poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 

Jan Decker
Ungarische Zustände
1
Ich schreibe wie Johann Wolfgang von Goethe, das hat das inter­aktive Stil­barometer der FAZ ergeben. Leider weiß ich nicht, welche anderen Autoren zur Auswahl standen. Nur ein Resultat hätte mich indessen befriedigt, es scheint unerreichbar zu sein. Dass ich nämlich so schreibe wie ich selbst.

Ich schreibe das mit der Hand auf ein perga­mentartig struktu­riertes Kopier­papier, das sehr schön anzusehen ist und mich daran erinnert, dass ich seit zwei Tagen in Ungarn bin. Und wie bei meinem ersten Aufenthalt in Ungarn vor sieben Jahren war meine erste Begegnung die mit einem Buda­pester Taxi­fahrer, der mich nach Strich und Faden betrog. Für eine Fahrt von fünf Kilometern verlangte er 45 Euro. Auch das ebenso wie vor sieben Jahren. Wenigstens hat der Betrug System. Diesmal handelte ich den Taxi­fahrer aller­dings auf 25 Euro herunter. Ich bin nicht wenig stolz darauf.

Alle Welt versichert mir gleichwohl seit zwei Tagen, wie freundlich und hilfsbereit die Ungarn seien. Bisher habe ich nichts davon bemerkt. Aber die Menschen in Pécs sind mit ande­rem beschäftigt. Der Spät­sommer dreht auf, wir haben tro­ckene und warme Tage. Jeder geht still beschäf­tigt seinem Sommer­ver­gnügen nach. Wie treffend, soll der slawische Aus­druck für Deutsche doch die Schwei­genden heißen.

Ich schreibe in meinem Zuhause für die nächsten acht Wochen, dem Lenau-Haus. Es ist auch das Zuhause der Ungarn­deutschen in Pécs, die mich mit ihrer kernigen Sprache be­eindrucken, und damit, dass sie BRD-Bürger wie mich als Reichs­deutsche bezeichnen.

Ich sitze also in einer Dachstube dieser Wagenburg und schreibe, während der Ventilator seine gefragten und notwendigen Dienste verrichtet. Morgen werde ich das Freibad der Tech­nischen Fakultät Mihály Pollack der Universität Pécs aufsuchen. Ein entspanntes Bade­vergnügen im Schatten der Alma Mater, mehr verlange ich nicht. Sonst hält man diese Hunde­hitze nicht aus!

Außerdem habe ich mir noch am Tag meiner Ankunft ein gebrauchtes Fahrrad zugelegt, und den Plan gefasst, eine politische Reportage über Ungarn zu schreiben. Bisher verstehe ich nur Bahnhof. Nein, selbst dieses ungarische Wort ist mir nicht geläufig. Und so heißt es: Sich die Land­schaft erfahren, ansonsten nach­sitzen und Vokabeln pauken. Irgendwo hinter den fünf Kirchen von Pécs liegt mein Stoff versteckt.

2
Nach zwei Wochen Ungarn bin ich mit dem Plan einer politischen Reportage kein Stück voran­gekommen. Vielleicht, weil der September still und trocken vor sich hinbrütet. Zwar habe ich Gerüchte vernommen, dass der ehemalige Bürger­meister von Pécs vor ein paar Jahren bei einem myste­riösen Auto­unfall ums Leben kam. Er war der Hoff­nungs­träger der seitdem dar­benden so­zial­demo­krati­schen Partei Ungarns. Doch investi­gative Recher­chen könnte ich erst machen, wenn der Herbst kommen und ich Ungarisch sprechen würde.

Diese Septemberhitze erzieht zur Genügsamkeit. Man schreibt kleine komische Glossen und setzt sich auf ein Gespräch nach Mitter­nacht zusammen. Da gibt es vornehmlich zwei Nacht­arbeiter, die ich nun regelmäßig auf dem Grund­stück des Lenau-Hauses treffe. Sie machen etwas Politi­sches in einem Gartenhaus, das gegenüber meiner mächtigen Be­hausung steht. Ihr Brotgeber ist die Selbst­ver­wal­tung der Ungarn­deut­schen. Schon sprechen wir unter dem Schein der Venus über die haar­sträubende Politik des jetzigen Gernegroß Orbán.

