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Janna Steenfatt
Die Berge, das Meer

Sie stirbt, sagte mein Vater ins Telefon. Es entstand eine Pause, ich konnte seinen Atem hören und versuchte, mir sein Gesicht vorzustellen. Ein Ge­sicht von vor acht Jahren. Sie will dich noch mal sehen.

Der Weg war weiter und die Himmelsrichtung, aus der ich kam, eine andere, aber der kleine Bahnhof war derselbe, der Kiosk, die Pendler mit ihren Kaffeebechern an Stehtischen, die Frau hinter dem einzigen Fahrkarten­schalter, in die Jahre gekommen, aus dem Leim gegangen, wie man sagt, aber vermutlich doch dieselbe.
Auf dem Vorplatz wartete der Bus mit ausgeschaltetem Motor, der Fahrer stand breitbeinig in der geöffneten Tür und rauchte, ein paar Jungen mit Snowboards unter den Armen studierten die Abfahrtszeiten auf dem Busplan.
Im Bus war es kalt. Die Fahrt ging bergauf, fast unmerklich, ich saß auf dem Einzelplatz schräg hinter dem Fahrer, gleich neben der Tür und sah auf die Straße, die sich in Serpentinen den Berg hoch schlängelte. Der Schnee war plötzlich da, hinter einer Kurve, als hätte jemand die Kulisse ausgetauscht, die falschen Bilder hinter einander montiert, die Nadelbäume waren weiß bedeckt, die Straße von grauen, körnigen Haufen gesäumt. Der Bus hielt nur bei Bedarf, passierte eine Ortschaft, einen Marktplatz, an dem ein altes Paar einstieg. Sie stiegen zwei Stationen später wieder aus, ließen mich für die restlichen drei Stationen allein mit dem Fahrer, der nur für mich ein heiseres Endstation durch den Lautsprecher schickte, eine Runde um den Kreisel drehte und mich auf dem kleinen Platz, zwischen Holzbänken und Mülltonnen in den Schnee entließ.
Ich stand eine Weile unentschlossen vor den Altglascontainern, sah mich um, dann auf die Uhr, eine halbe Stunde früher, als geplant, ich hätte einen Bus später nehmen können. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Haus, das einzige weit und breit, Café stand auf dem Holzschild über der Tür, das eine vage Erinnerung auslöste. Ich klopfte mir den Schnee von den Schultern, stellte meine Tasche ab und setzte mich an einen Tisch am Fenster, den Blick an gelbgeblühmten Gardinen und Stoffrosengestecken vorbei auf den Kreisel, den Parkplatz, das Toilettenhäuschen. Ich war der einzige Gast. In der Ecke lief leise ein Radio, zwei gelangweilte Kellnerinnen, zwillingshaft in ihren weißen Blusen, ihren schwarzen Röcken und ihrer Gleichgültigkeit, warfen mir touristenverachtende Blick zu. Schließlich kam eine herüber. Ich bestellte Kaffee, der mir lauwarm und wortlos serviert wurde, draußen schneite es in dichtem Fall. Sempre amore con te, der Abschied tut immer noch weh, reimte der Schlagersänger aus dem Lokalradio, ich goss Milch aus dem Porzellankännchen in die Tasse, bis sie voll war, ihr Inhalt überlief und ich mich nach vorn beugen musste, um den Kaffee mit dem Mund abzuschlürfen, was die Aufmerksamkeit der Kellnerinnen auf mich zog. Mein Blick fiel auf die gegenüberliegende Wand, etwa bei der Hälfte hörte die Holzvertäfelung auf, darüber hing ein röhrender Hirsch, in Gold gerahmt, ich erkannte das Bild, es hatte immer hier gehangen, ich hatte es gemocht, vor langer Zeit.
Als ich wieder zum Fenster sah, hielt ein blauer Kombi an der Bushaltestelle. Ich sah auf die Uhr, zehn Minuten vor der verabredeten Zeit.
Der Kaffee war inzwischen kalt, ich trank den letzten Schluck, nahm die Serviette, wischte den übergelaufenen Rest weg, faltete die Serviette zusammen, noch acht Minuten, sah nach der Kellnerin, die nicht reagierte, machte eine halbe Handbewegung, sah zum Fenster, fuhr mir mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel, noch sieben. Ich stand auf und ging zur Toilette. Ich sah mein Gesicht im Spiegel und dachte an das, was er bestimmt sagen würde, etwas wie du bist erwachsen geworden und an das, was ich darauf sagen würde: nichts.
Er war aus dem Auto gestiegen und lehnte an der Fahrertür, die Hände in den Taschen seiner Jeans, von einem Bein aufs andere tretend, vor Kälte oder Nervosität oder beidem: mein Vater.
Er winkte, als er mich kommen sah, ging mir ein paar Schritte entgegen, blieb stehen, verlegen, zwischen uns zwei Atemwolken, dann ein Händedruck, der mich irritierte, ein stummes Nicken. Er nahm mir die Tasche ab und warf sie auf den Rücksitz, ich stieg vorn ein, schnallte mich an und sah aus dem Fenster. Nach einer Weile fing mein Vater zu sprechen an, wie war die Fahrt, das Wetter, so viel Schnee, der größte Schneefall seit, möchtest du Ski laufen, ich habe dir Skier herausgesucht, falls du möchtest. Ich antwortete leise und konzentriert, gut, danke, ja, mal sehen und ballte die Fäuste in den Manteltaschen, draußen zog der Ort vorbei, ein Haus hier und da, ein verschneiter Weg, ein zugefrorener Bach, ein Baum, der vielleicht einmal eine Bedeutung gehabt hatte für mich, von der ich nichts mehr wusste.
Das Haus lag am untersten Ende einer kleinen Straße. Vor der Haustür kramte mein Vater in den Taschen seiner Daunenweste und fand den Schlüssel nicht sofort, ich spiegelte mich in den Auswölbungen aus gelbem Glas, die in die Holztür eingelassen waren und sah mich fünfjährig mit der Nase an der untersten Auswölbung kleben, nachdem ich auf Zehenspitzen den Klingelknopf gedrückt hatte, in ungeduldiger Erwartung einer Bewegung, eines Lichts hinter der Tür.
In der Diele blieb ich unschlüssig stehen, nachdem ich mir die Stiefel ausgezogen hatte und mein Vater im Badezimmer verschwunden war, es war sehr still, nur das Ticken einer Uhr war zu hören. Auf der Kommode stand eine Schale mit Hustenbonbons, darüber hing ein Meer an der Wand, in dunkles Holz gerahmt. Ich erinnerte mich. Ich sah mich um und erinnerte mich an all das, an die Kommode, den Leuchter, das verblichene Muster im Teppich, an das Meer, das mein Vater gemalt hatte, ein aufgebrachtes, tosendes Meer, das mir Sorgen gemacht hatte, damals, Sorgen um ihn.
Er ist zur See gefahren, mein Vater, der aus diesen Bergen kommt, ist Kapitän gewesen und immer fort.
In der Ecke neben der Tür stand eine Holzfigur, ein Mann mit Pfeife im Mund und den Händen in den Taschen, den mein Großvater geschnitzt hatte. Ich hatte ihn nicht berühren dürfen, der Pfeife wegen, die zu zerbrechlich geraten war, und einmal spielte ich fangen mit meinem Vater und lief dem Holzmann geradewegs in die Arme, die Pfeife brach und fiel zu Boden. Mein Großvater machte ein Gesicht, dass ich zu weinen anfing und ging schweigend hinaus. Später kam er zurück, klebte die Pfeife mit Holzleim wieder an, zog mich auf seine Knie und erzählte Geschichten davon, wie er ein Kind gewesen war.

