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Andreas Maier

Im Gespräch mit Ewart Reder
Schwebender Holm
  Gespräch     Literatur und Rausch

»Literatur bietet unendl­iche Identi­fi­kations­mög­lich­keiten, was bedeu­tet: Man ent­grenzt sich gegen­über einer Figur, lässt sie in sich hinein.«
Andreas Maier in poet nr. 16   externer Link

Andreas Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren und lebt in Frankfurt am Main. Studium der Philosophie, Germanistik und Altphilologie in Frankfurt am Main, Promotion über Thomas Bernhards Prosa. Seit 1999 freier Schriftsteller. Für sein literarisches Debüt Wäldchestag erhielt er im Jahr 2000 den Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und den ZDF-aspekte-Literaturpreis. Zahlreiche weitere Auszeichnungen. Zuletzt erschienen: Das Haus. Roman (Suhrkamp 2011) sowie Die Straße. Roman (Suhrkamp 2013).


Ewart Reder: E.T.A. Hoffmann lehrt in den Kreisleriana, welche Musik mit welchen Getränken zu komponieren sei: komische Opern mit Champagner, geist­liche Musik mit Rheinwein, heroi­sche Stücke mit Burgunder. Mit welcher Droge werden Maier­texte erzeugt?

 

Andreas Maier: Derzeit mit überhaupt keiner. Es gibt einen Roman, Kirillow, den habe ich fast aus­schließ­lich nachts und völlig betrunken geschrie­ben, und zwar mit Wein. Heute schreibe ich in kurzen inten­siven Phasen, da halte ich mich mit Alko­hol zurück, damit ich nicht zu erschöpft bin.

 

E. Reder: In Ihrem neuen Buch Die Straße geht es zentral um einen Rausch­zu­stand: den sexuellen Entdecker­rausch junger Mädchen. »Der andere Zustand« heißt er hier und Sie beschreiben ihn als unbe­tei­ligter Beobachter: der kleine Bruder, der ins Ver­trauen gezogen wird. Wie verändern sich Menschen, wenn sie berauscht sind?

 

A. Maier: Jeder von uns kennt die Situation, dass er nichts trinkt und mit Leuten zusammen sitzt, die trinken, und er sich fragt: Was passiert hier gerade? Anderer­seits ist, wer berauscht ist, in gewisser Weise näher dran an etwas, das auch die Wahr­heit über unser Leben ist. Ein etwas selt­sames Beispiel: Als Michael Holm Tränen lügen nicht singt – Hit­parade 1974 –, da gibt es diesen einen etwas irren Blick, den er kurz vor Schluss in die Kamera wirft, keine Ahnung, ob er da was eingefahren hatte, da denkt man: Der ist wirklich hinüber, aber es ist zugleich absolut benei­dens­wert, weil man weiß: Er schwebt gerade.

 

E. Reder: So intensiv der Berauschte sich selbst erfährt – das, was er im Rausch macht, haben andere ihm vorgemacht, beigebracht. Im neuen Roman widmen Sie der Bravo längere Passagen, in denen die sexuelle Heim­lich­keit überblendet wird mit der öffentlichen Verbreitung der Vorlage per LKW, Zeitungskiosk, Schulhof. Da ist der Rausch nichts mehr allzu Authentisches.

 

A. Maier: Na gut, der Rotwein kommt manchmal auch über die Autobahn aus Italien, ehe er mich berauscht. Aber wenn man an die Fußball-WM 2006 denkt und das Wort »Rausch« mit dem Wort »Feiern« übersetzt, gibt es seitdem schon so eine Art Bürgerpflicht zu feiern, und man wird durch­aus auch kontrol­liert, ob man mitmacht. Das wirkt nicht mehr sehr dionysisch – eher staatsverordnet. Oder medienverordnet.

 

E. Reder: Später in Die Straße gibt es den Macht­rausch einer infor­mellen Bürger­wehr, die einen Exhibitionisten sucht.

 

A. Maier: Ich habe mich seit meinem ersten Buch (Wäldchestag E.R.) öfter mit dem Phänomen der Vergruppung beschäftigt. Jeder Mensch in der Ver­gruppung fällt um einige Entwick­lungs­stufen hinter sich zurück. Das sieht man an jeder Schulklasse. Der Einzelmensch ist immer gut ansprechbar. Wenn er in einer Schul­klasse auftritt, geht das Toben los. Das kann man auch Rausch nennen.