Nur sind wir kein Debattierklub, sondern wechseln rasch die Themen, um von einer Schote zur anderen zu kommen. Gemeint ist nicht die welt­bekannte ungarische Paprika­schote, sondern das humoris­tische Abklappern der Welt aus Pécser Sicht. Theatrum mundi! Und aus dieser Per­spektive sagen wir getrost: Gute Nacht!

Am nächsten Morgen stehe ich mit dem etwas öligen Frühstücks­kaffee vor demselben Garten­haus, um Guten Morgen! zu sagen. Die Fensterläden sind verschlossen. Man könnte denken, in diesem Schuppen würden links­aufklä­rerische Flug­blätter herge­stellt. Oder die legen­dären Garten­möbel würden dort gehütet, die sich meine Vorgängerin, eine experi­mentelle Lyrikerin, kaufen ließ, um gleichsam im Freisitz des Gartens zu schreiben. Weshalb unsere Dynastie den Kose­namen Garten­zwerge bekam.

Ich war am Freibad der Technischen Fakultät Mihály Pollack der Universität Pécs. Ja, ich hatte das besagte Freibad mit meinem Fahrrad unter unendlichen Mühen erreicht oder er­klommen, denn halb Pécs liegt auf steilen Anhöhen, die bereits zum Mecsek-Gebirge gehören. Als ich in der sen­genden Hitze tropfend die letzten Schritte zum Schwimm­becken hinaufstieg, bellte mich ein Boxer­hund an. Ich hätte es ahnen können. Das Wasser war aus dem Schwimm­becken gelassen. In Ungarn schließt der büro­kratische Sommer Ende August. Ich hob akzep­tierend die Schultern, und ließ mein Fahrrad in die Stadt zurückrollen. Man sagt hier auch: Wer im September noch Fahrrad fährt, muss Deutscher sein.

3
Meine dritte Woche in Ungarn lehrte mich endgültig, dass der September ein Hoch­sommer­monat sein kann. Und dass das Politische eine Kategorie der kälteren Jahres­zeiten sein muss. Jedenfalls habe ich noch keinen in SS-Kluft auf­marschie­renden Jünger der gefürch­teten Jobbik-Partei gesehen, und halte Ungarn deshalb für frei­heits­liebend und friedlich. Eine Fata Morgana, natürlich. Ich kann jetzt folgendes auf Ungarisch sagen: Ja. Nein. Ich will das. Ich will das nicht.

Ich hatte mein erstes Bad im Balaton, dem berühmten Plattensee. Ich hatte lange von ihm geträumt, und mich seit Kindheits­tagen an gefragt, wie er wohl sein mag, dieser riesenhaft flache See. Nun, er ist anders, als ich dachte.

Zunächst fuhr ich drei Stunden lang mit dem Zug von Pécs in Richtung Norden. Wenn man dann in der kleinen Stadt Fonyod aussteigt, fällt man gewisser­maßen in den Balaton. Ein kräftiger, mistral­artig trockener Wind wehte hier. Die Strände waren schon verlassen und verwaist. Ich hatte die große Sause verpasst.

Darum fuhr ich umso freier stundenlang mit dem Fahrrad am Südufer des Balaton entlang. Weil es hier so schön gespens­tisch still war, und auch so gespenstisch hässlich, da sich Ferienhaus an Ferien­haus reihte, fühlte ich mich an die Superdichte Tokyos erinnert. Die Ungarn haben ein Schrumpfland hinter­lassen bekommen, das am Wasserkopf Budapest hängt. Hier am Balaton wird das sichtbar. Wie eng umkämpft ist jeder Stellplatz am Ungarischen Meer! Bald werden die letzten Grundstücke verhökert sein.