Ich hörte die Spülung, dann kam mein Vater aus dem Badezimmer, rieb sich die Handflächen an den Hosenbeinen trocken und fragte hast du Hunger, möchtest du Kaffee und ich sagte, dass ich mich lieber etwas ausruhen wolle. Mein Vater nickte, nahm meine Tasche und ich folgte ihm die knarrende Holztreppe hinauf in den ersten Stock.
Das Zimmer war klein, es war das Arbeitszimmer meines Großvaters gewesen und nichts schien verändert, als hätte niemals wieder jemand irgendetwas angefasst. Auf dem Schreibtisch lag ein Brieföffner, eine grüne Unterlage, ein Notizblock mit angegilbtem Papier. Ich setzte mich auf das schmale Bett, das leise quietschte, mein Vater stellte die Tasche ab, öffnete das Fenster einen Spalt breit und blieb einen Moment in der Mitte des Zimmers stehen, unsicher und auf eine seltsame Art zu groß, zu lebendig für diesen Raum, dachte ich. Dann räusperte er sich und ging. Ich stand auf, nachdem ich seine Schritte auf der Treppe hatte leiser werden hören, öffnete das Fenster weit und zündete mir eine Zigarette an. Mein Blick fiel auf ein paar Pantoffeln, die vor dem Bett standen, akkurat neben einander, ausgetreten, aus braunem Kord, Größe zweiundvierzig. Ich bin nicht auf der Beerdigung meines Großvaters gewesen, ich hatte von seinem Tod erst später erfahren, über Umwege, es war drei Jahre her, oder fünf, ich wusste es nicht mehr. Ich zog seine Pantoffeln an und schnippte die Asche aus dem Fenster, dann legte ich mich auf das Bett.