 

E. Reder: Auffällig ist, dass in mehreren Ihrer Bücher zentrale Szenen mit sexuellem Inhalt ausge­spart werden. »Das Bild wird komplett schwarz«, heißt es, wenn der Erzähler in Die Straße sich an Vorgänge in einem als »Hexen­häuschen« ver­rufe­nen Haus zu erinnern versucht. In Sanssouci ist mehrfach von »jener Nacht« die Rede, in der sich Unbe­schreib­liches ereignet habe. Der Regisseur Max Hornung ist möglicherweise in Zusammen­hang mit dem, was da passiert ist, gestorben. Man erfährt aber nie, was passierte. Warum diese Leerstellen?

 

A. Maier: Der ganze Roman Sanssouci ist in gewisser Weise eine Leer­stelle. Da geht es um ganz wüste Dinge, aber sie kommen – bis auf einen Satz – überhaupt nicht vor. Rainald Goetz saß mal in einer Lesung von Sanssouci in der ersten Reihe. Plötzlich klatscht er und ruft in den Saal: Das sei ja phantastisch, dieses Buch spreche mit keinem Wort aus, worum es geht.

 

E. Reder: Um sexuellen Rausch geht es, auch hier, verstärkt durch BDSM-Prak­tiken. Einige Per­sonen sind davon angezogen. Andere orga­nisieren es, plan­voll, geradezu gesittet. Wird unsere Gesellschaft von Rausch­anbietern gesteuert, die selbst genuss- und rausch­unfähig sind? Ungefähr so verstehe ich übrigens Don DeLillos Cosmopolis: der Finanzmarkt als Opiumhöhle, die puri­tanischen Einser­schülern gehört.

 

A. Maier: Im neuen Roman nenne ich es »die Maschini­sierungs­grade der Sehn­sucht«. Liebe, Auf­richtig­keit, Ange­rührt­werden, sowas kann eigent­lich nur gesche­hen, wenn man zu seinem eigenen Über­raschen einem Einzelnen gegenüber steht. Viel­leicht auch zweien, keine Ahnung. Aber mit der Zeit kann das zu einer Leer­stelle werden, in die ein belie­biges Objekt eingefügt werden kann, weil nur noch die Technik zählt, die es geradezu maschinell auszu­führen gilt. Davor ist keiner gefeit, aber davor sollte sich jeder schützen.

 

E. Reder: Robert Feustel in seinem neuen Buch über Rauschkulturen spricht von Grenzgängen. Der Begriff passt auf eine Figur aus Sanssouci, den Mönch Alexej, der das Gebet in dieser Weise erlebt: als Grenzüberschreitung. Kann Religion rauschhaft sein?

 

A. Maier: Ich glaube ja, aber in verschiedener Hinsicht. So kann Religion, meiner Ansicht nach aber auch Philosophie, zu mystischen Grunderfahrungen führen, die sehr entgrenzend sind, sodass man sich entweder außerhalb der Welt setzt oder die Welt einem durchscheinend wird. Möglicherweise sieht man das schwarze Nichts des Nein hinter dem Ja durchscheinen.

 

E. Reder: Alexejs Freund Grigorij praktiziert einen ganz anderen Kult. Die zwei Flügel seines Altars zeigen eine Ikone und ein Pin-up-Girl, hart nebeneinander. Gehören sexuelle Leidenschaft und Religion zusammen?

 

A. Maier: Grigorij ist eine sehr hilflose Figur, die den Überblick und weitgehend auch die Grenzen seiner Person verloren hat. Grigorij hat ein Grundproblem, für das ich selbst den Begriff noch nicht erarbeitet habe. Ich will das aber in nächster Zeit tun. Bei ihm geht der Gottesglaube in einer völligen Verhedderung einher mit der Anbe­tung von Schönheit. Und ich weiß nicht, ob da die Wurzeln gemeinsam sind, oder ob man sie scharf trennen muss.

