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Eva Scheller
Echo und Narziß
Kicks hatte die E-Gitarre an den nackten Leib gepresst, während er über den Sand rannte, schrammte das Instrument gegen seine Rippen, er hielt die Gitarre im Arm, als halte er einen Kerl im Schwitzkasten, sein linker Unterarm scheuerte über die Saiten, es war verdammt unbequem, mit einer E-Gitarre über den Sand zu rennen, Kicks war froh, wenigstens die Badehose angezogen zu haben. Während er rannte und von dem flachen harten Gitarrenkerl im Schwitzkasten Hautabschürfungen und blaue Flecke davon trug, sang Kicks aus vollem Hals. Total Surrender. Total Surrender. Immer die gleiche Abfolge von Tönen. Total Surrender. Total Surrender. D-C-A-C-D. D-C-A-C-D. D-C-A-C-D. Total Surrender. Schließlich schmiss Kicks sich mitsamt der Gitarre ins Wasser, hart klatschte er auf, das Instrument ging sofort unter. Er hatte es losgelassen. Kicks schwamm mit offenen Augen unter der Wasseroberfläche, an allen möglichen Stellen brannte es ihn, auch in den Augen, er konnte kaum etwas sehen. Er tauchte auf und nahm einen Mund voll Meerwasser, das er gleich wieder ausspie. Total Surrender, schrie er dem Wasser hinterher, während sein Speichel sich mit dem Ozean mischte. Dann schwamm Kicks auf dem Rücken. Gleichmäßig wie Windradflügel tauchten seine Arme ein und wieder auf. Seine Körperbewegungen waren so gleichmäßig wie nur irgendwas, Mr Kerb wäre zufrieden gewesen. Kicks grinste den Himmel an und sang weiter D-C-A-C-D, bis eine Welle sich über ihm brach und er hustend, schnaubend und fluchend umkehrte und nur noch stumm wiederholte, Total Surrender, Total Surrender, und sich vorstellte, wie die Töne dazu klangen.
You wouldn't want to get wet feet. Zuerst dachte Karl den Satz. Dann dachte er ihn noch einmal. Dann sprach er ihn aus. You wouldn't want to get wet feet. Es war ein einfacher Satz. Kein ti äetsch. Fast kriegte er die Betonung perfekt hin. You wouldn't want to get wet feet. Er könnte immer einen Regenschirm bei sich tragen. Und wenn es dann regnete, und wenn er dann sie sähe, könnte er sagen, you wouldn't want to get wet feet.

Sie haben nichts, was mich bewegen würde, freundlich zu sein, antwortete sie auf die Frage, warum sie sich aufführe wie eine Pissnelke. Dabei war sie weder freundlich noch unfreundlich und auch vorher war ihre Stimme nur gleichgültig gewesen. Warum, zum Teufel, sollte sie lächeln, wenn es doch reichte, sich in gleichförmiger Weise weder zu der einen noch zu der anderen Seite hin zu betragen. Mit einem Lappen fegte sie die Krümel vom Tisch. Es gelang ihr, sogar in diese Geste eine gewisse Gleichgültigkeit hineinzulegen. Als geschehe es ohne jegliche Absicht, dass sie mit einem feuchten Lappen, den sie vorher hinter der Theke geholt hatte, die Tischplatte abwischte, als hätte sie genauso gut ein paar Fliegen hinterher wedeln oder ein Fahrrad putzen oder einfach an irgendeinem Fleck verharren können. Es war nicht, dass sie etwa unsorgfältig gewesen wäre oder zu oberflächlich in ihrem Tun, was einen wütend werden ließ, wenn man sie beobachtete. Es war einfach ihre Gleichgültigkeit.