Nein, im Gegenteil. Die Finanzkrise ist auch am Balaton angekommen. Man sieht viele Schilder mit der Aufschrift Eladö. Zu verkaufen also. Der gute alte Balaton ist in die Jahre gekommen, und in der globalisierten Welt angelangt. Der Blick auf das Nordufer, nicht weit entfernt und doch so fern er­streckt, mit seinen sanften Bergkuppen, ist allerdings immer noch wunderschön.

Ich wagte mich als letzten Punkt meiner vorläufigen Bildungsreise in das sommerliche Wasser des Balaton. Es war viel kälter und auch frischer, als ich dachte und alle Welt mir erzählte. Dafür war der Boden wirklich angenehm sandig glatt, wohin man auch trat. Und ich musste weit gehen für ein wenig Nass. Nach dreihundert Metern stand ich nur bis zu den Knien im Wasser.

So ein Plattensee mitten in Deutschland wäre doch etwas, ein weitaus bildenderes Reiseziel als der Ballermann auf Mallorca! Er würde unsere deutsche Betriebsgeschwindigkeit um einige Stundenkilometer drosseln, bis wir auf derjenigen der Ungarn wären. Und dann?

4
Noch immer habe ich kein Tröpfchen Regen in Pécs gesehen, dafür Fledermäuse und viel Sonnenschein, wild bellende Schäferhunde und ein sozialistisch möbliertes Panorama­restaurant in einem Fern­sehturm hoch über der Stadt. Ich stieg eine Etage höher, und befand mich auf der frei liegenden Be­sucher­platt­form. Hier wehte ein küh­lendes Lüftchen, und der Blick erstreckte sich frei nach Süden bis zur Drau und dem an­gren­zenden Kroatien.

Wenn den Ungarn etwas Schlimmes passiert, sagen sie: In Mohacs haben wir mehr verloren! Nämlich die Türken­schlacht im Mittel­alter.

Was ich in den vier Wochen in Ungarn bisher erlebt habe, treibt mich zum Ausruf: In Pécs habe ich meinen Kopf verloren! Ob das hinreichend ver­ständlich ist?

Gleichwohl trifft der Ausruf bestens, was ich nach bisherigem Verlauf für die ungarischen Zustände halte. Sie sind, was sie sind. Damit ist keine Tauto­logie gemeint. Sie sind sonnig und unverständlich, verletzlich und stolz, lächelnd und weinend. Einge­bettet in den wolken­losen Himmel des Mittelmeers. In Pécs könnte eine von Albert Camus existen­ziellen Geschichten spielen, in denen das Messer am sonnigen Strand aufblitzt.

Mein Ich brütet in dieser Hitze mit gleichmäßiger Süße und Schwere dahin, als solle es selbst eine Traube sein und bald geerntet werden. Ich habe vor, noch eine Weile zu reifen. Doch als Reporter des politi­schen Ungarn melde ich mich ab, und schlage vor, das Budapester Parlament eine Weile auf Island tagen zu lassen. Dann würde ich gern der erste Parlamentsbeobachter sein.

O doch, wir haben Gespräche über Politik und Nationalismus geführt, über das ganze schöne neue Magyarentum. Aber keines dieser Gespräche ist in meinem Ich, das eine sonnige Traube ist, hängen geblieben. Ich stand am nächsten Morgen auf, und die Sonne lachte verführerisch, und sagte Ja und Amen! zu allem.

Ich wurde einem Germanistik­professor der Universität Pécs vorgestellt, und schon sprachen wir über die süße Liebe am Balaton. Meine ganze Mission: Ich trotze den ungari­schen Tagen ohne Schatten drei Manuskriptseiten ab. Dann hänge ich in den Seilen und bekenne: In Pécs habe ich meinen Kopf verloren!