 

E. Reder: Schönheit kann hinan ziehen. Helena erinnert Faust an den Himmel.

 

A. Maier: Faust ist nicht gerade der Ideal-Katholik.

 

E. Reder: Der wird hier also mal eben exkom­muniziert, zwischen Kaffee und Mineral­wasser. Die theo­logische Fakultät von Paris im 14. Jahrhundert – katho­lisch genug? – hat geurteilt: »Die Torheit ist eine zweite Natur des Menschen.« Sie muss zu ihrem Recht kommen, ihren Raum haben. Rausch und Taumel des Karneval stabilisieren die Frömmigkeit.

 

A. Maier: Schrecklich. Unsere ganze Gegenwarts­literatur wird so be­nutzt, als Hofnarretei. Ein Arnold Stadler, den ich liebe und dessen ­Literatur zum Staat genauso quer steht wie Jesus Christus zu den Insti­tu­tionen, wird öffent­lich von Leuten wie Annette Schavan gelobt. So ist das.

 

E. Reder: Dann eben Pussy Riot. Gegen den totalen Staat hilft nur noch Schreien, Tanzen, Zucken, Singen, wie Elfriede Jelinek meint. Inhalte gibt es nicht mehr.

 

A. Maier: Ich weiß bis heute nicht, was ein totaler Staat ist. Jeder Staat ist total.

 

E. Reder: Zu Ihrem Roman Das Zimmer. Die Hauptfigur, der geistig behin­derte Onkel J., ist für den Erzähler »ein Mensch ohne Schuld ... noch mit einem Bein im Paradies«. Er berauscht sich unter anderem an bezahl­tem Sex und Autofahren. Wenn man genauer nachdenkt als Onkel J., wie zum Beispiel der Autor Andreas Maier, sieht man, dass viele individuelle Autogenießer eine erst regionale und dann globale Kata­strophe herbei führen. Sancta simplicitas?

 

A. Maier: Der Onkel ist auf eine Art glücklich, wie wir es überhaupt nicht sein können. Einer, der noch so ist, wie er ist, und nicht anders, weil er dann gar nicht wäre. Hat Stadler mal sinngemäß über ihn gesagt. Einer, der nicht auf dem Weg zu einem Leben ist, weil er irgendwelche Ziele im Visier hätte, sondern der immer schon einfach da ist.

 

E. Reder: Die Wetterauer, die Sie schildern, zum Beispiel in Wäldchestag und Das Zimmer, können feiern, sind Rausch-fähig. Auffällig ist, dass das keine richtigen Arbeiter sind. Arbeiter, die ihren Chef verehren und oben­drein dessen sämtliche Familien­mit­glieder, sind keine Arbeiter im Sinne der Arbeiterbewegung. Es sind Bauern im Blaumann. Tradiert, wie Maichail Bachtin meinte, nur das vorindustrielle ›Volk‹ die Fähigkeit, sich zu berauschen?

 

A. Maier: Die Zusammensetzung einer Friedberger Bierwirt­schaft oder auch eines Frankfurter Apfelweinlokals ist völlig disparat. Ich unter­scheide so: Wer die Fähigkeit hat, nach der Arbeit zum Dämmer­schoppen zu gehen und da an einem Stammt­isch oder in einer bunt gewürfelten Runde ein bisschen rumzuschwätzen, der unter­scheidet sich von jemandem, der seinen Rausch durch Symbolisches unterstützen muss, der dazu einen Urlaub braucht oder eine bestimmte Wein­flasche oder auch Kokain plus Bordellbesuch, weil er ein Vor­stands­mitglied ist. Der Unter­schied ist, ob man das ohne die Vorstellung eines ›Größeren‹ in ­seinen Tagesablauf integriert – das sind die Dämmer­schoppen­menschen – oder ob es die Ausnahme­situation ist in einem ansonsten zum Kotzen gelebten Leben.

 

E. Reder: Ich bohre nach. Aus Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe ist der Mordaufruf gegen religiöse Men­schen bekannt. Weniger bekannt ist, dass zum Mord auch an solchen auf­gerufen wird, die in unschöner Lage das Ideal be­ziehungs­weise den Rausch empfehlen, als provi­sorische Erhebung des Geistes:

 

»Und auch die, welche ihnen sagen, sie könnten sich erheben im Geiste

 

Und stecken bleiben im Schlamm, die soll man auch mit den Köpfen auf das

 

Pflaster schlagen.«

 

Hat Brecht, hat der Kommunismus seine Vorliebe für Gewalt auch daher, dass man die entlastende Erhebung durch den Rausch nicht mehr duldete?