Kaum einer hätte Stevens Leben als geordnet bezeichnet. Er hatte nicht einmal einen festen Wohnsitz. Was er besaß, passte in einen Koffer und mit dem zog er von einer Schlafcouch zur nächsten, bis er die paar Freunde und Bekannte durch hatte und mit der Runde wieder von vorne begann. In dem Koffer befanden sich vor allem zwei Anzüge, die er abwechselnd trug, wenn er arbeitete. Das allein schon zeigte Stevens Sinn für Ordnung, er nahm nur Jobs an, in denen er Anzug und Krawatte tragen musste. Auch wenn das keiner glaubte, hatte Steven einen geradezu fanatischen Sinn für Ordnung. Steven war Quartalsfixer. Alle paar Monate hauste er in einer Hütte am Strand und spritze sich mit Heroin voll. Bevor er zur Hütte aufbrach, hatte er genau festgelegt, wie lange es diesmal dauern und wieviel Heroin er verbrauchen würde. In der Hütte angekommen, hängte er seine Armbanduhr mit Datumsanzeige an die Wand und daneben einen Zettel mit Tag und Stunde der letzten Spritze. Und er hörte auf nach dieser letzten Spritze. Egal, wie tief er im Drogenrausch war, er hörte auf. Danach kotzte er ein paar Tage und schrie, weil ihm der körperliche Entzug solche Schmerzen bereitete. Dann war er wieder clean. Er nahm ein Bad im Meer und bildete sich ein, zu spüren, wie im Salzwasser seine stichwunden Arme zu heilen begannen.
Jetzt war eine Zeit, da die Spuren seiner letzten Fixerei zu kleinen hellen Narben verblassten.
Mr Kerb joggte über den Schulhof. Dabei hielt er seine Trillerpfeife fest, damit sie nicht gegen seine Brust schlage. Dass er die Trillerpfeife festhielt und nicht wie wild auf ihr herumpfiff, was er sonst bei jedem kleinen Regelverstoß tat, war ein gutes Zeichen. Trotzdem war es ein ziemlich dummes Wunder, dass er Steven überhaupt erkannt hatte. Steven im Anzug und von der gegenüberliegenden Seite des Schulhofs, der in der großen Pause nicht gerade leer war! Ein bisschen fürchtete Kicks, ihm könne etwas passieren. Andererseits war er der beste Rückenschwimmer der Schule. Hinauswerfen würde man ihn nicht so schnell. Und außerdem, was war schon dabei, mit Steven Carlyle zu sprechen, nachdem der im Schulhof schnurstracks Kicks herausgepickt hatte. Wiederum andererseits hatte man Steven vor ein paar Jahren der Schule verwiesen und nach einer Gerichtsentscheidung durfte er sich nicht auf hundert Meter dem Schulgebäude nähern. Und jetzt stand Steven also da, wo er nicht sein durfte und Kicks stand daneben und Mr Kerb war bei den beiden angelangt.
Carlyle, sagte Mr Kerb.
Schon gut, sagte Steven, schon gut.
Und ging.
Er hatte Kicks fragen wollen, warum dessen Gitarre im Meer lag. Wie ein seltsamer roter Plattfisch mit einem langen dunklen Schwanz hatte sie einfach im Wasser gelegen; auf der Rückseite trug das Instrument eine kleine Messingplatte mit Kicks Namen.
Was wollte er, fragte Mr Kerb.
Keine Ahnung, Kicks zuckte mit den Schultern, wir haben über diesen komischen Jungen gesprochen. Na, Sie wissen schon, dieses Halbgesicht mit der Behinderung oder so was, jedenfalls trägt der immer ein Pflaster im Gesicht.
Und?
Nichts und.
Kicks Fußspitze scheuerte über die Steinplatten.
Steven meint, eine Nadel sei schuld daran.
Mr Kerb zog die Augenbrauen hoch.
Mit der hätten sie ihn gestochen, als er noch ein Embryo war. Und jetzt hat er deshalb ein Loch im Gesicht.
Kicks hoffte, seine Schwester am Strand zu treffen. Im Café hatte man ihm gesagt, sie habe ihre Schicht schon beendet. Da war es wahrscheinlich, dass sie rannte.
Sie rannte auf Kicks zu. Sie hatte den sehnigen Körper einer Langstreckenläuferin und war dunkelbraun gebrannt in den vielen Tagen, die sie am Strand rannte. Sie trug einen schäbigen alten Badeanzug, ihre Haut war etwas zu trocken. Nichts davon fiel Kicks auf. Seine Schwester war der phänomenalste und großartigste Mensch, den er jemals kennen würde.
Kicks ließ sich in den Sand fallen. Als sie ihn erreicht hatte, setzte sie sich neben ihn. Nach einer Weile des Schweigens fragte Kicks, und er brauchte mehrere Anläufe, bis er es zu einem einigermaßen vollständigen und verständlichen Satz brachte, ob sie an Opfer glaube.
Wozu das gut sein solle, fragte sie zurück.
