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Mahljahre
für Elfriede

Roman  |  1. Kapitel

Johann Linz ist Schriftsteller und befindet sich in einer Schaffens- und Beziehungskrise. Er beschließt, ins Land seiner Herkunft zu reisen, und erhofft sich davon einen kreativen Schub. Nach einigen Schwierigkeiten, die Johann Linz während eines längeren Aufenthalts im Dorf seiner Kindheit und Jugend übersteht, entpuppt sich das Buch am Ende als Roman im Roman, frei nach Kaschnitz' „Beschreibung eines Dorfes“, wo das Ende zum Anfang weist mit dem Vorhaben, eines Tages über das Dorf schreiben zu wollen.

I

Das Fenster konnte offen bleiben, denn mit Regen war nicht zu rechnen. Johann Linz stand ausgehbereit an der Tür seines Zimmers und ertappte sich dabei, wie er lauschte, ob auf dem Flur Geräusche zu hören waren, obwohl er zur Zeit der einzige Gast in der Vier-Zimmer-Pension war und von Frau Klein, der Wirtin, wußte, daß sie erst morgen wieder neue Gäste erwartete.
Was sollte das schon wieder? Er trat auf den Flur und hantierte beim Abschließen umständlich mit den Schlüsseln. An den Anhänger aus Holz hatte er auch die von zu Hause angebracht. Wann lernst du endlich, dich normal zu verhalten? Diese Zurechtweisung hätte von Agnes stammen können. Es war ärgerlich, daß ihm seine Frau ausgerechnet in dem Zusammenhang einfiel.
Frau Klein kam mit Eimer und Schrubber die Treppen hoch, sie grüßten einander, Johann Linz täuschte Eile vor und schob sich an ihr vorbei, um nicht wieder in ein Gespräch verwickelt zu werden. Man hätte nicht behaupten können, daß Frau Klein aufdringlich war, aber der nicht alltägliche Gast hatte ihre Neugierde geweckt: er hatte für unbestimmte Zeit gebucht, gebeten sein Zimmer nur auf Wunsch aufzuräumen und darauf hingewiesen, daß er wichtige Post erwartete.
Die Post! Das war das Stichwort für die Geschichte, die sie ihm gestern erzählt hatte. Nichts habe mehr funktioniert, die Niederlage und das Ende des Krieges seien augenscheinlich gewesen, da habe ihr Sohn noch im April 1945 einen Einberufungsbefehl erhalten, Züge aber seien keine mehr verkehrt und so sei er, Gott sei Dank, zu Hause geblieben und in den Volkssturm eingereiht worden.
Als Lyzeaner gierte Johann Linz nach solchen Geschichten und war ein geduldiger Zuhörer. In seinem Heimatdorf gab es Leute, die Vertrauen zu ihm gefaßt hatten und ihm mit leiser und eindringlicher Stimme von der Kriegs- und Nachkriegszeit erzählten, von Vorkommnissen, über die in den Schulbüchern nichts stand. Schon als Kind, erzählte ihm später seine Mutter, sei er mit Sicherheit dort anzutreffen gewesen, wo zwei Leute beisammen standen. Und deshalb habe er alle Neuigkeiten aus dem Dorf gewußt.

Johann Linz ging auf der lang gezogenen, schmalen Straße, die praktisch keinen Gehsteig hatte und in den neu gestalteten Ortskern mündete. Von dort war es nicht mehr weit bis zur Post. Seine Pension lag am Rande von Edenkoben, und hier begann das Edenkobener Tal, das Ziel der Reisebusse. In der engen Straße durch die Ortschaft war bei Gegenverkehr die Geschicklichkeit der Fahrer gefragt, Unfälle aber schien es so gut wie keine zu geben, und wenn welche passiert wären, hätte Frau Klein ihm bestimmt davon berichtet.
Er war nun seit einer Woche hier, davongelaufen von zu Hause, und hatte das Zimmer nur verlassen, um einmal am Tag etwas zu essen: Pizza an der ersten Ecke, ein Gericht im chinesischen Fastfood Lokal am alten Marktplatz, Bratwurst an einem Imbiß am Bahnhof, der eine halbe Stunde Fußweg von seiner Pension entfernt lag. Im mitgebrachten Emailletöpfchen kochte er sich Kaffee auf dem Zimmer. Heute Morgen war der Tauchsieder kaputt. Vielleicht hatte es auch nur die Sicherung herausgeschlagen. Aber das Licht brannte doch!

