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Falko Hennig

Gespräch mit Jörk Schieke für den poetenladen
Einzig hilfreich ist der Schreibrausch
  Gespräch        Literatur und Alltag

»Der Schreib­rausch muss nicht bedeuten, dass das Ge­schrie­bene un­bedingt gut ist.«
Falko Hennig in poet nr. 16   externer Link

Falko Hennig wurde 1969 in Berlin geboren, wo er auch lebt. Seit 1995 ist er ständiges Mitglied der Reform­bühne Heim & Welt und tritt auch auf anderen Berliner Lesebühnen auf. Er begründete die Berliner Charles-Bukowski-Gesellschaft und die freie Radiostation Radio Hochsee. Mit Jochen Schmidt betreibt er eine Weltchronik. Falko Hennig wurde mehrfach zu den Literatur­seminaren Walter Kempowskis eingeladen und ist – im Sinne Kempowskis – selbst ein lei­denschaftlicher Tagebuch­schreiber. Ver­öffent­lichungen u.a.: ­Trabanten (Roman, Piper 2002); Springfield auf Trip (The Grüne Kraft 2004); 100% Berlin (Knesebeck 2008); Der Eisbär in der Anatomie (Eulenspiegel 2010); Ohne Dich ist alles Staub (mit R. Weber, Kindler 2012)


Jörg Schieke: Die ersten Texte, die ich von dir gelesen habe, erzählen vom Klauen. Viel geklaut, manchmal auch wahllos geklaut – waren das Erfahrungen des Sich-Verlierens?

Falko Hennig: Eine große Rolle spielte eher dieser Adrenalin-Ausstoß beim Klauen. Der war noch wichtiger als das Bedürf­nis, dieses oder jenes Ding unbe­dingt haben zu wollen. Das Klauen begann bei mir schon im Kinder­garten, wo ich aus Besitz­gier geklaut habe. Wahr­scheinlich wäre das eine kurze Phase gewesen, wenn ich erwischt worden wäre, aber ich wurde nicht erwischt. Bis heute bringe ich mich durch mein Ver­halten in unan­genehme Situa­tionen, inzwi­schen nicht mehr durch Klauen, das ging eher meistens glatt, sondern durch Foto­gra­fieren. Viel­leicht ist es ver­wandt, man stiehlt ja Bilder. Obwohl ich mich mit dem Klauen schrift­stelle­risch intensiv beschäftigt habe, habe ich nicht raus­gefunden, wa­rum ich eigentlich so gern geklaut habe. Auch in meinem späte­ren Leben bleibt es mir unerklär­lich, warum ich Bücher nicht nur aus Buch­handlun­gen, sondern auch aus Biblio­theken gestoh­len habe, was mora­lisch verwerf­lich ist. Das waren womög­lich frühe Rausch­zustände – inso­fern, als dass sie die üblichen Selbst­kontroll­kräfte ausgehebelt haben.

J. Schieke: Die Ausgangs­bedingungen legt man selbst fest, aber wo es einen dann hinführt, ist ungewiss. Kein Rausch ohne Risiko – so vielleicht? Nun bist du jemand, der sehr viel auf Reisen ist, und auch das auf eine Art, die viele Unwägbarkeiten birgt. Gerätst du auf diesen Reisen auch in die jeweils landes­übli­chen Räusche?

F. Hennig: In Äthiopien habe ich viel Kat probiert, das sind diese Blätter, die gekaut oder als Tee getrunken werden und dann ähnlich euphori­sierend wie Kaffee oder vielleicht Koka­blätter wirken – aber eben nicht so dumpf-betäubend, wie das manch­mal bei Alko­hol ist. Das ist ein Rausch der Nüch­tern­heit, der nicht mit Hallu­zinationen verbunden ist, also nicht diese Art von extre­mer Bewusst­seins­er­weite­rung. Es ist eher so ein Rausch des Wachseins, des Immer-mehr-sehen-Wollens. Und das, dieses Immer-mehr-sehen-Sollen, ist durchaus eine Voraus­setzung für meine lite­rarische Arbeit. Da können diese Rausch­mittel durchaus nützlich sein – sie können also die vor­handene Neugier befeuern. Aller­dings glaube ich nicht, dass diese Rausch­mittel tat­säch­lich etwas Neues frei­setzen, dass sie also über mich hinweg Formen und Bilder und Inhalte gene­rieren, die nicht schon da sind im Kopf. Rausch macht nicht Lite­ratur. Wirklich hilf­reich ist allein der Schreib­rausch.

