POETENLADEN - neue Literatur im Netz - Home
 
 
 
 
 
 
 
Johanna Hemkentokrax
Schlangenbach
Zum Schlangenbach dürfen sie jetzt nicht mehr allein, sagt Andrea, und ich weiß, allein heißt, wir dürfen gar nicht mehr hin, weil Oma heute backen und auf keinen Fall zum Schlangenbach gehen will.

Sie wird uns in den Garten schicken wie letzte Woche, und die Woche davor, Johannisbeeren pflücken und auf Arne aufpassen, der immer die Beeren in den Teich wirft. Johannisbeeren sind schwer zu pflücken, weil Oma nur die reifen haben will. Wenn man die einzeln von den Stielen nimmt, platzen sie zwischen den Fingern, und ich werd Ärger kriegen zu Hause, weil mein T-Shirt dreckig ist. Wenn grüne dabei sind, meckert Oma, Verschwendung, sagt sie, da hätte ich nächste Woche noch Kuchen für euch machen können. Auf Arne aufpassen ist auch kein Spaß. Der setzt sich neben die Schüsseln, wenn man nicht hinguckt, und wirft nur die Reifen in den Teich, weil die groß sind und auf dem Wasser klatschen. Ich kann ihm keine runterhauen, weil er nicht mein Bruder ist, also guck ich Till an, aber der ist zu feige, weil Arne ja sein Bruder ist und Andrea ihm eine runterhauen wird, wenn sies rauskriegt. Till guckt mich an und sagt, hau du ihm eine runter, du bist bloß seine Cousine, dir kann Mama nichts tun. Blödmann, sag ich, du bist eh schuld, dass wir immer aufpassen müssen, ist doch dein Bruder. Ich nehm Arne die Schüssel weg und hebe die Hand. Eine Beere noch und ich knall dir eine, du Baby. Da fängt er an zu heulen, und Oma kommt aus der Terrassentür, als ob in ihrem Garten was explodiert wär, und fragt, was ist hier los, und Arne brüllt, die hat mich gehaun, und Oma guckt mich an, als ob ich jemanden umgebracht hätte und sagt, dein Stück Kuchen kriegt Arne heute Nachmittag, und der hört sofort auf mit Heulen, und Oma sagt, komm in die Küche Arne, wir zwei backen einen schönen Kuchen zusammen.

Als Arne weg ist, kriecht Till in die Büsche und tut so, als ob da die dicksten Beeren sind, dabei hat er bloß Schiss, weil er weiß, dass ich sauer bin.

Ich weiß, dass Till heute zum Schlangenbach will, weil da vor drei Tagen einer gestorben ist. Andrea ist immer noch wütend auf Oma, weil sies uns erzählt hat. Till quengelt und sagt, dass er am Schlangenbach angeln will, dabei weiß doch jeder, dass da gar keine Fische drin sind. Ich guck ihn an und will ihn noch warnen, aber er dreht sich weg, weil er weiß, dass ich weiß, dass er lügt. Andrea und Oma fallen drauf rein. Na gut, sagt Andrea, aber ihr dürft nicht auf die Gleise und hört auf Oma, sonst gibts Ärger. Jetzt ist Oma sauer, weil sie gleich Kuchen backen wollte. Und Arne bleibt hier, sagt Andrea, Oma kann nicht auf drei aufpassen, benehmt euch bloß. Ich merk, wie Andrea mich anguckt. Wenn Mama nicht arbeiten wär, müsste ich dableiben, weil Arne immer mit dabei sein muss, obwohl er viel kleiner ist. Aber Mama ist weg, und Andrea passt lieber auf Arne auf, weil der nicht soviel Ärger macht wie Till und ich.