Ich wachte auf und wusste nicht, wie lang ich geschlafen hatte, draußen war es dunkel. Ich fror, schloss das Fenster, schaltete das Licht ein und ging hinunter. In der Küche hörte ich meinen Vater leise mit jemandem sprechen. Als ich herein kam, stand er mit verschränkten Armen an die Spüle gelehnt und sprach mit einer Frau, die sehr groß war, ein wenig zu dünn und auf simple Art schön, weiß gekleidet, mit kurzem, dunklem Haar und einer Tasse in der Hand. Er sagte, ohne den Blick abzuwenden, das ist Susanne und Susanne lächelte ansatzweise, sagte die Pflegerin und gab mir eine weiche Hand.
Mein Vater deutete mit einer Kopfbewegung auf die verschlossene Durchreiche zum Wohnzimmer und sagte sie schläft, dann stellte er Brot auf den Tisch, Butter, Honig und Wurst, füllte einen Becher mit Kaffee, schob ihn mir hin und brachte Susanne zur Tür.
Ich hörte sie in der dunklen Diele miteinander flüstern, bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, trank einen Schluck Kaffee, lauschte auf die Abschieds­formel, das Knistern ihrer Jacke, eine eventuelle Umarmung, oder doch nur einen Händedruck, dann wurde die Tür geschlossen. Mein Vater kam zurück, setzte sich mir gegenüber und fing an, eine dicke Scheibe Wurst abzuschneiden und die Pelle abzuziehen, was ein kaum wahrnehmbares Geräusch verursachte, ich legte einen Fuß hoch und rieb die kalten Zehen mit der Hand, die Küchenuhr tickte. Er schnitt die Wurst in dünne Scheiben, steckte die erste in den Mund, ich beobachtete ihn, das Grübchen am Kinn, das kauende, fettgewordene Gesicht, und, was hast du so gemacht, die letzten acht Jahre? sagte ich nicht, dachte ich nur, und dass bald wieder einmal irgendetwas gesagt werden müsse, die Stille dauerte zu lang. Er hielt mir die Wurstscheiben hin und ich sagte: danke, ich esse kein Fleisch.