 

A. Maier: So wie ich Russland erlebt habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass die vor neunzig Jahren alle aufgehört haben zu trinken. Breschnew musste man bei Auslands­reisen auf die Haar­wasser­flaschen, die rum­standen, einen Totenkopf kleben, damit er sie nicht getrunken hat. Ich denke, wer den Rausch als Op­po­sitions­ver­halten gegen auto­kratische Systeme betrachtet, muss nach Getränke­sorten diffe­renzieren. Weiß­wein macht klar für eine gewisse Zeit, danach sackt man weg. Bier macht grund­legend dumpf und erzeugt ein Reden, das sehr bald in sich zu kreisen beginnt. Apfel­wein verführt zum Reden und macht den Redner anarchisch.

 

E. Reder: Trank Baudelaire Apfelwein? Das würde seine Erinnerung an 1848 erklären, eine recht andere als die von Marx oder auch Proudhon. In seinem Tagebuch steht:

 

»Mein Rausch im Jahre1848. Welcher Natur war dieser Rausch? Freude an der Rache. Ange­borenes Vergnügen an der Zer­ störung. Literarischer Rausch; Erin­nerungen an Gelesenes. Am 15. Mai. Immer noch die Freu­de am Nieder­reißen. Eine rechtmäßige Freude ...«

 

Und so weiter. Die revolutionären Aktionen werden dagegen addiert als »Wahnsinn des Volkes und Wahnsinn des Bürger­tums«. Was die Verhält­nisse wirklich erschüt­tern kann, das ist nicht Politik. Das scheinen eher Affekte aus den gesell­schaft­lich tabu­isierten Zonen der Seele, das scheint vor allem die Literatur zu sein. Hat die Literatur Rausch­potenzial?

 

A. Maier: Finde ich unbedingt. Als ich in meiner Jugend zum ersten Mal Schuld und Sühne gelesen habe, bin ich krank gewor­den und habe zwei, drei Tage gedacht, ich hätte jemanden umgebracht. Und stünde nun vor dem­selben Problem wie Raskolnikow, nämlich, mich irgend­wie rauszureden und es dann ein Leben lang mit mir rum zu tragen. Oder ob ich nicht gleich zur Polizei gehen und mich stellen sollte? Literatur bietet unendliche Identi­fikations­mög­lich­keiten, was bedeutet: Man entgrenzt sich gegen­über einer Figur, lässt sie in sich hinein.

 

E. Reder: Und wie erleben Sie Schreiben? Wie Jack Kerouac, der On the Road auf Marihuana und Benzedrin geschrieben hat, dazu auf einer von UPI ausgeliehenen Endlos-Papierrolle? Der Autor als Werkzeug seines automatisierten Unbewussten?

 

A. Maier: Das trifft genau auf mich zu. Ich würde das allerdings nie technisch anstreben und sagen: Innerhalb der nächsten Tage muss es mir gelingen. Sondern ich muss darauf immer Wochen und Monate warten. Wenn es dann passiert, habe ich das Problem mit der Papierrolle nicht mehr, weil ich auf dem Computer schreibe. Aber zum Beispiel Das Haus habe ich großen­teils anfall­artig im ICE geschrieben und den Schluss in der DB-Lounge auf dem Berliner Hauptbahnhof, während hinter mir das Eröff­nungs­spiel der Frauen-WM lief. Ich konnte und wollte nicht mehr aufhören. Ich weiß in diesen Augen­blicken auch: Ich muss unbedingt dran bleiben. Diesen wenigen Augenblicken im Jahr muss ich dann auch alles unterordnen. Aber vom Prozess her ist es genau das, was Kerouac gemacht hat – nur kann ich es nicht willentlich anstreben. Da­her: Keine Vorsätze, keine Rausch­mittel. Gehen Sie mal heute und das nächste halbe Jahr auf die Straße und versuchen Sie, eine Frau kennen zu lernen. Mal gucken, wann's klappt. Genauso ist es beim Schreiben.

 

E. Reder: Herr Maier, vielen Dank für Ihre Literatur und für das Gespräch.

 

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Literaturmagazin
poetenladen, Leipzig Frühjahr 2014
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Ewart Reder    15.04.2014   

 

 
Ewart Reder
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