Heute ist ein heißer Tag, und die Sonne flimmert auf den Gleisen am Schlangenbach, als ob da überall Wasser wär. Es kommt kein Zug, und erstmal müssen wir sowieso zum Bach runter, wo Schatten ist, weil Till sich eine Angel schnitzen muss, damit Oma nicht merkt, dass er gelogen hat. Ich setze mich ans Ufer auf einen Baumstumpf und seh Till zu, wie er sein blödes Spiel spielt. Er sucht einen langen Zweig aus, schneidet ihn mit dem Taschenmesser ab und schnitzt eine Kerbe rein. Dann knotet er einen Faden dran und hängt eine Büroklammer als Haken ans andere Ende. Ich ziehe meine Sandalen aus und halte die Füße ins Wasser. Die Steine im Bach sind glitschig und voll mit rotbraunen Algen. Das kommt von den Abwässern, hat Papa gesagt, die färben die Algen so. Die Getränkefabrik oben hinter der Siedlung lässt ihr Schmutzwasser in den Schlangenbach. Früher hab ich immer gedacht, dass die da Cola- und Fantareste reinlassen. Ich rutsche mit den Zehen auf den Steinen rum und frag mich, ob die auch auf die Haut abfärben können. Mama hat gesagt, dass man von Bachwasser, das verseucht ist, Allergien bekommt. Wenn ich heute Abend mit gefärbten Füßen nach Hause komme, geht sie morgen gleich mit mir zum Arzt. Ich nehm also die Füße wieder aus dem Wasser. Oma sitzt neben Till im Gras, der seine Angel in den Bach hält. Er hat einen Grashalm abgerissen und steckt ihn in den Mundwinkel, das hat er aus Tom Sawyer, und Oma nimmt ihn ihm weg und sagt, das macht man nicht, das ist unhygienisch, da haben die Hunde draufgepinkelt. Was ist u-n-h-ü-g-i-e-n-i-s-c-h? , fragt Till, weil er Zeit schinden will und sich nicht traut, Oma wegen der Gleise zu fragen. Die will was sagen, aber ich bin schneller, unhygienisch ist, wenn du in der Nase popelst und es dir hinterher in den Mund steckst. Till wird rot, und Oma ruft, so redet man doch nicht, wer hat dir denn das beigebracht?

Wir sitzen bestimmt eine halbe Stunde so da, und mir ist langweilig, und Oma fragt immer wieder, na, hast du einen Fisch gefangen? Und beim fünften Mal ruft Till doch tatsächlich, da ist einer, wenn ich den fang, brate ich ihn heute Abend für dich. Oma glaubt ihm, weil sie nicht mehr so gut gucken kann ohne Brille, und freut sich, weil er den Fisch für sie fangen will. Aber Till zieht ein Gesicht und sagt, Mist, jetzt ist er weg. Oma tätschelt ihm den Kopf, und sagt, ist doch nicht so schlimm, beim nächsten Mal fängst du bestimmt was, jetzt müssen wir aber nach Hause. Sie will nach Hause, Kuchen backen und fernsehen, und Till und ich müssen Johannisbeeren pflücken. Ich guck zu Till rüber, der jetzt hektisch an der Angel zieht, und Oma steht schon auf, da traut er sich doch und sagt, erzähl uns noch mal von dem Jungen auf den Gleisen. Oma schüttelt den Kopf und sagt, nein, ich hab euch schon viel zuviel erzählt, Mama wird sonst böse. Das wars, denk ich, ab in die Johannisbeeren, doch Till gibt so schnell nicht auf, bitte, wir sagens ihr auch nicht, und danach können wir auch gleich nach Hause, ne, Johanna? Er guckt mich an, und Oma guckt mich auch an, und ich weiß, dass sie an die Sendung mit dem Fernsehpfarrer denkt, die um vier anfängt. Ich seh auf meine Flick- Flack Uhr. Kurz vor halb vier. Also haben wir noch ne halbe Stunde, Rückweg zehn Minuten, macht zwanzig Minuten Zeit dazwischen, fünf Minuten erzählen, zwei zum Überreden und dann noch dreizehn auf den Gleisen. Och bitte, fünf Minuten nur Oma, sag ich, wir kommen dann auch wirklich mit. Jetzt wird Till für mindestens eine Woche alles machen, was ich ihm sage. Fünf Minuten sind in Ordnung. Oma setzt sich wieder hin, und Till tut weiter so, als würd er angeln, und Oma sagt, der Junge, das war einer aus der Siedlung, der war so alt wie ihr. Nach der Schule ist er hier Spielen gegangen, auf den Gleisen mit zwei Freunden. Die waren hier unten am Bach, und der Junge ist allein auf den Gleisen gelaufen und hat nicht gemerkt, wie der Zug kam, da hinten bei der Kurve, hinter den Büschen, da hat er ihn nicht gesehen. Das war der vierzehn Uhr Zug, ein Schnellzug. Und als er ihn gehört hat, da war es schon zu spät. Hundert Meter weit hat der Zug ihn mitgeschleift, das stand in der Zeitung am nächsten Tag. Seinen Schulranzen haben sie zweihundert Meter von den Gleisen weg gefunden.