Ihm sei plötzlich der Gedanke gekommen, wenn er einen großen, unbedingten Wunsch habe und ihm früher schon ein unbedingter, großer Wunsch erfüllt worden sei, dass dann sein Herz möglicherweise nicht genügend Raum biete für den zweiten Wunsch, weil es so erfüllt sei von der Erfüllung. Deshalb also sei ihm der Gedanke gekommen, das Glück der Verwirklichung des alten für den neuen Wunsch zu opfern, damit das Schicksal, weil er das Wichtigste aufgegeben hatte, ihm gewogen gestimmt würde durch das Opfer und ein Einsehen mit ihm habe.
Kicks hatte sich zunehmend in Fahrt geredet. Die Sätze perlten nur so aus ihm heraus.
Sie sah ihn an, als hätte sie Kopfschmerzen.
Kicks fuhr fort, dass er seine Gitarre hergegeben habe, dass er dieses gigantische Opfer gebracht hatte. Nachdem er ein allerletztes Lied komponiert habe auf der Gitarre, sei es ihm fast leicht gefallen, sich von ihr zu trennen, es sei ein Lied mit einem schwierigen Baßsolo und einem dreistimmigen Leadgesang und alles sei unterlegt vom selben monotonen Refrain, Kicks sang: Total Surrender. Total Surrender.
D-C-A-C-D, sagte sie.
Weil Kicks kein absolutes Gehör hatte und sich der Tonfolge nicht mehr sicher erinnerte, bewegte er seine Finger auf dem Hals einer imaginären Gitarre.
Ja, sagte er dann, D-C-A-C-D.
Ein musikalisches Palindrom, sagte sie.
Kicks schaute verwirrt.
Ein Palindrom kann man von hinten lesen wie von vorn, erklärte sie mit dieser ewig gleichgültigen Stimme.
D-C-A-C-D!
Kicks war begeistert.
Und weißt du was! Man kann eine Brücke daraus bauen!
Kicks malte in den Sand
 D

Ein gleichschenkeliges Dreieck mit „A“ als Spitze – das ist nicht nur eine Brücke, das ist ein Pfeil, der zu einer Antwort hinführt!
Kicks zeichnete noch ein paar von diesen gleichschenkeligen Dreiecken in den Sand, während er ununterbrochen Total Surrender sang.
Als er sich beruhigt hatte, fragte sie:
Was wünschst du dir?
Kicks antwortete nicht.
Er wollte seiner Schwester nicht sagen, dass er sich nichts so sehr wünschte, wie endlich seinen Schwanz unterzubringen in etwas, was er sich als gigantisch unvorstellbar vorstellte, im Inneren einer Frau. Er wollte diese Frau ja auch lieben, er war ja bereit, schon von einem Lächeln sich in Liebe entfachen zu lassen, er war ja bereit, so eine Frau anzubeten, sich vollkommen hinzugeben, sich zu unterwerfen, zu all dem wäre er ja bereit, wenn sie ihn nur umschlänge mit zwei Armen und zwei Schenkeln und ihn aufnehmen würde in ihrer Mitte, bis ans Ende der Zeit ihn immer wieder aufnehmen würde in ihrer Mitte, und das mehrmals jeden Tag.
Und weil Kicks schwieg, fragte sie ihn endlich, was er täte, wenn sein Wunsch sich nicht erfüllte.
In diesem Moment fühlte Kicks sein Glied geradezu verdorren in lebenslanger Jungfernschaft. In heftigem Erschrecken stieß er hervor: Dann bringe ich mich um.
Sie schlug ihn mit aller Gewalt, deren sie fähig war, ins Gesicht.
Kicks spürte einen dumpfen Schmerz und im nächsten Moment schon ein Brennen und gleich darauf schmeckte er Blut in seinem Mund. Mit dem Handrücken wischte er über seine Nase und während er auf den blutigen Handrücken starrte, voller Verwunderung, dass dort sein eigenes Blut im Trocknen sich schon verdunkelte und neue, helle Tropfen hinzu kamen, die zwischen seine Finger rannen wie in Tälern das Wasser sich einen Weg sucht zwischen dem Gestein, während Kicks all dies sah und verstand und es gleichzeitig nicht fassen konnte, fragte er sie:
Warum hast du das getan.
