor einem im Raum stehen – und unvermittelt beginnen. Verwirrte Menschen und besonders wichtige ähneln sich auf den ersten Blick. Beide monologisieren mit kurzen Pausen inmitten anderer Leute.
    Der Moderator einer Talkshow, die ich nur vom Fünf-Sekunden-Durchzappen kenne, und der möglicherweise nur der Produzent dieser Sendung war und sich wie ein Moderator benahm, gab vor einem Geldautomaten stehend Anweisungen. Den Gysi hätten sie im Kasten und die Boxerin auch, nicht die Archivaufnahmen von Stefan Raab vergessen, wie sie ihn zusammengeschlagen hat. Dann nannte er den Namen einer Sängerin, der mir gar nichts sagte und den ich deshalb nicht wiederzugeben vermag. Kurz nach dem Namen glaubte ich eine Summe von 50.000 Euro zu hören, unter der die nicht zu haben sei. Aber der Partner am anderen Ende der Nichtleitung redete womöglich schon über die nächste wichtige Person, so dass ich nicht sicher bin, wie viel Geld die Sängerin der Show wert war. Mein Mister Wichtig in der Bank sagte nur: „Deshalb rasch einkaufen und den Date festzurren.“ Dann trat er zwei Schritte zur Seite, weil andere Kunden Geld aus dem Automaten ziehen wollten, und schwadronierte in der Mitte des Raumes fort. Er wiederholte Sätze und Angaben, als mache er sich Mut. Es gibt einen Typus von Fernsehmensch, der sich einfach nicht vorstellen kann, manchmal nicht auf Sendung zu sein. Interessanter die geschickt gestylte Frau mittleren Alters: „Wir bunkern alle Manuskripte. Wir lassen sie nicht im Frühjahrsprogramm verbrennen. Der Buchumsatz ist zu schlecht, drei haben schon ihr Programm halbiert. Jetzt auf Tauchstation und vor dem Herbst greifen wir mit unseren Angeboten an.“ Aha, eine Literaturagentin. Man darf über die sprachlichen Zusammenhänge von Kriegskunst und Belletristik nachdenken. Wer ist wer – das permanente Rätselspiel. Und welche Tätigkeit übt der Telefonierende aus? Ganz ohne Werbe­unterbrechung bekommt jeder Denksportler eine neue Variante des „Heiteren Beruferatens“ präsentiert. Solange er zuhören mag. Und er sich nicht vorzustellen beginnt, auf welchen Wegen die unsichtbaren Signale durch die Luft und über die Verteiler­masten eilen, bis sie zu hörbaren zurückverwandelt werden. Und in welcher Geschwindigkeit. Und erst die Auslandsgespräche über Satellit, Worte werden auf einen Kurzausflug in den Weltraum geschickt, um rasch wieder zur Erde und in ein anderes Ohr zu fallen. Wären wir gezwungen, die Geschwindigkeit dieser Signalübermittlung visuell zu verfolgen, wir würden vor lauter Schwindelgefühl nicht so lange telefonieren. Den vielen Menschen, die ihr „Ich bin gleich da!“ in das Mikrophon nuscheln, würde es die Sprache verschlagen. So denken sie nicht, sondern tippen die Nummer ein.
    Jede Zugverspätung verbreitet sich springflutartig in den Ohren aller Geschäftsfreunde, Ehepartner oder der bald besuchten Nicht-Ehepartner. Es gibt für die Angerufenen keine wirklichen Verspätungen mehr. Und kaum noch unerwartete Besuche; das Telefon in der Hand führt zur Ankündigungs­sucht und fördert Bequemlichkeit. Rief mich doch gerade vor meiner Wohnungstür wirklich ein zerstreuter Verleger an und fragte, ob er vor der richtigen Tür stehe, ich solle bitte einmal öffnen. Seine Brille und unser Namensschild waren verrutscht.
    Die Ankündigungslust per Handy zwingt zur Frage, wer eigentlich Angst vor unliebsamen Überraschungen hat. Andererseits fördert der Anruf zuvor auch ein Stück private Gestaltungshoheit. Jedenfalls werden Kontakte in der Gesellschaft insgesamt überraschungsärmer. Obwohl natürlich auch Telefone nicht funktionieren können oder im gesuchten Moment gerade nicht aufgeladen sind. Wirklich verlassen kann man sich auf diese Partner nicht. Und über die zunehmende Lust an der SMS und ihren Einfluss auf sich steigerndes oder weiter schrumpfendes Lese- und Rechtschreib­vermögen darf auch nachgedacht werden.