Ich krieg eine Gänsehaut auf den Armen. Till reißt die Augen auf und die Angel aus dem Wasser. Können wir mal gucken gehen, fragt er, klar, dass Oma sagt, kommt gar nicht in Frage, das ist nichts für euch, da kriegt ihr nur Alpträume von.

Die Gänsehaut geht nicht weg, und ich denk, dass es vielleicht doch besser ist, hier zu bleiben am Bach und Fische zu fangen, die es nicht gibt, oder in die Johannisbeeren zu gehen, als auf die Gleise, wo ein Ranzen zweihundert Meter weit geschleudert werden kann. Ich seh in Tills Augen, dass er kein bisschen Angst hat. Die hat er nie, außer manchmal vor mir oder Andrea, aber tote

Sachen machen ihm keine Angst.

In seinem Zimmer steht ein Regal, das Paule ihm gebaut hat, da sammelt er Knochen drin, die er findet. Zuerst warens bloß Ratten- und Mäuseköpfe, dann mal eine Rehschulter aus dem Wald, und später der Kopf von einem Schäferhund, und die Wirbelsäule von einem kleinen Seehund aus dem Meer. Letzten Sommer waren wir alle im Urlaub auf einer Insel, und Till hat im Strandgut einen Knochen gefunden, der aussah wie ein Stück vom Bein von irgendwas, alt und gelb, mit lauter kleinen Löchern drin. Der muss richtig alt sein, hat Till gesagt, das sind die Knochenporen, wenn man die so doll sehen kann, dann hat der lange hier gelegen. Papa hat den Knochen angeguckt und gesagt, das ist der Oberschenkelhals von Klaus Störtebeker, das war der größte Pirat zwischen Nord- und Ostsee. Als sie ihn gefangen haben, wollten sie ihn köpfen und er sollte ohne Kopf an seiner Mannschaft vorbeilaufen. Die, an denen er vorbeilaufen konnte, sollten freigelassen werden, und das hat er dann auch gemacht. Sie haben ihm also den Kopf abgeschlagen, und er ist an elf von seinen Leuten vorbeigegangen, ohne Kopf. Bevor er am zwölften vorbei war, hat ihm einer der Scharfrichter ein Bein gestellt, und er ist hingefallen und war tot, aber vorher hat er elf Menschen das Leben gerettet, hat Papa gesagt. Klar, dass Till auf die Geschichte mit dem Piratenknochen reingefallen und sofort los ist, um ihn Paule und Andrea zu zeigen. Ich hab Papa gefragt, warum er so was erzählt, wenns gelogen ist, wo man doch nicht lügen soll, und er hat gesagt, klar war das gelogen, aber so ein Heldenknochen, das ist schon was, und nur wir beide wissen, dass das in Wirklichkeit der Knochen von einem Maultier ist, das mal einem dänischen Bauern gehört hat, bis es zusammengebrochen und ins Meer gefallen ist. Ich hab so getan, als ob ich ihm das glauben würde, aber immer wenn ich den Knochen im Regal sehe, dann wird mir komisch, weil ich nicht weiß, woher er wirklich kommt.