Vor acht Jahren feierte ich meinen Geburtstag, den achtzehnten, es war eine große Feier mit vielen Gästen, meine Schulfreunde saßen im Garten, tranken Dosenbier und drückten ihre Kippen auf dem Rasen aus. Der Garten gehörte uns nicht, er gehörte den Vermietern, aber unsere Erd­geschosswohnung war zu klein, um darin zu feiern und meine Mutter rannte mit besorgtem Gesicht rein und raus, sammelte Kippen auf und Bierdosen, drehte die Musik leiser und verschwand schließlich resigniert im Schlafzim­mer.
Mein Vater kam spät. Ich hatte ihn nicht eingeladen, ich hatte ihn einige Jahre nicht gesehen, gelegentlich war eine Karte gekommen, ein Paket aus Übersee, Souvenirs von seinen Fahrten, er war auf irgendeinem Bananen­dampfer unterwegs, mehr wusste ich nicht. Er klingelte nicht, er stand plötzlich im Garten, ich sah ihn, bevor er mich sah. Er stand auf dem Rasen, mit einem großen Paket unter dem Arm und sah sich suchend um. Ich beobachtete ihn eine Weile und zog einen Kreis um ihn, bis ich den Rand seines Blickfeldes erreichte. Er lächelte, sagte alles Gute und gab mir das Paket, das sperrig zwischen uns stand und eine Umarmung verhinderte, dann nahm er es mir wieder ab und trug es selbst in die Küche, wo er mit der Handfläche über den Stuhl wischte, bevor er sich hinsetzte, die Bierdosen auf dem Tisch mit dem Unterarm zur Seite schob und sich eine Zigarette anzündete. In dem Paket war ein Keyboard und er begann sofort, mir die verschiedenen Soundeffekte zu erklären. Ich sah mich vierjährig unter dem Flügel sitzen und meinem Vater lauschen, der Beethoven spielte, mit hochgekrempelten Ärmeln, einer Zigarette im Mundwinkel und nackten Füßen, sah seine krummen, behaarten Zehen die Pedale treten, ich dachte an das Schimpfen meiner Mutter, wenn Asche auf die Dielen schneite, an ihr Lachen, wenn er sie im Vorbeigehen packte und sie sich aus seiner einarmigen Umarmung wand, seine schwarzbehaarten Unterarme, seinen Biergeruch, sein kehliges Lachen. Später brachte er mir das Spielen bei, Tonleitern, Cäsar, Dora, Emil, Fuchs, und noch später, um Einiges später, hörte er auf, Alimente zu zahlen, und meine Mutter verkaufte das Instrument.
Ich nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und sah auf den breiten Rücken meines Vaters, der eifrig über das Keyboard gebeugt am Boden hockte. Nach und nach kamen Leute herein, musterten ihn irritiert, arrangierten sich jedoch schnell mit seiner Anwesenheit, jemand reichte ihm ein Bier und fing ein altkluges Gespräch über Musik an, ich zündete mir eine Zigarette an und ging in den Garten, der aussah, wie ein Schlachtfeld, stieg über knutschende Pärchen und zu Haufen getürmte Dosen und Flaschen hinweg und suchte mir einen Platz in der hintersten Ecke, wo ein pickeliger Junge aus dem Physik-Leistungskurs mit offenem Mund auf dem Rasen lag und schlief. Als Für Elise im Orgelmodus erklang, ging ich zurück in die Küche. Mein Vater hatte die Jacke ausgezogen und über die Stuhllehne gehängt, er hatte die Augen geschlossen und eine Zigarette zwischen den Zähnen, um ihn herum saßen meine Gäste, sie waren still, hörten ihm aufmerksam zu, jemand hatte den Tisch frei geräumt und ein Mädchen aus dem Darstellendes Spiel-Kurs, das ich nicht weiter kannte, saß neben ihm, den Kopf auf die Tischplatte gestützt, sie hatte ihre Füße auf seinem Oberschenkel abgestellt und balancierte eine Schüssel Nudelsalat auf den Knien, was grotesk aussah.
Ich stand eine Weile ratlos herum, dann ging die Tür auf und meine Mutter stand im Raum, mit zerlegener Frisur und ungläubigem Gesicht, niemand außer mir schien sie zu bemerken.
Sie starrte meinen Vater an, der sich gerade in ein dramatisches Crescendo hinein steigerte, dann sah sie zu mir herüber und ich fürchtete mich, ohne genau zu wissen, wovor, aber nichts geschah. Meine Mutter stand einen Augenblick nur da und sah meinen Vater an, das Keyboard, das Mädchen mit dem Nudelsalat, dann schloss sie leise die Küchentür hinter sich. Ich überlegte einen Moment lang, ihr nachzugehen, dann wurde es abrupt dunkel und ganz kurz sehr still. Stromausfall, sagte jemand, es entstand ein Gerangel, Kerzen wurden gesucht und Batterien, mein Vater stand auf, trank sein Bier aus, knickte die leere Dose in der Hand und verabschiedete sich. Meine Mutter saß lächelnd im Schlafzimmer, mit einer Kerze, einer fast leeren Weinflasche und einer Sicherung in der Hand.