Ich schleiche mich ins kühlende Mecsek-Gebirge, hoch an die Seen von Orfü, jeden Donnerstag um 18 Uhr, zu dieser Zeit probt im Lenau-Haus eine ungarn­deutsche Blas­kapelle. Wohlweislich gehe ich dann baden.

5
Der Sommer in Ungarn hält naturgemäß an, obwohl wir den kalendarischen Herbstbeginn überschritten haben. Die Nächte sind etwas kühler, aber die Tage sind wie immer wolkenlos und von einer blendend aufgelegten Sonne überstrahlt. Tatsächlich ist nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

Mit dem Goethe-Reim ist auch die Lage meiner Recherchen zur politischen Reportage gut beschrieben. Ein ausgeprägtes Hochdruckgebiet hält meinen Kopf belegt. Er ist inzwischen abhanden gekommen. Wer ihn findet, soll sich melden.

Ich habe Ungarn für drei Tage verlassen, über den Budapester Flughafen Ferenc Liszt. Auf einmal spürte ich den Grad meiner Akklima­tisierung. Es war eine politische Sensation. Für Berlin und Leipzig war meine Be­triebs­tempe­ratur ein­deutig zu hoch. Ich rollte und schlich wie ein süd­ländi­scher Kater durch die biedere deutsche Ab­fer­tigungs­halle. Diese plötzliche Entfernung zwischen den Menschen! In Pécs und Budapest wuselt immer ein ganzes Volk um einen herum. Und die deutsche Rücksicht­nahme. Man steht allein auf weiter Flur, und könnte doch jemandem im Weg stehen. Ich wurde sofort philo­sophisch.

Wieder zurück in das Land meiner Recherche nach dem europäischen Neopopulismus ungari­scher Gestalt. Er muss tatsächlich eine sehr magyarische Mixtur sein, ich vermute, aus viel Sonnen­schein und Insel­bewusst­sein gepresst. Die beiden spannends­ten Dinge der letzten Woche waren indessen die Fleder­maus­attacke und das Gewitter.

Zunächst die Fledermausattacke. Ich trat vor das Lenau-Haus in die sternenklare Nacht und sah die Venus zum Mond aufsteigen, eine gute Kon­stel­lation, als mich ein schwarzer Fleck er­wischte. Er berührte mich ganz leicht am Gesicht. Jäh die Erkennt­nis, die Linnésche Zuschreibung des schwarzen Flecks: Ich wischte die Fledermaus zur Seite, worauf sie einen zweiten Kreis beschrieb und noch energischer fort­gewischt sein wollte. Anschließend fiel sie zu Boden, wohl verdurstet. Ich spuckte auf die Fleder­maus. Mein Speichel war die einzige Nässe weit und breit, denn wir haben seit Wochen keinen Regentropfen in Pécs.

Dann das Gewitter auf der Rückfahrt von Orfü. So ein trockener Vorblitzsturm wehte da, ich war recht weit oben auf den Kämmen des Mecsek-Gebirges, dass ich fast mit meinem Leben abge­schlossen hatte. Meine Fahrräder drehten sich immer schneller. Es war ein Wettlauf zwischen Hase und Petrus. Ich gewann.

Außerdem fand ich neben einer Parkbank ein abgetrenntes Rehbein.

6
Nach sechs Wochen! Ein Werbestand der Jobbik-Partei vor dem Einkaufs­zentrum in Pécs. Skandal? Nein. Die zwei Herren stehen recht allein da. Sie bauen auf. Vielleicht tun sie das den ganzen Tag. Was der Rentner dort den Herren darbietet, der unbeteiligt am Jobbik-Stand vorbei­marschiert, könnte der Rot­front­gruß sein. Eine stille Geste des Protests, sie verflüchtigt sich. Der Menschen­strom flaniert am Gesprächs­angebot des Mobs vorbei.

Immerhin konnte ich bei einem Abendessen mit einem Botschaftsrat der deutschen Botschaft in Budapest mein Thema diskutieren. Der beschwingte Spät­sommer­abend bildete den aller­besten Nährboden für unsere opake Durchsicht durch dieses Land. Ungari­sche Zustände.