Oma hat jetzt gemerkt, dass Till nur wegen dem toten Jungen zum Bach gewollt hat und sagt, da gibts sowieso nichts mehr zu sehen, das hat die Polizei alles schon weggeräumt. Dann können wir ja auch hin, sagt Till, und Oma ist erstmal ratlos, aber mir wird richtig komisch, wenn ich an den Ranzen denke, der so weit geflogen ist, und darum sag ichs, bevor Oma es macht, lieber nicht, das ist bestimmt gefährlich, und wenn Mama das rauskriegt, wird sie wütend. Till guckt mich an, Verräterin, jetzt ist er bestimmt für mindestens eine Woche stinksauer auf mich. Siehst du, sagt Oma, und ich weiß, dass ich heute Nachmittag auf jeden Fall Kuchen krieg, selbst Johanna hat Angst, obwohl sie älter ist als du, wer weiß, was du danach erst für Alpträume hast. Till sieht aus, als würd er gleich anfangen zu heulen. Johanna ist ja auch ne feige Kuh, gar nicht wahr, red nicht so mit deiner Cousine, ist aber so, du kannst mich mal, du Blödarsch, solche Wörter sagt man nicht, ich schon, so ein hübsches Mädchen, und so ein hässliches Wort; ich bin keine feige Kuh, nicht die Zunge raus strecken, irgendwann bleibt dein Gesicht so stehen, ich bin nicht feige, bist du wohl, ach, hau doch ab, hau du doch ab, wolltest ja eh gehen, feige Kuh, hört auf zu streiten, sonst erzähl ich das alles heute Abend der Mama, sags seiner, er will doch auf die Gleise, Verräterin, lass sie sofort los, niemand geht hier auf die Gleise, beinahe hätte ich euch gelassen, aber das mach ich nur mit lieben Kindern, die sich vertragen.

Jetzt ist es vorbei, Oma packt uns beide am Arm und los, Till wirft die Angel in den Bach, und Oma schimpft, das nächste Mal nehm ich Arne mit, der ist klein und süß und nicht so ungezogen wie ihr, und Till sagt, guck mal in deinen Teich, und da muss ich lachen, und er auch, und wir lassen uns ins Gras fallen und hängen an Omas Armen, die nicht weiß, was eigentlich los ist, und versucht, uns weiter zu ziehen. Der Nachmittag ist jetzt eh vorbei, und heute Abend gibts richtig Ärger, da können wir auch gleich liegen bleiben, aber jetzt ist Oma kurz vorm Losheulen, ihre Unterlippe fängt schon an zu zittern. Andrea sagt, dass Oma keinen Streit mehr verträgt, weil sie so alt ist und den Krieg erlebt hat. Ich glaub, dass Oma Streit nicht vertragen kann, weil sie einen Zwillingsbruder und noch einen anderen Bruder hatte, und die sind im Krieg gestorben, und wahrscheinlich hat sie sich selber so oft mit denen gestritten, dass sie bei uns immer dran denken muss. Wenn Till tot wär, würd ich ihn auch vermissen, obwohl er manchmal richtig dämlich sein kann. Ich stell mir vor, wie er durch die Luft fliegt, und es tut mir leid, dass ich ihn Blödarsch genannt hab. Wenn er stirbt, werd ich mir das nie verzeihn können. Ohne dass Oma groß was sagen muss, sag ich, tut mir Leid, und Till gibt mir die Hand, und Oma freut sich und sieht nicht, dass er mir dabei mit den Fingernägeln in die Handfläche kneift.