Im Wohnzimmer war es dunkel, bis auf eine kleine Lampe neben dem Bett, das sie hier unten aufgebaut hatten, zwischen der Mahagonischrankwand und der Polstergarnitur, nachdem sie aus dem Krankenhaus zurück gekehrt war, denn gestorben wird zu hause: meine Großmutter. Sie schlief, ihr Atem rasselte leise. Es stand ein seltsamer Geruch im Raum, als wäre der Tod schon da, als wäre er gleich da geblieben, nachdem mein Großvater gestorben war. An der Wand hingen Fotos und bemalte Porzellanteller, Zinnkrüge standen auf einem Regal aufgereiht, in der Ecke das Klavier aus dunklem Holz, mit vergilbten Elfenbeintasten, einem aufgeschlagenen Notenbuch, Beethoven, Sturmsonate. Ich betrachtete die Fotos: mein Großvater, schmal und ernsthaft, stolzgeschwellte Hühnerbrust, die Haken­kreuzbinde am Arm, gerade volljährig, ein Kind noch. Derselbe viele Jahre später, nach Kriegsgefangenschaft, Fremdenlegion, den sogenannten goldenen Fünfzigern, auf selbstgebauten Holzskiern, meinen Knirps von einem fünfjährigen Vater an der Hand, ebenfalls auf Holzskiern und in kindlicher Siegerpose. Ein fettes, haarloses Baby in Farbe, auf rosa Kissen schlafend: Ich. Eines der Bilder war größer als die anderen und steckte in einem ovalen, goldumrandeten Rahmen: Mein Vater, schlank, schwarzhaa­rig, ein bartstoppeliges Lachen, meine Mutter, zerbrechlich, auffallend schön und immer etwas mitgenommen aussehend, daneben ich, blass und pum­melig, mit störrischem, abweisendem Blick.
Ich stellte mich ans Fenster und sah hinaus, der kleine künstliche Teich war zugefroren, der Schnee auf der Terrasse leuchtete. In der Scheibe spiegelte sich mein Vater, auf der Bettkante sitzend, die winzige Hand meiner Groß­mutter haltend, seine Augen schauten besorgt und müde unter grauen, zu­sammengewachsenen Brauen hervor. Er sah alt aus.