Weil ich dich über den Tod hinaus verfolgen werde, sagte sie mit der Gleichgültigkeit, die er so gut kannte, dass ihn die Gleichgültigkeit anderer Menschen stets an seine Schwester erinnerte und er über diese Menschen mit Wärme sagte, sie erinnerten ihn an seine Schwester und immer verwirrt war, wenn ihm bedeutet wurde, dieser oder jener sei aber doch so entschieden gleichgültig und deshalb irgendwie oberflächlich und kalt, weil seine Schwester nichts von dem war.
Diese Schwester jedenfalls wollte ihn über den Tod hinaus verfolgen, wenn er sich selbst ein Haar krümmte.
Wenn es sein muss, treibe ich meiner eigenen Voodoo Puppe die Nadel ins Herz, sagte sie mit Gleichgültigkeit.
Wenn es sein muss, werde ich dich durch Hexerei zu fassen kriegen.
Kicks nickte. Seine Nase hatte aufgehört zu bluten. Er grinste schief mit seiner geschwollenen Lippe.

Steven traf sie beim Pool. Es wäre ihm lieber gewesen, ihr nie vorher begegnet zu sein, dann hätte er sie vielleicht gerne kennengelernt.
Er hätte sie sicher gerne kennengelernt, wie sie da stand in ihrem schäbigen Badeanzug, die Haut etwas zu braun, etwas zu trocken, der Körper etwas zu sehnig.
Aber er konnte sie nicht mehr kennenlernen wollen und wegsehen konnte er auch nicht, denn sie kam auf ihn zu.
Als sie vor ihm stand, streiften ihre Augen seine Arme. Er wusste, dass sie die kleinen blassen Narbenpunkte erkannte. Er fühlte, wie die Hitze in seinen Kopf stieg.
Es war die Hitze, die ihn verwirrte, es war der Teufel, der ihn ritt, und so fragte er sie, ob sie den Zuckerhut kenne, diesen schmalen hohen Stein, der wie ein Stalagmit nadelgleich aus dem Wasser ragte, nahe genug am Ufer, dass man dort, wo Felsen den ansonsten flachen Strand erhöhten, von der Küste hinabstürzen und auf dem Zuckerhut sich aufspießen könne.
Und weil sie während eines ihrer langen Läufe an der Hütte vorbeigekommen war, ihn gehört hatte wie er schrie, ihn gesehen hatte mit seinen wunden Armen, Zeugin gewesen war, wie er auf seine eigenen Füße kotzte – nur etwas Magensaft hatte der Körper sich im Krampf entwunden, weil Steven ihm seit Tagen die Nahrung verweigerte -, und weil er sie hatte wegschicken müssen mit ihrer Hilfe und weil er trotz seines elenden Zustands sehr wohl spürte, wie unaufdringlich, ja geradezu nüchtern dieses Hilfsangebot war, dass ihm für einen Augenblick schien, sie begriffe alles, sie wisse um die Uhr mit der Datumsanzeige und den Zettel an der Wand, sie kenne jede Schlafcouch und den einzigen Koffer, weil er ihr also in dieser Weise zum ersten Mal begegnet und sie seitdem oft an der Hütte vorbeigelaufen war, fragte er sie, ob sie glaube, wenn man sich rückwärts auf die Spitze des Zuckerhuts fallen ließe, ob man dann vor dem Eintritt des Todes die eigenen Knochen zersplittern hörte.
Sie stand vor ihm und blickte ihn an, als wisse sie die Antwort. Aber sie sagte nichts.
Und ging.
Steven kniete am Rand des Beckens, sein Gesicht hatte er hinunter gebeugt, er sah seine verzerrte Reflexion, die undeutlich war bis zur Unkenntlichkeit, eine leichte Brise kräuselte die Wasseroberfläche, und weil er sein eigenes Gesicht nicht erkennen konnte, sah er an dessen Stelle ihr Gesicht, dieses so unendlich traurige Gesicht, und er beugte sich noch tiefer, dieses Gesicht zu küssen, und er tauchte ein und zerteilte den Spiegel.
Manchmal hielt man ihn für einen Skandinavier oder Deutschen, weil sein Akzent so hart war. Das geschah aber nur, wenn er einen Satz lange genug eingeübt hatte und ihn einigermaßen problemlos aus dem Mund heraus brachte. Ansonsten hielt man ihn für einen Idioten.