Opak, denn wir ließen die großen Verbindungslinien der Geschichte aufblitzen. Napoleon und osmanischer Despotismus. Arabischer Stolz und die nicht weniger stolze Geburt Israels aus dem Willen zur Macht. Dazu klassische Geigenmusik aus einem offen stehenden Fenster am Jokai-Platz in der Pécser Innenstadt. Ein Bild von Europa.

Der Botschaftsrat registrierte angenehm erbaut, dass wir immer stärker um Deutschland kreisten. Um die von Kleist, von Marwitz, von Beust, von Moltke, und natürlich um den alten Fritz. Wir waren vor Stunden auf der Nord-Süd-Achse von Armut und Reichtum gestartet, auf der Ost-West-Achse von Freiheit und Diktatur. Und nun plötzlich zurück in Preußen.

Es bot uns niemand Einhalt bei der opaken Durchsicht unserer Gehirne durch uns selbst, die wir Welt nannten, oder wahlweise Preußens Glanz und Gloria. Kein Zensor tauchte auf. Ja, nirgendwo trägt der Popu­lismus sein Gesicht so janusköpfig wie in Ungarn. Wir waren uns einig. Welche andere Form der Politik würde zu diesem Volk passen, das sich immer bedroht fühlt, immer an der eigenen unter­drückten Macht arbeitet? Der tragische Schau­spieler Ungarn verträgt keine Schmieren­komödie, somit verträgt er niemand anderen als sich selbst. Wirklich tragisch!

So kam es, dass wir zuletzt auf Ernst Jünger und das Sektglas kamen, das er vor das brennende Paris hielt, um die Sensation der Bombar­dierung zu verfeinern. Die nächtlichen Straßen von Pécs blieben matt. Ich sah das friedliche Budapest vor mir, die schwarz­grünen Abdrücke des Erdgotts auf den Hügeln der Budaer Seite, der diese Stadt so dampfend und rauchend eingerichtet hatte, dass kein Sektglas der Welt sie verfeinern könnte.


7
Der Herbst ist über Pécs hereingebrochen. Mit dem Aufstürmen der welken Blätter und den jähen Sturzgüssen vom Himmel verwandle ich mich in einen Flaneur erster Güte. Während die Pécser die schönen Straßen und Gassen ihrer Stadt der grausamsten Melan­cholie überlassen, die beizeiten einer würgenden Toten­einsamkeit gleicht, wandle ich recht selig umher. Endlich kommt mir das Kondensat der Fragen in den Sinn, die ich Ungarn stellen wollte.

Krieg spielen und Krieg machen. Zwei verschiedene Dinge?

Ich hatte die Frage verloren, das Kondensat, den Schlüssel zu meiner politischen Repor­tage über Ungarn, irgendwann nach dem langen Abend mit dem Bot­schaftsrat musste es geschehen sein. Hier war sie wieder, pünktlich wie das erfrischende Grau vom Himmel.

Die Ungarn, wusste ich, betrachten sich als ausster­bendes Volk. Ich sah mich nun als einen glücklichen deutschen Philosophen. Das stolze Reitervolk, das aus den sibirischen Weiten in die panno­nische Tief­ebene kam, musste Krieg spielen. Es konnte nicht anders. Und so übersetzt, wäre der Kapitalismus einfach sein neuestes Vehikel, um der Welt seinen enormen Spielwillen zu beweisen. Ungari­sche Zustände – sie bezeichneten den erns­testen Spieler weltweit!

Ich dachte an die berühmte Geigenmelodie, die tausende Ungarn zu spontanen Selbst­morden animiert hatte. Ich dachte an die unzähligen Momente, in denen ich mir in einem Geschäft mit dem Kauf die schale Frucht des Fremdseins einge­handelt hatte. Ich hätte besser geschwiegen oder bettelnd vor dem Geschäft ausgeharrt. Oder Geige gespielt. So blieb ich fremd.