J. Schieke: Nun ist das Wort gefallen: Schreibrausch. Wie fühlt der sich an?

F. Hennig: Man versinkt und – wohl das wesentliche Merkmal eines solchen Zustandes – man ver­gisst die Zeit. Ich habe tat­sächlich schon Termine, wichtige Termine verpasst, weil ich eben so ins Schreiben vertieft war. Der Schreib­rausch muss nicht bedeuten, dass das Geschriebene un­bedingt gut ist. Aber in dem Moment, in dem ich im Rausch bin, bin ich davon über­zeugt und habe auch keinen Zweifel daran, dass es jetzt geschrieben werden muss. Wenn ich mich diesem Impuls nicht genau jetzt über­lasse, ist etwas für immer verloren. Mir ist schlecht vor Hunger, auch müsste ich eigent­lich andere Dinge erledigen, aber es geht nicht.

J. Schieke: Ein glücklicher Zustand?

F. Hennig: Ja, Glück in dem Sinne, dass ich alle Sorgen und Kümmernisse, sogar großes Unglück für Stunden vergesse. Rausch legt sich über die Sorgen. Insofern kann man eben auch beim Fuß­ball­spielen oder Rennen in diesen Zustand geraten: Ausblenden aller anderen Welt-Teile und Versinken in oder Konzentration auf jenen Teil der Welt, in dem man gerade beschäftigt ist.

J. Schieke: Du hast Mitte der 90er Jahre die Charles-Bukowski-Gesell­schaft gegründet und warst einige Jahre ihr Vorsitzender (was komisch klingt, in Bezug auf Charles Bukowski). Bukowski ist so eine Figur, deren Leben man sich als einen ein­zigen literatur­taug­lichen Rausch vorzustellen hat. Pferde­rennen, Alkohol, Frauen, Musik – und zwischen­durch diese lässigen Texte, die die ganze ver­soffene Tristesse eben beschreiben. Mit zwanzig habe ich das viel gelesen, dann ist er bei mir eher in Vergessenheit geraten. Als ich jetzt, für dieses Gespräch, wieder mal Bukowski-Gedichte gelesen habe, war ich ziemlich überrascht: Ich hatte ihn gar nicht so melancholisch in Erin­nerung. Die Räusche seines Lebens aber scheinen gerade dadurch beglaubigt, dass am Ende diese Trauer steht: „Überall weht einen das Unglück an, / und Keats ist tot, / und ich bin nahe dran.“

Vielleicht wäre auch Trauer bzw. Melancholie ein Rausch, den man mit sich alleine und manchmal sogar literarisch austrägt?

F. Hennig: Alkoholismus führt meiner Meinung nach immer und zwangsläufig zu Melancholie und De­pres­sionen. Das war der Grund dafür, dass ich vor drei Jahren dem Alkohol entsagt habe und seitdem ein ange­nehmes Leben ohne De­pres­sionen führe.

Natürlich kann man auch ohne Alkohol depressiv sein und eine leichte Melancholie scheint mir grund­vernünftig. Lite­rarisch und schrift­stel­lerisch nutzbar ist sie aber nur in schwacher Au­sprägung, also in homö­opathischen Dosen – ist sie stär­ker, führt sie zu Lähmung, und der Autor schreibt gar nichts mehr. Ich kenne viele Beispiele von Autoren, für die erst das Ende der Trauer wieder das Schreiben mög­lich gemacht hat.

J. Schieke: Nun kann man sich in eigener Arbeit verlieren – aber man kann sich eben auch an den Gebilden oder Texten anderer berau­schen. Du beschäftigst dich ja viel mit Film, machst Lesungen, auf denen du auch Kurzfilme zeigst – und das, Film, kann einen auch berauschen?

F. Hennig: Fern­sehen, Film gucken ist etwas, dem ich mich sehr gern überlasse. Das ist die gesündere, moralisch auch unbedenklichere Form des Rausches. Ich habe bis vor drei Jahren tatsächlich sehr viel getrunken und habe dann gemerkt, dass es, gerade mit meiner Neigung zu Depressionen, absurd ist. Als würde man sich immer wieder mit dem Hammer auf die Hand schlagen.

Regelmäßiger Konsum, Gewöhnung und Abhängigkeit sind untrennbar, letztlich dasselbe. Die Lust am Rausch war bei mir nicht mehr wichtig, ich trank halt jeden Tag fünf Bier und wenn ich dann absti­nent blieb, bekam ich vor dem Schlafen Schweiß­aus­brüche. Diese Abhän­gig­keit ist ja nicht originell, ich habe halt 30 Jahre getrunken, sicher auch beim Schreiben, aber auch bei allem anderen: Fern­sehen, Kino, Steuer.