Mit Karls Hirn war allerdings alles in bester Ordnung. Nur fehlte ihm seitlich ein Stück Zunge und dann war da dieses Loch in seiner Wange. Und beim Versuch, nach seiner Geburt den Defekt operativ zu beheben, hatte man ihm gleich noch ein paar Gesichtsmuskeln und Nerven ruiniert und so hing ein Triefauge über dem Teil seiner linken Gesichtshälfte, den man trotz des Pflasters sehen konnte. In Karls Gesicht paarte sich ein ärztlicher Kunstfehler mit dem verwirklichten Risiko einer Amnioskopie. Dabei waren seine Eltern weder alt noch erblich vorbelastet gewesen. Sie wollten nur das perfekte männliche Kind. Und er war dabei herausgekommen. Und nicht nur das, der Kunstfehlerprozeß hatte seine Eltern ruiniert, auf unabsehbare Zeit ruiniert, ihr Geld hatte er aufgezehrt und ihren Glauben an die Machbarkeit aller Ziele. Das einzige, was blieb, war sein Name, Karl, der Große, der Eroberer, der Reichsgründer, das hatten sie sich für ihn ausgedacht angesichts ihrer deutschen Vorfahren.
Karl aber kämpfte sich nicht durch Landstriche, er kämpfte sich durch Satzwüsten, er verkürzte und verkleinerte die Wege, um von A nach B zu kommen, er schnitt einfache Konstruktionen aus seinen Gedanken, damit man ihn nicht für einen Idioten hielte. Unter seinem Pflaster lebte eine Öffnung ähnlich einem Mund, ein ums andere Mal hatte man versucht, es zuzunähen, doch hatte das Loch sich nie vollständig schließen wollen, das letzte Mal hatte sich ein hochkarätiger Professor daran versucht, sie hatten angefangen, ihn kostenlos zu operieren, weil er ein medizinisches Phänomen war
Und er blieb ein medizinisches Phänomen, das Loch, das die Nadel bei der Fruchtwasseruntersuchung in den Embryo hinein gebohrt hatte, führte ein eigenes Leben, es unterlag einem Zyklus, der keine zeitliche Regel erkennen ließ, der darin bestand, dass die Wunde manchmal austrocknete, abheilte und sich fast schloss, um dann wieder aufzubrechen, zu eitern, zu nässen, mit einem entzündlichen Rand sich zu umgeben von der Farbe eines Lippenrots.
Sie stand am Strand und blickte zum Zuckerhut. Oben auf der Steilküste sah sie eine Gestalt, die sie nicht erkennen konnte. Es war Flut, das hereinkommende Wasser warf sich mit verstärkter Kraft gegen jedes Hindernis, schickte seine Gischt gegen die Spitze des Zuckerhuts, und weil der Zuckerhut ganz oben unerreichbar blieb, rollte das Wasser mit ärgerlicher Macht den Felsen der Küste entgegen, schlug tosend dort auf und die Brandung hallte bis zu der Stelle, wo sie immer noch am flachen Ufer stand, und wo ihre Füße jetzt vom Wasser umspült wurden.
Sie sah zum Zuckerhut und sie wusste, wenn man dort aufschlug mit dem Rücken, würde man noch hören, wie die eigenen Knochen zersplitterten, man würde diesen Ton wahrnehmen, als käme er aus relativer Ferne, so, wie das Geräusch der Brandung aus relativer Ferne zu ihr kam, und man würde sich wundern über diesen Ton, weil er unbekannt war, und trotzdem würde man wissen, dass etwas Lebendiges zersplitterte mit diesem Ton, dass man Zeuge wurde eines bisher unerhörten Vorgangs. Und man würde einen Schmerz wahrnehmen, doch auch diesen Schmerz würde man wahrnehmen in relativer Ferne. Und dies alles würde eine lange Zeit dauern und wäre im kürzesten Moment vorbei.
