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Francisca Ricinski
Die Frau neben dem Truthahn
Sie hatte wie immer vor, im Herbst die halbe Ernte für ihre Polenta und ihr süßes Maisbrot im nächsten Dorf mahlen zu lassen, während die restlichen Kolben für Leon gedacht waren, damit er nicht verhungern muß, wenn der Boden im Winter zufriert. Ihr Plan hätte sich auch verwirklichen können, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte, die dauernden Regen vor den wenigen Pflanzen fernzuhalten. Aber sie konnte nur zusehen, wie die Körner, so zart wie die Milchzähne eines Kindes, schwarz wurden, bevor sie widerstandslos versanken, während die Maisbärte in ihren frühen Verfall einen unver­wechsel­baren Geruch hinterließen.
Leon und sie, die beiden bildeten ein auffälliges Paar: eine gebeugte Witwe mit runzligem Gesicht einer in der Erde vergessenen Kartoffel neben einem bunten Vogel mit Doppelkinn und stolzem Gang. Frau und Schwan, Frau und Lerche, Storch und Frau, das hat man schon gesehen oder davon gehört, aber eine Frau und ein Truthahn?
Ungewöhnlich, aber es war eben so. Seit fünf Jahren lebte Leon auf ihrem Hof. Damals sollte er ins Grab ihres Mannes hineingeworfen werden, aber sie konnte es nicht übers Herz bringen, ein so lebhaftes und gutgläubiges Wesen zu opfern. Stattdessen rupfte sie ihm sieben Federn und band sie an dem frischen Sarg, zwar in Angst um die Seele ihres Mannes, aber über sich selber zufrieden. Sie nahm ihn mit nach Hause und gab ihm den Namen Leon, da sein ehrenwürdiger Auftritt und die Farben seines Gefieders an einen Löwen erinnerten. Kein Dieb und kein Feind mehr trauten sich über den niedrigen Holzzaun ihres Hofes zu springen, denn dort wachte er wie eine ganze Schwadron vom Buckingham Palast. Tagsüber sprach sie nur in knappen Sätzen zu ihm, nur das Notwendigste, so wie damals zu ihrem Mann, aber wenn sich die Nacht an den Dächern anlehnte, da ließ sie alles stehen, ob es die Schaufel, den Webstuhl oder die Glut in dem Kamin aus gelbem Lehm war, und rief ihn. „Klonck, klonck“, antwortete Leon, ich bin da. Sie berührte seinen purpurroten Schnabel, streichelte minutenlang seine Flügel, erzählte ihm Geschichten von früher und Ereignisse des bereits beendeten Tages. „Klonck“, lispelte leise der Truthahn. Er schloß die Augen und genoß die Nähe der Frau, die Zärtlichkeit, die Wärme ihrer Stimme drang in seine Ohren sanft ein. Aber nun regnete es ununterbrochen, als wollte der Himmel im Zorn den Erdbewohnern eine Lektion erteilen. Wir Menschen haben hier vielleicht viel Schlechtes getan, dachte die Witwe. Aber mein Leon doch nicht. Die Witwe hieß Samfira, ein häufiger Name für die Bäuerinnen in jener nördlichen Gegend. Samfira und Leon saßen seit mehreren Tagen und Nächten am Fenster, obwohl sie fast nicht mehr ertragen konnten den schweren Hammer­schlag der Regentropfen.
Diesmal wird's keine Arche mehr geben, keine, stöhnte sie und blickte traurig zu ihrem Truthahn und zu den ertrinkenden Maispflanzen hinüber. Leon antwortete ihr nicht.

 

Francisca Ricinski   09.01.2009    
Francisca Ricinski
Lyrik
Prosa
Gespräch
Kommentar