Dieses Tagesprogramm hatte er sich auferlegt, um sich zum Schreiben zu disziplinieren. Bisher war nichts Nennenswertes entstanden, trotzdem hielt er sich stoisch daran. Die Geschichten, die ihm durch den Kopf schwirrten, erzählten sich in Gedanken so leicht, nahmen sich aber nach ihrer Niederschrift eher kläglich aus. So verbrachte er den Großteil seiner sich auferlegten Arbeitszeit damit, in Gedanken Handlungsabläufe miteinander zu verknüpfen, in der Hoffnung, daß jenes Glücksgefühl, das dabei sporadisch aufkam und das er bis dahin nicht gekannt hatte, immer häufiger einsetzen würde.
Bisher hatte er die Gegend auf dem Faltplan der Verbandsgemeinde Edenkoben erkundet, der auf seinem Zimmer lag. Auf den Rückwegen vom Essen war er durch die Weinrebenpflanzungen auf befestigten Wegen gegangen und hatte nun eine Ahnung, wie Plantagen aussahen. Weinreben soweit das Auge reicht, gegen Osten bis hin zur Oberrheinischen Tiefebene, gegen Westen bis zum Naturschutzgebiet Pfälzer Wald, ein Gebiet, über das die Düsenjäger zu Übungszwecken im Tiefflug hinwegdonnerten. Aus seiner angestammten Gegend, der Banater Ebene, kannte er die Weingärten, eingebettet zwischen Klee-, Weizen-, Sonnenblumen- und Maisfelder, durch die er als Kind gestreift war.

Von seinem Fenster aus sah er nachts die Umrisse des beleuchteten Hambacher Schlosses. Erst seit gestern konnte er sich die Präsenz eines Standbildes Ludwig I von Bayern auf dem alten Marktplatz erklären. Der stets schlecht gelaunte Wirt am Bahnhofimbiß debattierte mit einem älteren Herren über die Willkür politischer Entscheidungen, und sie bedauerten schließlich die Loslösung der Pfalz von Bayern, waren sich darin einig, daß der König ein volksnaher Herrscher gewesen war, dessen Popularität bis heute unübertroffen blieb.
Ähnliche Zuordnungsschwierigkeiten hatte er mit der Brunnenfigur im neugestalteten Ortskern, die er auf Anhieb als Lederstrumpf identifizierte. Eine reiche Gemeinde könne sich so etwas leisten, dachte er, bis er auf der Tafel am Brunnenrand las, daß ein nach Amerika ausgewanderter Bürger aus Edenkoben, J.F.Cooper, als literarisches Vorbild gedient hatte. Der Gestalt mit Jagdbeute und dem Gewehr, aus dem Wasser floß, leistete der Maler Max Slevogt Gesellschaft.

Frau Klein hatte Johann Linz bisher nicht dazu bewegen können, Näheres über seine Person preiszugeben, obwohl sie ihrerseits alles tat, um ihn aus der Reserve zu locken. Es war doch augenscheinlich, daß sie ihm nur deshalb unaufgefordert und in Happen Familiengeschichtliches erzählte: Sie sei die Besitzerin von Haus und Hof, ihre Tochter aber führe die Geschäfte und arbeite bei der Stadtverwaltung Neustadt, der Sohn sei nach dem Krieg nach Amerika ausgewandert, ihr Schwiegersohn vor zwei Jahren tödlich verunglückt, die Weinberge hätten sie in Pacht gegeben. Diese Übernachtungsmöglichkeiten hier seien nicht Pension, sondern Gästezimmer zu nennen, und die gesamte Region lebe von Weinbau und Tourismus, hatte sie ihn aufgeklärt.

In Edenkoben gab es an jeder Ecke Hinweisschilder: Weingut..., Gästezimmer. Johann Linz war mehr oder weniger zufällig hier gelandet. Ein Schriftstellerfreund, der die Region von früher her kannte und den es immer wieder hierher zog, obwohl er das gegenwärtige Aussehen der Gegend seiner Jugend grauenvoll fand, empfahl er sie jedem als ideale Zuflucht. Die Handlung einer seiner Romane spielte in Edenkoben und Umgebung, und der Autor hatte sich wegen seiner kritischen Haltung den Unwillen der Bewohner zugezogen. Als sie sich darüber unterhielten, ob ein Roman den Ort seiner Handlung nennen und genau beschreiben sollte, vertraute er ihm an, daß man anhand seines Romans die Region erwandern konnte. Der Roman als Reiseführer? Die unwillige Handbewegung des Freundes war Johann Linz gegenwärtig.