Auf dem Rückweg müssen wir die Gleise überqueren. Am Bahndamm führt ein Erdweg hoch, da sind Stufen reingetreten. Auf dem Hinweg ist Oma trotzdem fast gefallen, und hat sich an mir festhalten, und gesagt, dass sie sich noch den Oberschenkelhals bricht mit uns, und ich hab an den Knochen am Meer denken müssen, der in Tills Regal liegt. Jetzt ist die letzte Chance, und Till fängt noch mal an zu quengeln, bitte lass uns hier ein bisschen drauf gehen, wir können auch da hinten runter, das ist doch gar kein Umweg. Oma will nur noch ihre Ruhe haben, und der Fernsehpfarrer kommt erst in einer Viertel Stunde, also sagt sie ja, aber seid schön vorsichtig, dass ihr nicht hinfallt oder euch irgendwo festklemmt, wenn dann ein Zug kommt, könnt ihr nicht weg springen. Ich weiß genau, was sie meint, ich hab mal einen Film gesehn, da hat sich ein Junge mit dem Fuß im Gleis festgeklemmt, und der Zug hat ihn dann überfahren. Also geh ich immer in der Mitte auf den Balken, bloß nicht in die Zwischenräume treten. Till läuft weiter vorn, dem ist das egal, der hat keine Angst vorm Festklemmen und vor Zügen. Er guckt die ganze Zeit nach links und rechts, und ich weiß, dass er nach Spuren von dem toten Jungen sucht, und plötzlich ruft er was und hockt sich hin, und ich weiß, dass er was gefunden hat. Oma weiß das auch und schreit, ihr kommt sofort da runter, ich mein das ernst, sofort da runter, sonst komm ich hoch. Doch ich kann jetzt nicht mehr auf sie hören, und Till erst recht nicht, der fasst da was an, und mir wird wieder richtig komisch, mein Bauch wird ganz kalt, und ich fang an zu rennen, ohne nach unten zu gucken, trete zwischen die Balken, egal jetzt, ich will wissen, was da ist. Oma versucht den Bahndamm hochzuklettern, wo keine Stufen sind, und kreischt die ganze Zeit, dass das nichts für Kinderaugen ist, dabei hat sies selbst noch nicht gesehn. Und dann bin ich an der Stelle, wo Till hockt, und da sind dunkle Flecken auf dem Beton gleich neben den Schienen. Die sind verschieden groß, wie Geldstücke, Pfennigstücke und ein paar Markstücke. Die Farbe ist wie die von den Algen im Bach, nur viel dunkler. Till flüstert, das ist Blut, und ich sag, die Polizei hat doch alles weggemacht, und er sagt, die machen doch nicht jeden Blutfleck weg, das würd ja ewig dauern. Da drüben, sagt er, da drüben liegt ein Stückchen Fleisch, ich glaub, da ist auch Knochen dran. Ich guck an die Stelle, wo er hinzeigt, und mir wird noch kälter. Da ist wirklich ein Stückchen Fleisch, nicht größer als eine Fingerkuppe, ganz dunkelrot und eingetrocknet, mit was Weißem drin, und mir wird schlecht, als ich das seh, aber weggucken kann ich auch nicht. Das ist was von dem Jungen, sagt Till, und seine Stimme ist ganz leise und ein bisschen rau, und ich kann nicht glauben, dass das mal zu einem Menschen gehört hat. Alles wird taub, als ich so auf das Stückchen Fleisch gucke und denke, dass ich genauso hier rum liegen könnte. Ich will von diesen Gleisen weg, kann mich aber nicht bewegen, weil alles so taub ist, aber Oma hat es endlich den Bahndamm hoch geschafft und kreischt jetzt wie nur was. Weg da, weg da, ihre Stimme bricht immer wieder, so schrill kreischt sie, und dann packt sie uns an den Armen, zerrt uns weg von den Flecken, hoffentlich hat sie das Stückchen Fleisch nicht gesehen, und schreit, das ist von einem Tier, weg da, das ist von irgendeinem Tier, Till, hast du da was angefasst? Till nickt, weil ihm keine Zeit zum Lügen bleibt, und da haut sie ihm eine runter und schreit weiter, das darfst du nicht, dass ist unhygienisch, wir gehen jetzt nach Hause, da wäschst du dir die Hände und dann back ich euch einen schönen Kuchen mit Johannisbeeren. Ich seh, dass sie Tränen in den Augen hat, weil sie an den Krieg denken muss und an ihre Brüder. Ich weiß, ich werd nie wieder Johannisbeerkuchen essen, im ganzen Leben nicht. Oma zerrt uns den Bahndamm runter, so schnell, dass Till hinfällt. Unten wird mein Bauch wieder warm, und ich muss kotzen. Oma hält mir die Haare aus dem Gesicht und weint dabei jetzt richtig, und Till sagt gar nichts, der hat noch eine ganz rote Backe von der Ohrfeige, aber seine Augen leuchten wie im letzten Sommer, als er den Piratenknochen gefunden hat.