Kicks hatte angefangen, Steven zu suchen. Ohne zu wissen, wo er mit der Suche hätte beginnen sollen, war er herum gelaufen, schließlich zum Strand gegangen, zur Steilküste gelangt und da stand er nun und schaute auf den Zuckerhut, der von der Gischt hereinkommender Wogen umspült wurde. Am Morgen, im Chemieunterricht, war Kicks ein Reagenzglas aus der Hand gefallen. Am Boden war es zerborsten in unzählige dünne kleine Stücke, in alle Richtungen spritzte das Glas, Kicks hatte noch den Klang im Ohr, wie es zerbrach und wie beim Auffegen die Sohle seines Schuhs ein paar Splitter zu Glasstaub zermalmte. Und da hatte er sich umgeblickt im Chemielabor und sich gefragt beim Anblick der Glaskolben, der Glaszylinder, der Glasplatten, der Petrischalen, der Kulturenträger, des Giftschrankes, der Bunsenbrenner, wie es wohl klänge, wenn man das alles zerschlüge, wenn man mit einem Baseballschläger das Chemielabor in seine Einzelteile zerlegte. Kicks stellte sich das durchaus nicht kakophon vor, er glaubte an eine Harmonie, an einen Rhythmus und eine geordnete Klangfolge, nicht symphonisch gewaltig, eher minimalistisch, eher in Betracht ziehend jedes Stück für sich allein, er dachte an Steve Reich zum Beispiel. Und da fiel ihm natürlich Steven ein, der das Chemielabor zerlegt hatte vor ein paar Jahren und dann von der Schule geflogen war. Kicks hatte einen Drang in sich, es Steven nachzutun, diese Töne herzustellen, die sich aus der Zerstörung schufen, er wollte nicht nur seine Idee einer gewissen Schönheit des Untergangs komponieren, er wollte es selbst tun, er selbst wollte etwas zerschlagen, etwas kurz und klein hauen, er wollte diese Energie hausen lassen wie einen Orkan, er wollte brüllen und toben und nicht mehr nur geordnete Bahnen im Schwimmbad ziehen, bis er vor Erschöpfung torkelte, wenn er aus dem Wasser stieg. Vor allem aber wollte er Sex haben. Und von Steven wollte er eigentlich wissen, wie das sich anfühlte.
Sie wusste die Antwort auf Stevens Frage, weil sie die Antwort wusste auf jede erdenkliche Frage, die sich durch Wahrnehmung oder Deduktion erschloss, weil absolut nichts ihrem Verstand verborgen blieb. Sie hatte drei Universitätsabschlüsse und ebenso viele Doktorentitel und war erst einundzwanzig Jahre alt. Eine normale Schule hatte sie nicht besucht, Steven und sie wären in der gleichen Klasse gewesen. Aber sie hatte nie eine normale Schule besucht, sie führte mit sich wie an einer schmalen Hundeleine Deep Blue, einen gigantischen Rechner, der in der Sekunde tausende von Alternativen durchrechnet, mit dieser Gigantomanie die menschliche Unwägbarkeit überrechnet und ein so geniales Schachhirn wie Kasparov besiegen kann.
Ihr Deep Blue allerdings war eine Spur monströser, er hatte die Kapazität einschließlich der menschlichen Unwägbarkeit und beides in phänomenaler Geschwindigkeit. Ihr Gehirn erledigte nicht unbemerkt sein Programm, es kannte keine Trennung in zwei Hälften, es bot in jedem Augenblick Zugriff auf sämtliche Informationen, die es jemals gespeichert hatte, ständig standen alle seine Archivschubladen unverschlüsselt offen, für sie war es kein Problem, sich zu erinnern, sie erinnerte sich an die Stunde ihrer Geburt, sie erinnerte sich, sie erinnerte sich, sie wusste, sie wusste, in einem unaufhörlichen Hochgeschwindigkeitsrausch jonglierte ihr Gehirn mit Daten, zu jedem Gegenstand hielt es eine Enzyklopädie an Informationen vor, es war ihm egal, ob sie davon wissen wollte. Es gibt nichts Schlimmeres, als das Leben in jeder Sekunde auf Molekularstrukturebene zu begreifen. Ihre monströse Ungewöhnlichkeit wuchs und wuchs wie ein Geschwür, dorthin und hierhin wurde sie gereicht, Tests, Tests, Tests, sie war ein Teenager und hatte sich schon bis zum Urknall gedacht und wieder zurück, zuerst war sie ein Zirkuspferd gewesen im goldenen Geschirr und im tobenden Beifall der Manege, aber dann dachte sie, sie würde zum Monster, sie wäre der buckelige Idiot, der einen Turm bewachte, der einer Aufgabe diente, die ihn vernichtete, sie wollte ein Leben, das ihr eine handvoll Sand als sonnengewärmtes Rinnsal schenkte, das mit weichem Kitzeln zwischen den Fingern ihrer geschlossenen Hand entkam. Sie versuchte sich in verschiedenen Jobs, der bislang beste war der einer Kellnerin, Getränke und Essen konnte sie einfach riechen und es blieb beim Geruch. Sie ließ ihr Gehirn hungern, sie gab ihm wenig Reize, sie übte sich im Versuch, Handlungen und Wahrnehmungen auf das Notwendigste zu beschränken und nicht herumzuschweifen damit. Low Space Conduct nannte sie das, Buddhisten nennen das Arbeitsmeditation, Andere fanden, sie sei ein gleichgültiger, oberflächlicher und kalter Mensch. Sie entdeckte das Rennen, und sie entdeckte noch etwas, das ihren Deep Blue auf Handtaschengröße zusammenfaltete. Steven.
