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Die soziale Frage in der Literatur von Heute (Teil 2)
Enno Stahl im Mail-Dialog mit Dominik Irtenkauf

 
  Teil 2
  Enno Stahl
Diskurspogo
Zu Literatur und Gesellschaft
Verbrecher Verlag (August 2013)


2013 ver­öffent­licht Enno Stahl im Ver­brecher Verlag sein Buch Diskurs­pogo. Über Lite­ratur und Ge­sell­schaft, in dem er in ver­schie­denen Kapiteln der Frage des So­zialen in zeit­ge­nössischer Lite­ratur nach­geht. Tief­greifende Ver­ände­rungen des so­zia­len Rück­halts in der bundes­deutschen Ge­sell­schaft wie die Zunahme der pre­kären Be­schäf­ti­gungs­ver­hält­nisse, eine tiefe Ab­hän­gig­keit der Politik vom Lobby­ismus und von Parti­kular­inter­essen, Priva­ti­sierung von Sozial­systemen und unge­zügel­ter Konsumis­mus werden laut Stahls Analyse nur marginal in zeit­genös­sischer Literatur thema­tisch auf­gegriffen.

In mehreren E-Mails wird versucht, an die Positionen des Buchs von Enno Stahl anzuknüpfen, den Horizont aber auch weiter zu spannen.

Dominik Irtenkauf


15.11.2013  |  18:30
Hallo, Herr Stahl,

es wird Gründe für diesen „deutschen Sonderweg“ geben: die schwer unter einen Hut zu bringende Popliteratur der Neunziger hat sich ja auch mitunter an ameri­kani­schen Vor­bildern orientiert, die Beat­literatur aber stark abgeglättet und für einen Medien­betrieb poliert. Als Gegen­satz hierzu könnte man den Under­ground be­zeich­nen. In den frühen 2000er Jahren war ich mehrere Male auf der Mainzer Mini­pressen-Messe, auf der Social Beat-Verleger und -Autoren ver­treten waren. Zu jener Zeit habe ich jedoch keinen Zugang hierzu gefunden. Die Aus­nahmen bil­deten Ploog und Hübsch, aufgrund der medien­techno­logi­schen bzw. der spiritua­lis­tischen Ausr­ichtung (zumindest bei Hübsch in Teilen).

Sie nennen ja Jürgen Ploog und Hadayatullah Hübsch in Ihrem Buch, von denen ich vor einigen Jahren Werke gelesen habe, und diesen Unter­grund in Bezug auf soziale Aporien stets fein­fühliger als die eta­blierte Literatur in den Groß­verlagen fand (wobei man das je nach Beispiel unter­scheiden sollte). Der „Nachteil“ dieser Unter­grun­dli­teratur ist jedoch der Hang zur Muster­bil­dung, was bei Ploog deut­lich auffällt, da die Ver­schwö­rungs­theorien Burroughs'schen Zu­schnitts bei ihm unge­brochen über­nommen werden – durch seinen lang­jährigen Beruf als Lang­strecken­pilot kann man das durchaus als konse­quent bezeich­nen, da er ja nie nur in Deutsch­land seine Beobach­tungen gemacht hat, doch nutzt sich ein Szenario: Über­wachungs­system vs. Under­ground-Agenten relativ schnell ab. Indes ist dies durch die NSA-Affäre und die Murkse­reien des V-Schutzes längst zur Realität geworden.

Ich stimme Ihnen zu, was „eine gewisse Relevanz im System der Auf­merk­samkeits­öko­nomie“ des ameri­kanischen Romans angeht, doch denke ich, dass mehr noch Genre-Romane wirt­schaftlichen und damit auch infor­mationellen Erfolg verbuchen können. Der Krimi-Kritiker Martin Compart stellt auf seinem Blog immer wieder ansprechende Hard-Boiled-, True-Crime- und Noir-Romane aus dem anglo­ameri­kanischen Raum vor, in denen das Gesell­schafts­bild eine wesentliche Rolle spielt. Natürlich ist nach den Imagines in diesen Texten zu fragen, denn die narrative Inszenierung ist in solchen Romanen nicht zu unter­schätzen. Gerade in diesem Genre wird der Kontakt zum Film, entweder im Stil oder eben durch die direkte Verwertung als Film, gesucht, was eine andere Dimension des gegen­wärtigen Lesens exem­plifi­ziert. Durch visuelle Ausrichtung der Literatur wird sie in einen Prozess eingebunden, der durch die Traditions­linie des Films über die Photo­graphie für eine realistische Art des Erzählens stehen kann. Nun wurde die Photo­graphie bereits zu Zeiten ihres Entstehens immer auch zum Nachweis irrealer bis hin zu phantas­tischer Phänomene benutzt. Aber das wäre ein anderes Thema. Sie war nie Garant eines realis­ti­schen Weltbilds, die Mani­pula­tionen fingen ja schon recht bald in ihrer jungen Ge­schichte an.