Als ich fertig bin, holt Oma ein Taschentuch aus ihrer Strickjacke, und wischt erst sich die Tränen ab, und mir dann die Kotze vom Mund. Das ist irgendeine Katze gewesen, sagt sie so leise, dass ich sie fast nicht verstehn kann, das ist eine entlaufene Katze, auf die jetzt jemand zu Hause wartet, der sie ganz furchtbar vermisst. Der Frau aus der 47 ist neulich eine weggelaufen, vielleicht geh ich gleich mal rüber und sag ihr Bescheid. Till will was sagen, aber ich trete ihm gegens Bein. Und dann back ich euch den Kuchen, redet Oma weiter, und das tut sie den ganzen Weg nach Hause, erzählt uns alles mögliche, aber ich hör ihr nicht zu, weil ich immer an das Stückchen Fleisch auf den Gleisen denken muss und an die Flecken und an den Ranzen im Feld.

Die Sendung mit dem Fernsehpfarrer ist schon halb vorbei, als wir bei Oma ankommen, jetzt lohnt sichs auch nicht mehr, sagt sie und lässt uns MTV gucken, was wir sonst nie dürfen. Sie klappert in der Küche, und der Mixer brummt laut, und der Ofen summt leise, sie nimmt gefrorene Johannisbeeren für den Kuchen, und irgendwann kommt Andrea uns abholen, und wir hören, wie Oma ihr in der Küche alles erzählt, und Andrea sie anschreit, warum sie uns das erlaubt, wo sie es doch verboten hat, und Oma sagt was, was ich nicht verstehe, und dann vertragen sie sich wieder. Andrea kommt zu uns ins Wohnzimmer und gibt uns beiden einen Kuss auf den Kopf. Jetzt ist Schluss mit MTV, dafür seid ihr noch zu jung, sagt sie, hört sich aber nicht böse an. Wir gehen in die Küche, und Oma und ich gucken zu, wie Andrea und Till Kuchen essen. Mir wird schlecht von dem Geräusch, das die Johannisbeeren zwischen ihren Zähnen machen, und aus Tills Mundwinkel kommt ein bisschen Sahne raus. Der tote Junge wird nie wieder Kuchen essen. Ich frag mich, ob er das weiß, und ob man dann, wenn man tot ist, überhaupt noch was weiß. Oma fragt, ob ich Cola will, das hilft gegens Schlechtsein, und Andrea streichelt mir den Rücken.

Zuhause erzählt sie Mama nichts, das ist auch gut so, sie würde Oma richtig umbringen, das weiß Andrea auch und sagt deshalb nichts, glaub ich. Zum Abendbrot kann ich immer noch nichts essen, und Till geht ohne groß Theater zu machen ins Bett, da bleibt Andrea das Meckern im Hals stecken. Mama sagt, dass ich krank bin von dem Bachwasser, und dass wir morgen ganz früh zum Arzt gehen, weil mit so was nicht zu spaßen ist. Ich fang erst wieder an, so richtig an den Jungen zu denken, als ich in meinem Bett lieg, und alles dunkel ist, und ich frag mich, ob dass so ist wie tot sein, wenn alles so dunkel ist, und ob man dann noch denken kann, dass das jetzt dunkel ist.

 

Johanna Hemkentokrax    15.09.2008   
Johanna Hemkentokrax
Prosa
Reportage