Als sie dem Jungen mit dem entstellten Gesicht begegnete, fragte sie, ohne ihre Gleichgültigkeit zu verlieren:
Wie ist das Wasser?
Er blickte sie an und sagte:
You wouldn't want to get wet feet.
Sein Akzent war hart, wie der eines Deutschen oder eines Skandinaviers, aber er hatte deutlich gesprochen.
Sie kam auf ihn zu.
Er trug keinen Regenschirm bei sich, es regnete nicht, und wenn er ihr mit einem Regenschirm im Regen begegnet wäre, er hätte nicht gewusst, ob sie es sei. Sie sah nicht danach aus, sehnig, spröde, ein bisschen schäbig, seine Vorstellung war eine andere gewesen, aber jetzt war sie es, die auf ihn zukam, und ihn anfasste, als täte er es selbst, er musste nur dafür sorgen, dass er nicht fiel; und dann nahm sie ihn in den Mund, wie er sich gewünscht hatte, das selbst tun zu können; und dann entfuhr ihm ein unkontrollierter Schrei, er machte etwas mit dem Loch in seiner Wange, dieser Schrei. Es war Karl egal, was dieser Schrei aus ihm werden ließ.

Es sah nach Regen aus. Steven ging mit einer Entschlossenheit, die jegliche Ordnung vermissen ließ. Er trug Anzug, Krawatte und Lederschuhe und ging schnurstracks am Strand entlang, hinein in die Senken, die die Flut mit Wasser gefüllt hatte und wieder heraus. Seetang hing an seinem rechten Hosenbein, er kümmerte sich nicht darum. Er hatte ein Ziel, er wusste, dass er ein Ziel hatte, auch wenn er dieses Ziel nicht kannte, musste er schnell ankommen. Er trat auf eine Qualle, die gallertartige Masse ließ seinen Schritt für einen Moment federn. Sein Getriebensein hatte für ihn etwas Unbehagliches, wie er den Strand so zielstrebig entlang lief, wie er seinen Anzug ruinierte, wie ihm der Ruin seines Anzugs Vergnügen bereitete, wie ihm der Gedanke an seinen eigenen Ruin Vergnügen bereitete.
Sie schwamm. Sie schwamm nicht gerne und schon gar nicht gerne im Meer, aber vor einem Moment hatte sie einfach Lust gehabt, die größere Leichtigkeit ihres Körpers im Wasser zu spüren. Sie ließ sich auf dem Rücken treiben und schaute nach oben. Es sah nach Regen aus. Sie hatte es wieder einmal ausprobieren wollen und dieser Junge mit dem halben Gesicht, das übrigens unendlich schön war in seiner gesunden Hälfte, dieser Junge mit dem halben Gesicht gefiel ihr; deshalb dachte sie jetzt darüber nach, dass der Geschmack von Sperma seltsam war, nicht seltsam im Sinne von unangenehm, jedenfalls hatte sie grundsätzlich lieber diesen Geschmack im Mund, als im Meer zu schwimmen, auch wenn sie jetzt beides genoss. Weil sie nachdachte, ließ Deep Blue alle möglichen Daten auf sie los, Zusammensetzung der Spermaträgerflüssigkeit, Wirkstoffe eines Spermazids, Verschmelzung von Samen- und Eizelle, Geschwindigkeit der Zellteilung, periodische Sternschnuppenschwärme, Bevölkerungsexplosion, Literaturnobelpreisträger der letzten achtzig Jahre, Hawkings Zeitbegriff, schwarze Löcher, Quantensprung, Rotverschiebungen, schiefer Turm von Pisa, und jetzt hatte es tatsächlich angefangen zu regnen. Sie schwamm zurück, stieg aus dem Wasser, ihr schwindelte, sie fröstelte und aus irgendeinem Grund rannte sie in die falsche Richtung, während die Wolken sich weiter verfinsterten.