Schriftstellerfreund! Unzeitgemäß. Nicht stromlinienförmig. Letzteres erinnerte ihn an das das einst lebensbedrohliche: Nicht linientreu. Es ärgerte ihn jedes Mal, wenn er der schon fast krankhaften Neigung zu dergleichen Assoziationen wieder mal erlegen war. In solchen Fällen half nur, den Hebel einfach umlegen. Heute also war der 1. August 1997, ein Freitag, der erwartete Brief nicht eingetroffen. Frau Klein hätte sich die Gelegenheit, ihn persönlich zu überreichen, nicht entgehen lassen. Frühestens Dienstag konnte er damit rechnen, denn solche Briefe trafen nie samstags ein und wurden zu Wochenbeginn abgeschickt. Hoffentlich hatte es mit dem Nachsendeantrag geklappt, den er gleich am Tag seiner Ankunft bei der Post abgegeben hatte.

Als seine Frau ihm nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes mitgeteilt hatte, sie habe sich ein eigenes Girokonto angelegt, über das Geld auf dem alten könne er verfügen, war er wie vor den Kopf geschlagen. Und sie hatte hämisch hinzugefügt, daß er nun endlich ausschließlich der Schriftstellerei nachgehen, sich irgendwohin zurückziehen könnte, wohin wolle sie nicht wissen. Er wunderte sich auch heute auf dem Weg zur Post wieder, wie ruhig und gelassen er alles hingenommen hatte. Vor Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Er hätte sich zu wehren versucht, ihr vorgeworfen, daß sie von seiner schriftstellerischen Arbeit nichts verstünde, daß Geld nicht die Hauptsache im Leben sei und vielleicht die Frage gestellt: Und was wird von dir bleiben? Stattdessen hatte er die Reisetasche gepackt und sich aus dem Staub gemacht, nachdem sie die Wohnung verlassen hatte. Lächerlich!

Die Schuld für seine beruflichen und literarischen Mißerfolge den Umständen und anderen in die Schuhe zu schieben, war er leid. Wenn sich schon ein Beispiel nehmen, dann doch an den Zielstrebigen unter den Schriftstellern, nicht die an denen, die in ihrem Werk auf- und untergegangen waren. Er glaubte, erkannt zu haben, daß innere Ruhe eine Voraussetzung war, um über Schmerzhaftes schreiben zu können. Wenn er sich selbst gegenüber aber ehrlich war, ließen seine Vorhaben, die in keiner unmittelbaren Verbindung zueinander standen, diese Zielstrebigkeit vermissen, alles war nur vager Ansatz.
Eine Woche würde er noch in der Pension bleiben, bis dahin mußte der Einstieg in den Roman gelingen, dann war die größte Hürde genommen. Unabhängig davon aber würde er nach dieser Woche als Taglöhner arbeiten, um nicht weiterhin vom Konto zu zehren. Bald begann die Obst-, dann die Traubenernte. Von Gehöft zu Gehöft ziehen bis in den Spätherbst. Schwarzarbeit! Ihm würde man es nicht so schwer machen wie den illegal arbeitenden Ausländern. Wenn Dienstag die Zusage eintreffen sollte? Ja, dann...

Er hatte vor zwei Monaten, als er ahnte, daß seine Arbeitsstelle in der Bücherei wegrationalisiert werden würde, ein Stipendium beantragt für ein Buch, dessen Handlung in Rumänien, seinem Herkunftsland, spielen sollte. Für andere Schriftsteller waren Anträge auf Arbeitsstipendien etwas Alltägliches, er aber tat sich schwer damit. Er war nicht glücklich darüber, daß er seine Reise nach Rumänien von der Gewährung des Stipendiums abhängig gemacht hatte. Vor zehn Jahren hatte er das Land verlassen, war bisher noch nicht zu Besuch gewesen, obwohl es ihm ab 1990 problemlos möglich gewesen wäre. Und da machte er seine Entscheidung von anderen abhängig, überließ sie einem Gremium, das damit doch gar nichts zu tun hatte. Eigentlich hätte er mit dem gegenwärtigen Betrag auf dem Konto mehrere Monate dort bleiben, bei Freunden wohnen können. Warum eigentlich nicht? Er würde für Logis und Kost bezahlen, bei dem Wechselkurs kein Problem. Erst mal bis Dienstag abwarten. Wenn es klappen sollte, wäre es wunderbar! Wenn...