Ich schlief lange und traumlos in der darauffolgenden Nacht. Susanne kam am Morgen mit einem jungen Arzt, der leise und ernst mit meinem Vater sprach und ihm beim Abschied aufmunternd auf die Schulter klopfte. Meine Großmutter rief mit dem dünnen Rest ihrer Stimme den Namen meines Vaters, mit langem a und langem o, ich stand in der Küche und sah durch die halbgeöffnete Holztür der Durchreiche ins Wohnzimmer, Susanne reichte mir Kaffee und strich im Vorbeigehen mit der Hand über meinen Arm. Willst du nicht hinein gehen, fragte mein Vater, als er in die Küche kam, nein, will ich nicht, dachte ich, will ich nicht und ging hinüber ins Wohnzimmer, wo meine Großmutter nach Susanne schrie. Ich blieb vor dem Bett stehen und meine Großmutter verstummte, musterte mich misstrauisch, wendete schließlich den Kopf ab, seufzte und schloss die Augen und ich dachte für einen Moment, dass sie jetzt sterben würde, dass sie genau in diesem Augenblick, da sie mich zum letzten Mal sah, die Augen schließen und wie auf Knopfdruck einfach einschlafen und nicht wieder aufwachen würde, als wäre es mein Anblick, der ihr den Rest gäbe; dann öffnete sie ihre Augen erneut und rief wieder nach meinem Vater, ärgerlich, als wäre ihr gerade etwas wieder eingefallen.
Ich ging auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Susanne kam und schloss mit milde tadelndem Blick die Tür hinter mir, ich hüpfte in Socken ein paar Schritte bis zum Rand der überfrorenen Fliesen, versuchte, auf den Außenkanten meiner Füße zu stehen und schnippte die Asche in den Schnee. Ich hätte sie nicht sehen wollen, nicht so, in diesem Bett, mit der trotzigen Ahnung des Bevorstehenden im Blick, ich wollte die Erinnerung an ihre Stimme, an den warmen Geruch von Zwiebeln an ihren Händen, an die Art, wie sie auf ein Taschentuch spuckte und mir damit Schokoladenflecken von den Wangen rieb.
Am Nachmittag tat ich meinem Vater einen Gefallen und holte die Skier aus dem Keller. In der Nacht war noch mehr Schnee gefallen. Er folgte mir schweigend, ließ mich in der Loipe vor, und obwohl es mühsam war, versuchte ich schneller zu werden, bis das Kratzen seiner Stöcke etwas leiser wurde. Ich schlug einen Seitenweg ein, von dem ich nicht wusste, wohin er führte. Nach wenigen Minuten hörte die Loipe auf und der Weg wurde schmaler. Ich lief weiter geradeaus, ohne mich umzusehen, aber mein Vater schien zu folgen, ich hörte das schleifende Geräusch seiner Skier, die Zweige der Tannen hingen tiefer in mein Blickfeld hinein und versperrten die Sicht, dann wurde der Boden weicher, ich blieb mit dem rechten Skier stecken und flog in den Schnee. Mein Vater holte auf, lachte verhalten, packte mich am Arm und zog mich hoch. Ich sah mich fünfjährig im rosa Schneeanzug auf dem Hintern die Pisten hinunter rutschen und dachte, dass ich es immer gehasst hatte, schon als Kind hatte ich es gehasst, mein Vater war immer zu schnell gewesen, meine Mutter nie dabei, ich hasste den Schnee, die Kälte, die Hilflosigkeit meiner auf diese Bretter gefesselten Füße, das alles.
Ich blieb stehen, klopfte mir den Schnee vom Körper und knöpfte die Jacke auf, ich schwitzte und fror gleichzeitig. Mein Vater machte die Skier los, nahm den Rucksack ab und holte eine Thermoskanne heraus, schraubte den Deckel ab, füllte dampfenden Tee hinein und reichte ihn mir. Er sagte ein paar allgemeine Dinge über das Skifahren, die Begebenheit der Strecke, die Witterungsbedingungen, ich legte den Kopf in den Nacken und sah in das schmale Stück Himmel, das zwischen den Wipfeln der Tannen zu sehen war, in einer Stunde würde es dunkel sein und es wäre besser, umzudrehen. Mein Vater atmete geräuschvoll ein und aus, nahm mir den Tee aus der Hand, schenkte nach, pustete hinein, trank selbst einen Schluck, gab ihn mir zurück. Wie geht es deiner Mutter? Es war, als hätte er sich lange auf diese Frage vorbereitet, als wäre es das Eigentliche, Ent­scheidende, was er die ganze Zeit hatte fragen wollen. Als wäre er derjenige, der mich hierher gebracht hatte, um diese Frage zu stellen. Mein Gesicht glühte und ich hatte das Bedürfnis, es in den Schnee zu legen. Ich drehte mich zu meinem Vater um, seine Augen sahen ertappt aus und weich. Ich nahm den Tee, trank einen Schluck, hockte mich hin, stellte den Becher in den Schnee, der langsam kreisförmig wegschmolz, besser als deiner sagte ich. Mein Vater sah mich an, ließ das Kinn auf die Brust fallen, seine Schultern zuckten, er lachte. Erst leise, mit geschlossenem Mund, dann lauter, unangenehm laut, er hörte gar nicht mehr auf, warf den Kopf in den Nacken, trat mit dem Stiefel auf, dass der Schnee stob und rieb sich die Augen. Ich hätte es nicht sagen sollen.

Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter aufhörte, zu sprechen, die Vorhänge zu zog, sich ins Bett legte und mir verbot, ans Telefon zu gehen. Irgendwann stand sie wieder auf und sagte, dass mein Vater nicht zurück käme von dort, wo er gerade war, und räumte Sachen, die herum lagen und ihm gehörten, in eine Kiste, die sie auf den Dachboden trug. Ich hielt ihn für tot. Sein Schiff musste untergegangen sein und er mit ihm, wie es sich für einen Kapitän gehörte, ich hatte Verständnis und Bewunderung übrig für diese schmerzhafte Konsequenz, fertigte mit Wachsmalkreiden ein großes Gemälde an, das ihn in reißenden Wogen ertrinkend darstellte und hängte es zum Andenken seiner Heldentaten über den Küchentisch.
Ein paar Wochen später stand mein Vater in der Tür und drückte wortlos mein Gesicht in den Stoff seines Mantels, dann nahm er einen Koffer vom Schrank, ging auf den Dachboden und warf ein paar Bücher und Klamotten aus der Kiste hinein, meine Mutter saß kerzengerade und stumm am Küchentisch und rauchte eine Zigarette, ich hatte sie nie zuvor rauchen sehen. Vor der Tür, auf dem Beifahrersitz seines Autos, wartete eine fremde Frau.

Damals hatte er versucht, mir zu erklären, dass es möglich sei, zwei unterschiedliche Leben zu führen und zwei unterschiedliche Menschen zu lieben, gerade so, wie es möglich war, das Meer und die Berge gleichermaßen zu lieben.
Ich habe die Berge immer gehasst, das Skilaufen, den Winter, den Schnee, all das. Und das Meer habe ich ebenfalls gehasst, weil es meinen Vater mitgenommen hat, es ist möglich, das Meer und die Berge gleichermaßen zu hassen.

Spiel, krähte meine Großmutter, als wir am Abend um ihr Bett saßen, spiel schon, sie scheuchte meinen Vater mit einer schwachen, unwirschen Geste auf, und er gehorchte. Susanne blieb und saß schweigsam und schön in der Ecke, meine Großmutter legte eine kalte Hand in mein Gesicht und gab mir den Namen meiner Mutter, lächelnd, und ich ließ sie, sagte nichts, mein Vater spielte die Sturmsonate fast fehlerfrei. Draußen schneite es, als würde es nie wieder aufhören.
Als Susanne und meine Großmutter, jede in ihrer Ecke, eingeschlafen waren, stand er auf, klappte den Klavierdeckel zu und ging in die Küche. Draußen fiel immer noch Schnee. Mein Vater kam mit einer Weinflasche zurück, ich öffnete die Terrassentür. Er reichte mir ein Glas, das Ein­schenken verursachte ein glucksendes Geräusch, das mir zu laut vorkam.
Ich bot ihm eine Zigarette an, er schüttele den Kopf und ich fragte mich, wann er aufgehörte hatte, zu rauchen. Wann er aufgehört hatte, das Meer zu befahren und in die Berge zurück gekehrt war. Wann er aufgehört hatte, Briefe zu schicken und Geld, wann er aufgehört hatte, diese Frau zu lieben, die er nach meiner Mutter geliebt hatte, diese Frau, von der er nie sprach.
Mein Vater drehte das Glas am Stiel hin und her und starrte in den Schnee, ich sah ihn an und musste nicht fragen, ich konnte es sehen, dass er allein war, dass er niemanden hatte.
Du hast die Berge nicht geliebt, hätte ich gern gesagt, du hast das Meer vorgezogen, die Abwesenheit. Du hast dich für das Meer entschieden, weil es nicht wahr ist, weil man nicht zwei Dinge gleichermaßen lieben kann, nicht wirklich.

2007

Zuerst veröffentlicht in: EDIT, Ausgabe 45

Janna Steenfatt    07.04.2010   
Janna Steenfatt
Prosa