Steven war bei der Hütte angelangt. Sein Haar war nass vom Regen, seine Anzugjacke auch, überhaupt gab es kein trockenes Kleidungsstück an seinem Körper, in der Hütte aber roch es nach heißen, trockenen Sommertagen. Als erstes nahm Steven seine Krawatte ab, für einen Moment schloss er die Augen und sah in seiner Erinnerung, wie Staubpartikel im Licht flirrten, das in Streifen durch die hölzernen Läden fiel. Es waren der Geruch und die Erinnerung, die Steven an Feuer denken ließen, während er sich bis auf die Unterhose auszog. Er hatte nicht gedacht, dass es so einfach wäre Feuer zu legen. Die Flammen fraßen sich durch den Papierhaufen, den er zusammen getragen hatte, sie leckten am geflochtenen Sitz des Stuhls, den er über den Papierhaufen gelegt hatte, das Geflecht verfärbte sich schwarz, schon sprangen die ersten Schnüre, dann führte das Feuer Schnitte aus mit schnell verlöschenden, gleißenden Klingen, schließlich waren genügend Kerben geschnitten, der Sitz brannte lichterloh, die Stuhlbeine brannten als nächstes, die Flammen kannten kein Halten mehr. Stevens Polyesterkrawatte verschmolz zum stinkenden Verwandten eines Lindwurms, die Hitze trieb fette Rußflocken hoch, sie legten sich um Stevens Schultern, als suchten sie die Nähe zu dem Platz, den sie so gut kannten aus anderen Tagen, später wurde Steven von Funken getroffen, die Haar und Haut seiner Unterarme versengten, der Gestank und die zunehmende Gewalt des Feuers trieben ihn nach draußen, bald folgten ihm die ersten Flammen nach durch das Dach und ließen sich anfächeln von der Brise, die sie vorfanden außerhalb der Hütte. Es hatte aufgehört zu regnen.
Stevens Hände waren schwarz. Als wäre er ein Indianer auf Kriegspfad setzte er sich Zeichen ins Gesicht mit diesem Schwarz, doch er fühlte sich ganz und gar nicht nach einem kriegerischen Geheul. Er fühlte sich befriedet. Er hatte schwarze Friedenszeichen in sein Gesicht gesetzt und die Brandblasen auf seinen Unterarmen waren ihm ebensolche Friedenszeichen. Mit dem Rücken zur Hütte hockte er sich in den Sand und schaute aufs Wasser, das seinen höchsten Punkt erreicht hatte und mit Ruhe ans Ufer schwappte. Ein ums andere Mal schwappte das Wasser mit der gleichen Ruhe ans Ufer, ein schier endloses Band, und würde doch seiner Gleichmäßigkeit bald ein Ende setzen, sich zurückziehen und im Rückzug eine Strömung entfalten, die einen ungeübten Schwimmer, wenn sie ihn auch nicht fort nahm zur offenen See, so doch seine Versuche zur Umkehr lange genug behinderte, bis ihn die Kraft verließ und er sich schließlich der Strömung hingab, um zu ertrinken, um irgendwo da draußen zu ertrinken, dass er Glück hätte, wenn das Wasser seinen Körper später wieder ans Ufer legte.
Steven stellte sich den Sog des abebbenden Wassers vor, wie man aufgenommen wurde von der Strömung, wie sie einen wiegte und koste und einem die Augen verschloss. Fast lächelte er, weil ihn der Ruf nicht mehr erreichte.
In seinem Rücken die Hütte würde noch ein paar Stunden brennen. Noch ein paar Stunden würde er das Feuer hören, wie es gemeinsam mit dem Material, das es sich einverleibte, alle erdenklichen Klänge bildete, prasselnd, zischend, ächzend, knallend, steigend und schließlich fallend verebbte, um noch ein, zwei Tage unter der Asche eine Glut vorzuhalten und mit der Glut eine Bereitschaft, aufs Neue sich entfachen zu lassen, bis auch die letzte Glut befriedet starb. Zwischenzeitlich wäre das Meer zurückgekommen und wieder fortgegangen und würde nicht aufhören mit dem Zurückkommen und Fortgehen.
Egal, wie lange es dauerte, er würde stets aufs Neue dem Ruf der Strömung entsagen.
Egal, wie lange es dauerte, er würde hocken bleiben im Sand, bis sie vorbei gerannt kam.

Eva Scheller       30.08.2007       

Eva Scheller
Prosa