Das Leben nicht nach Wenn Sätzen einrichten, das waren doch nur Ausweichmanöver. Planen. Sein Leben planen! Ein schauderhafter Gedanke.
Ein Bus kam ihm entgegen, hinter sich hörte er das Tuckern eines Traktors. Johann Linz stellte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Aus dem vorbeifahrenden Bus winkte ihm eine ältere Dame zu, er winkte zurück. Gesten der Freundlichkeit. Der Traktor mit Anhänger, von einer Frau gelenkt, überholte ihn. Würde sie auch zurückwinken?
Weingut, Weinprobe, Sektkellerei, Gästezimmer. Schilder auf beiden Seiten. Die lange, lange Straße lang.
Ob Herbert wohl den Band mit dem Gesamtwerk Borcherts bei seiner Ausreise 1991 mitgebracht hatte? Es war ein Abschiedsgeschenk. Herbert hatte sich telefonisch aus Reutlingen gemeldet. Die Freude war echt, bei dieser Kontaktaufnahme war es aber geblieben. Das Gespräch bestand aus Erinnerungen: Weißt du noch? Erinnerst du dich noch? Im nachhinein war ihm, als hätten sie wie zwei Kriegsveteranen miteinander gesprochen: diese Leichtigkeit des Erzählens über die einstigen täglichen Bedrohungen und Schikanen. Diese sonderbare Freude des Wiedersehens, auch mit Leuten, denen man zu Hause nicht so nahe stand, währte nicht über den Tag hinaus. Wie weggeblasen.

Johann Linz war an der Kreuzung angelangt. Vom neu gestalteten Ortskern führten die Straßen in die vier Himmelsrichtungen. Als er am ersten Tag Frau Klein gesagt hatte, er wolle sich im Dorf umsehen, hatte die ihm entgegnet, daß Edenkoben nie ein Dorf gewesen war, sondern schon immer Stadt.
Aus der Klosterstraße heraus, über die Kreuzung, nach dem Marktplatz ging es bergab. Eine Gruppe Jugendlicher schob die Fahrräder bergan, ein schwarzhaariges Mädchen dahinter versuchte auf ihrem Rad den Hang zu erklimmen. Ein letztes Ausbalancieren, dann sprang sie neben dem schmalen Gehsteig ab. Johann Linz blieb ruckartig stehen, sie blies eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, die Augen waren hellblau. Er schaute ihr nach, und als sie den Kopf wendete, fühlte er sich ertappt wie ein kleiner Junge.
Diese Geste, die Augen, wie Dorothea. Ja, seit fünfundzwanzig Jahren, seit seinem vorletzten Studienjahr hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie lebte irgendwo in Deutschland, war damals durchgebrannt, über die Grenze gegangen. Und das Gefühl, daß aus ihrer gegenseitigen Zuneigung hätte Liebe werden können, trug er lange mit sich herum.

Die Nachricht von ihrer Flucht hatte sich an der Uni rasch verbreitet. Eine Freundin ihres Jahrgangs vertraute ihm eines Tages an, daß Dorothea ihr durch eine Mittelsperson einen Brief habe zukommen lassen und grüßen lasse. Der Besucher aus Deutschland habe sich bereit erklärt, einen Brief an Dorothea mitzunehmen, er könnte ihr doch ein paar nette Zeilen schreiben, das würde sie ihrem Brief beifügen.
Bis heute konnte er sich nicht erklären, was ihn veranlaßt hatte, ihr zu schreiben. Er wußte nur noch, daß er ihr schrieb, welches Thema er sich für seine in einem Jahr anstehende Diplomarbeit gewählt hatte und daß sie nun nach ihrer unüberlegten Flucht mit dem Alleinsein und der Sehnsucht zurechtkommen müsse in einem ihr fremden Land. Nach Wochen händigte ihm dieselbe Freundin ein Päckchen von Dorothea aus, wieder über einen Besucher aus Deutschland ins Land gebracht. Das Päckchen enthielt Sekundärliteratur, aber keinen Brief. Dorothea teile ihm durch sie mit, daß er ihr doch gescheitere Briefe schreiben könnte, sagte die Freundin und gab ihm die Anschrift. Mit fiktivem Absender oder keinem, hatte sie konspirativ geflüstert. Er schrieb ihr nicht. Und von da an trug er noch lange diese Liebessehnsucht mit sich herum.

