poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Karoline Menge
Als die Kühe verschwanden
(Auszug aus einer Erzählung)


… Karine war mit sieben zu uns ins Haus gekommen und brachte die Rituale von meiner Mutter und mir gehörig durcheinander. Wenn wir im hintersten Winkel des Gartens, dort, wo der Phlox wucherte, unser Früh­stück halten wollten, forderte Karine, wir sollten am Küchen­tisch essen, so hatte sie es gelernt. Wenn wir abends nach zehn unsere Gummi­stiefel anzogen, um zu schauen, ob die Kühe unserem Zaun zu nahe kamen, stellte sie sich uns kreischend in den Weg, versperrte die Tür, sodass wir nicht hinaus konnten und meine Mutter die ganze Nacht vor dem dunklen Fenster verbrachte. Ich habe Karine sehr lange gehasst und mit neun kann man hassen, dass es einem innen drin kräftig wehtut. Man kann so sehr hassen, dass man manchmal Angst haben muss, dieses Gefühl würde so groß werden, so mächtig, sich überall in alle Ritzen und Lücken hängen und einem aus den Augen blitzen. Das hat sich gelegt, weil Karine be­griffen hat, weil ich be­griffen habe, weil meine Mutter be­griffen hat. Sie kam dazu und wusste nichts, meine Mutter wollte sie haben und niemand konnte es ihr ausreden, sie präsentierte sich perfekt bei den Frauen, die kamen, um alles zu prüfen. Meine Mutter räumte sogar ein Zimmer für Karine frei, das Zimmer, in dem sie die Marmeladen stapelte. Apfel, Pflaume, Kirsche, alles, was im Garten zu finden war, kochte sie, machte Marmelade daraus, und wir kamen nicht hinterher, sie auf unsere Frühstücksbrote zu schmieren. Und so räumten wir ein Zimmer aus, um dort die Gläser zu lagern. Das Zimmer, das wir später aus­räumten, um Karine bei uns auf­zunehmen.
  Ihr Kopf gleicht den Äpfeln aus unserem Garten. Er ist verformt, weil sie als Kind zu oft auf den Boden fiel, vom Wickeltisch, aus dem Bett, vom Arm ihrer Mutter und dem ihres Vaters, der früh starb, dann immer nur vom Arm ihrer Mutter und der Großmutter väter­licher­seits, die es vielleicht mit Absicht machte, sagt Karine. Sie hat aber hübsche rote Wangen, die rund unter ihren Augen liegen, und ihre Augen sind dunkelgrün und ganz ohne Wimpern. Rote Haare wachsen ihr bis ins Gesicht, um die Ohren und über den Augen, wie Gestrüpp in einem verlassenen Garten, schön und störend zugleich. Wenn ich Karine ins Gesicht sehe, sehe ich nichts, was ich kenne. Und wenn ich an ihr rieche, riecht sie nach weit entfernten Gegenden, in denen ich nie gewesen bin, und nach einer Luft, die mir nie durch die Haare und die Kleider gefahren ist. Ich kenne Karine, acht Jahre lebt sie nun in unserem Haus, sitzt mir beim Essen gegenüber, sitzt neben mir vor dem Fernseher, um dessen zwei Sender wir uns streiten, liest meine Bücher und schaut über das Feld, das um das ganze Haus liegt, in die Ferne, in die auch mein Blick oft genug geht. Aber ich kann nicht sagen, dass sie mir vertraut ist, und nicht, dass sie mir nah ist. Sie ist von irgend­woher gekommen, dazu gekommen, und ich habe gelernt, neben ihr zu sein.
  Neben ihr laufe ich die schwarze Straße hinunter, vor uns wachsen schon die Nachbarhäuser aus dem Horizont. Wir kommen an den ersten Garten, in dem Hage­butte sich breit gemacht hat, in dem ein ocker­farbener Wartburg steht. Hinter seinen ver­schmutz­ten Fenstern, die von Spinnen zugewebt wurden, sitzen Puppen mit Strohhüten. Die Puppen sind so groß wie wir, in ihre Gesichter wurden lächelnde Münder genäht und Knopf­augen gesteckt, unter den Hüten quillt Stroh hervor. Karine zieht das Tempo an. Ich blicke mich um und sehe unser Haus nicht mehr, es steht jetzt hinter dem dunkel­blauen Nebel. In den letzten Wochen füllte sich mein Bauch mit einem Gefühl, vielleicht einer Ahnung. Es ist mög­licher­weise Zeit, das Haus zu verlassen. Ich rede nicht darüber und Karine wird mir meine Gedanken auch nicht im Gesicht lesen, das beherrscht sie so wenig, wie beim Melken die Kühe zu beruhigen. Sie kann nichts mit Nähe anfangen.
  Das hohe Gras am Saum der Straße neigt sich unter der Feuchte, die sich wie Folie über die Halme gestülpt hat, hinten, wo die Straße ein Punkt ist, steht der Wasserturm. Mit meiner Mutter lief ich diese Straße entlang bis zum Wasserturm, dort pressten wir uns an die Mauer und schoben uns rundherum, auf dem Weg um den Turm zupfte meine Mutter Löwenzahn aus den Rillen des Backsteins und stopfte ihn in ihre Jackentaschen. Wenn oben das Licht ansprang, rannten wir, und immer, wenn wir an dem Wartburg mit den zwei Stroh­puppen vorbeikamen, fing meine Mutter an zu lachen und rannte weiter und atmete das Lachen weg und schnaufte nur noch wie eine alte Eisenlok. Du warst nie dabei, habe ich einmal zu Karine gesagt, du hast sie nicht so erlebt.