Jetzt trinke ich nur noch, wenn der Verzicht auf Alkohol zu großes Gewicht bekommen würde, also mir selber übertrieben scheint. Ich gebe mich nach wie vor den Räuschen von Gesprächen, Fußball, Schreiben, Lesen, Filmen, Lachen, Kaffee, Liebe, Tee und Marihuana hin. Dagegen kann ich meinen Alkoholkonsum der letzten drei Jahre sehr genau be­nennen: ein Glas Rotwein in der zentralen Elfen­beinküste, ein Glas Rhaki in Sofia und ein Glas Sekt in Worpswede. Jeweils zu ganz besonderen An­lässen, aus Höflich­keit und weil es mir schien, dass in diesen Fällen Verzicht der Sache eine unan­gemessene Wichtig­keit gegeben hätte. Fern­sehen und auch so was wie Fußball spielen sind für mich inzwischen die besseren Varianten. Bei der Leipziger Dokfilmwoche oder anderen Filmfestivals kann ich, in kulturell akzeptiertem Rahmen, meiner Fern­seh­sucht nachgehen, das nähert sich auch einem Rausch, einer Trunken­heit von Bildern. Da gucke ich mir sechs, sieben Filme pro Tag an. Und Fußball sowieso, weil die körper­liche Betä­tigung als Ausgleich zur Schreibtisch-Arbeit sicher unbedenk­lich ist.

J. Schieke: Da fällt mir ein: Ist so etwas, der Rausch als erwachsener Mensch, vielleicht auch so eine Rückkehr in die Kindheit – wo man so etwas ja durfte und konnte: Sich an etwas verlieren, ohne hinterher ein schlechtes Gewissen zu haben. Rausch ist ja auch Urlaubmachen, Ferien haben von jeglicher Verant­wortung?

F. Hennig: Beim Alkohol war es in meinem Fall bestimmt so; ich war immer bereit, mich mit netten Leuten zu betrinken, mit ihnen bis in dem Morgen zu quatschen, und noch ein Bier und noch ein aller­letztes und aller­aller­letztes, und alles andere, auch was am nächsten Tag geplant war, was es da an wichtigen Terminen gab, wurde dagegen unwichtig.

Bei den Filmfestivals habe ich dieses irrationale Gefühl heute noch, dass alles andere unwichtig wird im Gegensatz dazu, ins Kino zu kommen und den nächsten Film zu sehen. Endlich im Sessel sitzen, das Licht geht aus und der Film beginnt. Und dieses Gefühl bleibt, auch wenn mir völlig klar ist, dass es nur eine bestimmte Form von Konsum ist.

Ich habe in meinem Freiberuflertum aber ganz allgemein das Gefühl, Kind geblieben zu sein und mich den verschie­densten kindlichen Spleens hingeben zu können. Ich bin ja Simpsono­loge, auch einiger­maßen versierter Kenner der Muppets und vieler Zeichen­trick-Filme. Der Unterschied zur ersten Kindheit ist zum Beispiel das Ziel einer Show für Publikum. Das habe ich als Kind nicht gemacht: aus zehn oder 20 Filmen Stellen heraus­gesucht, markiert für eine Präsen­tation, aus Büchern und Internet­beiträgen die wichtigen Texte dazu herausgesucht, mir Fach­literatur zum Thema „Zeitreisen und Parallel-Universen" besorgt.

J. Schieke: Du bist bei den inzwi­schen sehr bekannten Berliner Lesebühnen mit dabei. Die haben den Ruf, dass sich dort die Grenzen zwischen Literatur und Leben, Publikum und Autor auf einzigartige Weise verwischen. Es geht intensiver zur Sache als bei der klas­sischen Literatur­haus-Lesung. Wie funktioniert das, diese Ent­hemmung? Im besten Fall wäre der kol­lektive Rausch der Zuhörer ja die positive Folge des vom Autor allein ausge­tragenen Schreib­rausches!

F. Hennig: Es hat mit den Texten zu tun, die oft gezielt dafür geschrieben werden, Leute zu eupho­ri­sieren. Aber es hat tatsächlich auch damit zu tun, dass auf beiden Seiten viel getrunken wird. Lese­bühnen finden ja nicht umsonst in Kneipen statt.

Es gab und gibt unter den Lesebühnen-Autoren auf jeden Fall eine Reihe von Alko­holikern. Früher gehörte ich selber dazu und habe mich da regelmäßig bis an einen bestimmten Punkt ran­ge­trunken. Ich wusste schon noch was los war, habe mich aber doch um einiges freier gefühlt. Die Enthemmung, die man mit Alkohol erreicht, ist ja bis zu einem bestimm­ten Grad sehr erwünscht. Das heißt, ich habe so sechs halbe Liter Bier getrunken – und natür­lich, wenn ange­heiterte Menschen für Menschen lesen, die ihrerseits auch ange­heitert sind, dann entsteht schnell so ein gegen­seitiger Sog. Albern­heit, Komik und Humor sind wahrschein­lich per se Räusche, jedenfalls, wenn man sie in der Gruppe erlebt.

J. Schieke: Lieber Falko Hennig, vielen Dank für das Gespräch.

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Thema in poet nr. 16

Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2014
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Jörk Schieke    11.05.2014   

 

 
Jörg Schieke
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