Ein Postgebäude wie das in Edenkoben. So wünschten es sich eine Sorte Nostalgiker zurück. Aber bitte schön mit rundum Service, nicht über die Mittagszeit geschlossen, bis vierzehn Uhr, und anderen Einschränkungen. Im Vorraum hingen die alphabetisch aufgereihten Telefonbücher in einem Gestell, an der Wand daneben zwei Fernsprechgeräte. Die zwei Schalter des Postamtes befanden sich in einem zimmerähnlichen Raum, und der bot höchstens zehn Leuten Platz. Der Schalter mit der Überschrift „Alle Leistungen außer Päckchen und Pakete“ war geschlossen, hinter dem anderen saß der ältere, höfliche Herr, ein Postbeamter wie aus dem Bilderbuch. Nur seine Unsicherheit im Umgang mit dem Computer paßte nicht zu dem Bild. Er tippte zögerlich mit dem rechten Zeigefinger auf jede einzelne Taste. Ganz in seinem Element war er, wenn er Briefmarken abstempelte oder ausgab.

Johann Linz stand geduldig in der Schlange, er hatte Zeit. Die Frau vor ihm hielt einen braunen DIN A4 Umschlag in der Hand, die Anschrift darauf war von einem Täschchen mit Schlüsselbund verdeckt, dennoch konnte er den in großen Druckbuchstaben geschriebenen Bestimmungsort lesen: Berlin. Die Tür ging, und die junge Frau wandte den Kopf.
„Hallo, Mensch, Günther!“ rief sie aus, ging auf den Mann zu, sie umarmten sich.
„Ich warte draußen“, sagte der und küßte sie noch auf die Wange.
„Geh doch vor, Lisa“, sagte eine Frau der Zurückkehrenden.
„Was weiß ich.“
„Sie erlauben doch?“ wandte sich die Frau an den Mann, der vor ihr stand.
„Natürlich, bitte!“
Der Mann trat zur Seite, und Lisa war dran. Sie schob den Umschlag durch den Schalterschlitz, der Postbeamte nahm ihn entgegen, legte ihn auf seine rechte Handfläche, wog ab.
„Das wären dann drei Mark. Und alles Gute, Lisa.“
„Danke!“
Freudestrahlend verließ Lisa das Postamt. Das mußte eine jener wahren Liebesgeschichten sein! Wenn man sie schreiben würde, geriete man rasch in den Verdacht, Kitsch zu produzieren. Johann Linz konnte sich den weiteren Verlauf dieses Wiedersehen nur als Liebesrausch vorstellen.

Der Postbeamte mußte ihn von damals, als er den Nachsendeantrag gestellt hatte, wiedererkannt haben, denn er schaute ihn über den Brillenrand freundlich an. Johann Linz schob seine Postgiro-Karte und den Personalausweis durch den Schalterschlitz und nannte die Summe. Der Postbeamte sah nochmals zu ihm auf, machte dann seine Eintragungen auf dem Auszahlvordruck, bat um eine Unterschrift, den Rest erledigte der Computer.
„Wie hätten Sie es denn gern?“
„Hundert-Mark-Scheine und einmal kleiner.“
„Einen schönen Tag noch!“ sagte der Postbeamte, als Johann Linz das Geld entgegengenommen und sich bedankt hatte.
Ein Anflug von Enttäuschung kam in ihm wegen dieser floskelhaften Verabschiedung auf. Aber den vertrauten Umgang wie mit den anderen Kunden hätte er doch nicht erwarten können. Oder war es wörtlich gemeint?
Die tausend Mark mußten für den Aufenthalt in der Pension und für den Fall der Reise reichen, mehr wollte er von dem Girokonto nicht mehr abheben. Als Taglöhner hätte er keine Ausgaben, denn soviel er wußte, waren Essen und Logis frei.
Um Geld fürs Essen zu sparen, und weil der Kaffee ihm ausging, kehrte er bei ALDI ein. Er kaufte Brot, Aufschnitt, den Käse in der Schachtel, den seine Mutter Dreieckkäse nannte, und widerstand der Versuchung, eine Flasche Schnaps mitzunehmen.
Auf dem Rückweg zur Pension entschloß er sich zu einem Umweg, bog in die erste Straße nach links ein. Die Richtung mußte er halten, um den Ortsrand zu erreichen.

Johann Lippet        20.05.2006

 

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