poetenladen    poet    verlag

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Janin Wölke
five storage rooms

das kind konnte die zwei schornsteine nie aus den augen verlieren
jeder einzelne himmel trug sie letztendlich auf der haut/hell und ruhig
rückten nicht ab/manchmal wurde es nacht oder es war neblig
dann sah das kind nur die kleinen lämpchen: eine rote spur wie ausgelegt


mama lackierte jeden februar ihre fingernägel schwarz
sie war eine verkleidete/der bus voll und dunkel/wackelte sie/an der kalten
stange lehnend/nasse harte jacken im gesicht/auf dem kindergartenhof lag
ein rötliches dromedar/hinter dem stein hatte ihr jemand kleines ins ohr geschrien:
vergiss das.


ihre kinderzimmerlampe zeigte das tier mit graupigem fell/ein tannengroßes
rotkäppchen/schnee lag auf den bergspitzen/in den roten ecken der lichtscheiben
sie wiederholte das: nun schlaf doch, doch/nimm die finger raus, raus/leg die hand
auf den tisch, tisch/folg der spur/iss das auf/dreh dich um/mich/dreh mich lämpchen
dreh kleine kleise kreise/trage murmeln in den stummen bach/schlaf ein, mein kind/kind
hab ich dich wiedergefunden


utopie: es gibt eine fotografie im ersten album/die zeigt einen unverputzten
plattenbau, betonmischer, pfützen, baulöcher/die neue sozialistische stadt/einen pfeil mit
blauem kugelschreiber aufgemalt/der zeigt, wo wir bald wohnen werden/1983/sechstes
stockwerk/hohenschönhausen II /der weg über die block-, großblock-, großbauplattenweise
bis zu den modernen leichtbauweisen
/dann drei seiten später: freunde morgens
aus dem fenster fotografiert/mit dem neuen objektiv – kahle äste, schnee, die verlassene
rhinstraße /die zwei allein an der haltestelle/auf vier streichholzbeinen/dann die beiden
im leeren straßenbahnwaggon/ich kann ihre runden augen sehen/ihre ameisenmünder
wie sie lachen/er winkt hoch zur kamera/zu euch/du schläfst/deine eltern nebeneinander
im fenster/ihre oberschenkel aneinandergedrückt/das haar deiner mutter über seinem
mund


etwas hatte ich verloren und nie wieder würde ich es finden/einen wunder-
schönen nach frischem lack riechenden flummi/er sprang in ein neongelbes rapsfeld
und verschwand dort wie meine unbedachtheit den dingen gegenüber/ich suchte
mehrere halbe minuten lang und war mir sicher/dass das nicht geschehen konnte
ich war schockiert/sah mich schlagartig gefährdet/überwachte mich/kontrollierte mein
herz wie es pumpte und schmeckte etwas völlig fremdes im mund: mir nicht gefügiges
ich übergab mich/dieses geschehen ohne mein handeln war absolut unrealistisch aber
wirklichkeit/wer hatte das verfertigt?/ich wurde scheu für jahre/ich frönte jener hoffnung
dass ich handeln könnte/als dieser mann erschien/er stand an den gleisen und sprach die
frauen an/die großen mit den brüsten und dem stichfesten blick/über solche plausibilität
verfügte ich nicht/auf der fußgängerbrücke von d zu f nahm er mich an die hand wurde mir
heiß im gesicht etwas zog mich mit harter kraft nach vorn mein linkes dein rechtes bein
gehorchten du hattest deine erste hose von h+m an brauner cord mit schlag in den 90ern
waren die 70er der letzte schrei undunddu konntest nicht schreien nach den großen,
festen frauen schreien der bart stieß dir in die lippen es krachte wie aluminium/du hörtest
das ganz einsichtig das war absolut aktuell war wirksam geworden ins dasein getreten das
war nicht zufällig nicht noch nicht wirklich
Janin Wölke   2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Janin Wölke
Lyrik