  Karine läuft vor mir und schlenkert mit den Armen, kurvt die Straße entlang, vom rechten zum linken Rand, und stolpert über ihre großen Füße. Seit die Kühe weg sind, ahnt sie es auch. Erst leerten sich die Häuser, auf den Straßen sah man keine Kinder mit Fahr­rädern mehr, dann blieben die Felder plan und die Traktoren in den Scheunen. Seit einigen Wochen schaltet sich nur noch jede dritte Straßen­laterne ein, es wird dunkler. Es ist Ende Oktober, doch das ändert nichts an der Tatsache, dass die Gegend trister ist als früher und nichts mehr zu holen ist auf den Feldern und aus den Gärten. Karine kann sich nicht mehr raus­reden mit dem Finger­zeig auf den Kalender, wir waren schon im Juli einsam.
  Unter der zerwühlten Erde des Ackers fanden wir keine Kartoffeln mehr, in den Ritzen des Wasserturms wuchert der Löwenzahn. Der Wasserturm steht schon lange leer, seit Monaten sitzt kein Licht mehr über dem Dorf, das höchste Licht kam aus dem Turm. Gleich daneben steht das Haus der Frau Rosamunde und sie wohnt noch hier, hat noch nicht aufgegeben, sie ist zu alt, um noch weg­zugehen. Was macht sie, wenn wir auch weg sind, fragt Karine. Wir stehen vor ihrem Haus, aus dem zerfallenen Schornstein steigen, wie sterbender Atem, langsam weiße Wolken. Ich drücke die Klingel und wir warten, jedes Mal ein bisschen länger, jedes Mal geben wir die Hoffnung beinahe auf. Dann schiebt sie ihren kleinen Kopf hinter der Tür hervor und wir rufen ihr in gleich­zeitigem Singsang unseren Abend­gruß entgegen. Sie hört nicht mehr gut und wir sprechen mit ungewohnten Stimmen. Über den unter leeren Flaschen, Zigarettenkippen und anderem Müll verschwin­denden Gartenweg staksen wir wie Störche zur Haustür. Als es hier noch Jugend gab, war es eines ihrer Spiele, mit ihrem Abfall die Fenster der alten Frau Rosamunde zu treffen. Niemanden kümmer­te das, die Jugend blieb noch lange nach den Räten und Beamten, die, so schnell sie konnten, ihre Versetzung erbaten. Ein Paradies für Halbwüchsige, bis die Lange­weile auch sie ver­jagte. Wir, Karine und ich, gehörten nie zur Jugend, obwohl wir zu der Zeit, als sie noch im Dorf unter den Laternen lungerte, genau im richtigen Alter waren. Weil unsere Mutter nicht normal war, gehör­ten wir weder zu den Erwach­senen noch zu den Kindern, am allerwenigsten aber zur Jugend.
  Frau Rosamunde backt und es riecht nach Rosinen und Eierlikör. Eierlikör auch in den kleinen zerkratzten Gläsern, die sie uns gleich an der Tür in die Hand drückt, ich kann so schnell nicht meine Sandalen ausziehen und lasse sie an den Füßen. Karine versucht gar nicht erst ihre Schuhe auszu­ziehen, sie quietscht in das Wohnzimmer und hinter­lässt nassdreckige Flecken auf dem klebrigen Lino­leum. Wie geht es eurer Mutter, fragt Frau Rosamunde, ich sehe sie ja immer im Kiosk an der Ecke, sie trägt ihre Zöpfe so lang, warum geht sie nicht mal zum Frisör? Es gibt seit Jahren keinen Kiosk mehr und die einzige Frisörin im Dorf traf im letzten Jahr ein töd­licher Schlag, als sie die längst veralteten Trocken­hauben ent­stauben wollte. Sie mag ihre Zöpfe eben, sage ich, und wir sollen Sie recht lieb grüßen, fügt Karine hinzu. Mir wird kalt. Eigentlich mache ich das nicht gerne, sitze nicht gerne hier und höre mir Geschichten aus verg­angen Zeiten an, als ständen sie noch immer direkt vor der Tür. Für Frau Rosamunde sind die Zeiten nicht vergangen, ihre ver­gilbten Gardinen ver­schleiern ihren Blick nach draußen, ihre aufge­schwemmten gelben Beine tragen sie nicht weiter als bis hinter ihre Haustür. Wie es im Dorf heute aussieht, kann sie nicht mehr erkennen, selbst wenn sie zwischen Tür und Rahmen nach draußen lugt, ihre Augen kneift das Alter längst fest zusammen, bald wird es sie ganz und gar schließen. Frau Rosamunde zwirbelt Karines Haare zwischen ihren blau­ädrigen Fingern, das muss sich Karine gefallen lassen, obwohl sie sagt, dass Frau Rosamunde genauso riecht wie Walter Schwarz­bein, unser Hund, der vor drei Jahren ver­schwand. Karine hat das nie verwunden. Nach dem Haare­zwirbeln gehen wir, und Frau Rosamunde spricht uns die herzlichsten Glückwünsche zum bestan­denen Schul­abschluss aus und bittet uns, das nächste Mal einen Kasten Malzbier aus dem Kiosk mit­zubringen, das trinkt sie schon seit ihrer Kindheit am liebsten. Wir nicken und sehen ihr nicht mehr in die Augen, heben unsere Knie durch den Garten bis zum Tor und sehen über den Dächern den Mond hängen, wie durch grüne Folie gefil­tert. Ich denke an das wachsende Gras und bekomme Angst, dass wir in Frau Rosamundes Wohn­zimmer die Jahre nicht bemerkt haben, wie sie weiterliefen. …
Karoline Menge   2013   

 

 
Karoline Menge
Prosa