Nein, schien der ungarische Geist seit langer Zeit zu sagen, wir wissen, dass du nicht zu uns gehörst. Nein, wir wollen auch nicht, dass du unsere Kultur erlernst. Und nein, schien er mir zu sagen, wir sind auch nicht neugierig auf deine Kultur. Er gleicht einem wehrhaften Japaner, einer ostasiatischen Kampgesinnung, die durch geschichtliche Zufälle nach Europa gefunden hatte. Ein Schmuggelgut der Geschichte.

Soviel politische Unkorrekt­heit kann erfrischend sein. Aber weil sie heute über das Vehikel des Marktes ausge­tragen wird, unter­scheidet sich Pécs nicht mehr nennens­wert von Beirut oder Belize. Überall das gleiche Übervorteilen, überall der gleiche Brei von englischen Sprachfloskeln.

Kann Ungarn, fragt sich der herbstliche Philosoph, mit diesem Gulasch­kapita­lismus sein stolzes Gesicht wahren? Krieg spielen oder Krieg machen?

8
Was mir nach acht Wochen Ungarn im Kopf hängen bleibt, ist naturgemäß nicht das Politische. Ich habe es gesucht, und nicht gefunden. Statt­dessen die Ausfahrt aus Budapest nach Süden, mit den sanft aus­schwingen­den Kegel­köpfen der Vororte. Das rauchige Blau und Schwarz des Abends an den Bergketten bei Villany und Dombovar. Die ocker­gelbe Weite der Puszta, ihre saure Dürre, die vielleicht basisch ist, ich hätte den Boden schmecken müssen. Das Nordufer des Balaton, diese Symphonie in G-Dur, eine Hangfolge wie ein wärmender Arm.

Da waren die Straßendörfer im Komitat Braunau, endlos lang gestreckt und manchmal heillos verlassen, manchmal hektisch belebt. Da war der verlassene jüdi­sche Friedhof einen Kilometer hinter dem Dorf, auf dem toten Feld, ein Gedenken an Salomon Frank, den besten aller Väter. Da war die Indu­strie­stadt Komlo, laut und unbequem in das Mecsek-Gebirge gelegt. Und da war immer wieder der Blick auf die Stadt Pécs, von den Aussichts­punkten Tettye und Kikelet hinab, oder von der Anhöhe der Gartenstadt aus, kurz vor dem still­gelegten Flughafen der Stadt.

Geplatzte Träume, verfehlte Recherchen. Ich war am Ende meiner ungari­schen Zeit drei Tage mit dem Auto unterwegs, und die Boden­wellen und Kurven des Lands lassen mich immer noch schwanken. Ich fühle mich, als wäre ich einer Achter­bahn entstiegen. Dazu die markante Herbst­sonne, die den ganzen Tag scheint, allerdings ohne zu wärmen. Vielleicht ist alles eine Frage der Per­spektive.

Ungarische Zustände, was sind das? Ich kann es nicht beantworten. Aber die Bruchstücke dieser Zustände kenne ich. Sie haben sich auf meiner Autofahrt eingeprägt. Der törichte Nachsitzer in Sachen Nationa­lismus hat eine zweite Haut, die er vor der Welt hartnäckig verborgen hält. Fast wie eine Paprika.

Oftmals sah ich traurige Gesichter, mürrische Blicke. Am Anfang meiner acht Wochen las ich sie als Aus­druck eines stati­schen Empfindens. Jetzt weiß ich, es sind die Gesichter von Reisenden. Das Tempo ist bei allen Ver­richtungen nicht sehr hoch. Aber der Puls arbeitet unablässig. So entsteht das Bild eines nomadisierenden Volks, das in seltenen Momenten mit der Welt und sich in Einklang ist.
Jan Decker    2013    

 

 
Jan Decker
Lyrik / Texte
Prosa