    Ich bleibe bei den ganz praktischen Fragen: Muss ich eigentlich noch das Feuilleton lesen, wenn ich auf dem Gang zum Berliner ARD-Hauptstadtstudio und beim anschließenden Kaffee im „Einstein“ ohnehin alles erfahre? Alles nur halb, zugegeben, aber ist das in der Zeitung anders?
    Menschen lassen sich auf Bestellung während eines Gesprächs anrufen, um ihre Wichtigkeit zu beweisen. Andere sind nur bequem und auf primitive Weise süchtig. Sie stehen nicht mehr auf, um jemanden am Ende eines Saals zu rufen, sondern suchen dessen Nummer. Ein Mitarbeiter einer politischen Bildungseinrichtung greift alle paar Minuten zum Handy, um innerhalb des Gebäudes die Kommunikation zu verkürzen. Manchmal klingelt es dann drei Stühle hinter ihm. Politiker sind vorsichtiger, sie streuen Details nicht so hemmungslos aus. Oder haben die sich angewöhnt, immer ungenau zu sein? Um nicht so leicht festgelegt zu werden?
    Bei anderen Menschen schwirren wirkliche Geschäftsgeheimnisse durch die Luft. Auf den Gehwegen neben bedeutenden Straßen der großen Städte, in den Speisewagen der ICEs und den Bistro-Abteilen bestimmter Nahverkehrszüge. Die Anzahl der Frei­sprech­anlagen­benutzer markiert die Bedeutung jener Strecken. Eine Karte mit der Häufigkeitsdichte von Gesprächen wäre interessant, die Nervenbahnen für die Entscheidungs­vorgänge dieser Republik offenbarten sich so.
    Neben mir im Bistro Erfurt/Berlin ruft einer sein Schatzi in Süddeutschland an, dass er am Wochenende leider nicht könne. Wichtige Geschäfte, hier im Osten. „Na, was soll ich im Osten anderes machen als Geschäfte?“ Dann wird ein Schatzi in Leipzig angerufen, wann er da sei. Spannend ist das Schatzi Nummer 3 bei einer Bank. Sie solle mal einen bestimmten Kollegen fragen. Er habe einen guten Freund, der glänzend im Saudi-Arabien-Geschäft sei. „Schatzi, er braucht ganz rasch fünf Millionen Euro als Sicherheitsrücklage, um Clearer zu werden. Ein. Erfolg versprechender Handel mit Derivaten, Schatzi, hör Dich mal um bei Horst. Und Klaus muss davon nichts wissen. Bis bald, Schatzi.“
    Durch regelmäßiges Mithören von Handy-Halb-Dialogen erweitern sich meine Kenntnisse im Geschäftsenglisch. Bestimmt weiß ich bald, was ein „Clearer“ ist und was er bei der Bank konkret tut. Mithören bildet – haben Spitzel ein höheres Allgemeinwissen? Wahrscheinlich werden sie dafür in zu begrenzten Personenkreisen eingesetzt.
    Ein permanentes Hörspiel läuft jedenfalls ab. Manchmal sehr bieder und simpel, manchmal geht es wie im Theater zu. Nicht anders als in manchem Gegenwartsstück reden Mann und Frau konsequent aneinander vorbei. Auf Godot wurde noch gewartet – heute würden die beiden ihr Warten vergessen, weil sie ständig Anrufe bekommen oder führen, die ihnen bestätigen, nicht völlig nutzlos und für die Welt vorhanden zu sein. Das Handy als Droge gegen das Gefühl der Einsamkeit. Mich zwingt es zu der unangenehmen Einsicht, dass ich ein neugieriger Mensch bin. Ich will häufig wissen, wie Gespräche weitergehen. Und muss mich beherrschen, den Leuten nicht hinterherzulaufen.

Gerade kam die Einladung zu einer Hochzeit. Nicht per Handy und nicht einmal per SMS. In einer altmodischen Einladungskarte schilderte das glückliche Paar seine erste Begegnung. Er wurde sanft angefahren von ihr, als sie gerade telefonierte. Er hatte sein Gespräch schon beendet und das Handy noch in der Hand. So lernten sie sich kennen und lieben. Eine wunderschöne und gar nicht virtuelle Geschichte.

Lutz Rathenow      21.01.2006       Audio

Leben mit Handy
aus: Fortsetzung folgt. Prosa zum Tage
Weilerswist: Landpresse  2004

Lutz Rathenow
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