Sie werfen die Kanonbildung auf, von deren Aus­sagekraft ich nicht mehr ganz so überzeugt bin. Wie Sie schon schreiben, gibt es stets eine Gegen­bewegung und ich denke, anstatt mono­lithische Autoren zu pro­duzieren, wird nun klein­teiliger, partiel­ler gearbeitet – ich möchte nicht unbedingt auf Deleuze/Guattari hinaus, sondern eher darauf, dass sich durch die globa­li­sierte Diskus­sions­kultur und die Zer­faserung in Zirkel sich entsprechend soziale Wandel und Bewegungen in vielen Do­kumenten, auch in grauer Literatur, in Fanzines, in Street-Art, in inoffiziellen Netzwerken aussprechen, was für den Lite­ratur­wissen­schaftler eine kaum zu bewäl­tigende Aufgabe stellt, dies alles zu sichten und in Essays über­blickend dar­zu­stellen. Ja, ohne eigene Netzwerkarbeit wird diese Aufgabe kaum be­wältigt werden. Statt den großen Kanon zu bemühen, zeichnet sich mög­licher­weise ein neues Beben im Unter­grund ab. Wobei eben jener Untergrund großteils zur Genre­literatur geworden ist. Genre bedeutet jedoch auch, diszi­pliniert nach Vorgaben schreiben zu können, was der Beherr­schung der Sprache zuträglich ist, dann wiederum sich die schrift­stel­lerische Wahr­nehmung gegenüber ge­sellschaft­lichen Themen öffnen kann. Mir ging's zumindest die ersten paar Jahre so, dass ausschließlich die Hermetik und roman­tische Posi­tionen, Grotesken mein Interesse dirigierten.

Erst ein Stipendien­aufenthalt in Georgien hat da die Augen geöffnet. Dort existiert ein großer Zweig an histo­rischer Literatur, die zeit­genös­sische orientiert sich besonders bei den jungen Autoren vorwiegend an westlichen Vorbildern (die Beat­literatur ist auch von einiger Bedeutung) oder wiederum an Beziehungs­kon­stel­lationen, wie Ihre Verlags­kollegin Haratischwili (die ja länger bereits emigriert ist und die Brisanz kauka­sischer Macht­politik nicht mehr am eigenen Leib / Bewusst­sein erlebt).

Ein mir bekann­ter Dichter aus Tbilissi, Dato Barbakadse, hielt im August eine Lesung in Berlin, an der er sich mit dem Veranstalter zum Thema Soziales äußerte. In Georgien ist aufgrund der post-sowjetischen Inter­essens­lage die wirt­schaft­liche und damit auch kul­turelle Situation stets von Konflikt geprägt, wodurch sich in manchen Teilen der Bevölkerung eine Sehnsucht nach Stabilität (ver­ständ­li­cher­weise) ausbildet – dies schlägt sich auch in diversen Werken der Landes­literatur nieder.

Die Trendyness der Lyrik habe ich nicht im Sinne des Diskurspogos gewertet, weil ich Ihre Einlassungen zur Lyrik und ihrer herme­tischen Verweise auf die Sprache wie auch die Selbst­verliebt­heit in poetische Meta­phern bereits gelesen habe. Da ist die Frage, ob diese gut besuchten Lyrik­lesungen möglicherweise mit dem Auf­merks­amkeits­de­fizit in Zeiten der Musik­clips und Elektronik­verschal­tung zusammen­hängen? Lässt sich schnell lesen und das literarische Gewissen für den Tag ist dadurch gewisser­maßen beruhigt – weil, man hat ja was für die tägliche Bildung getan! Ob die Lyrik nun „ver­standen“ wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Ich meinte eher den Journalismus in Buchform; ich forsche gerade zu Musik­biographien, aber auch zu soge­nannter Sonic Fiction, ob in solchen Werken durch den journa­listi­schen Stil nicht viel eher Menschen (eben aus diesen Inter­essens­gruppen, ist dann auch eine Ein­schränkung gewiss) ange­sprochen werden, als durch volu­minöse Werke, wenn ich jetzt z.B. an „Infi­nite Jest“ denke (wiewohl das ja auch ein­zelne Stories sind und in Dosen verab­reicht werden können.).
Bedenkt man die aus­giebigen Recherchen zu einem bedeu­tenden Roman, den man in Planung hat, und die Lohn­arbeit, die wertvolle Zeit vom Schreiben abzieht, sofern man nicht in die Sti­pendien­welt Einlass gefunden hat, dann kann ein Jour­na­lismus viel schneller auf unange­nehme soziale Ent­wicklungen reagieren. Ich dachte jetzt z.B. an Tele­polis, die ein sehr um­fassendes Bild zu Ent­wick­lungen im sozialen, poli­tischen, kultu­rellen Bereich liefern können. Aber stimmt: das Budget ist natürlich be­grenzt und für wirklich extensive Recher­chen fehlt die Finan­zierung der Zuarbeiter.

Schönes Wochenende,
Dominik Irtenkauf.

* * *

27.11.2013 10:51

Hallo, Herr Irtenkauf,

1) zur Popliteratur: Ja, es gibt Gründe für diesen deutschen Sonder­weg – einige Argu­mente dafür habe ich zu geben versucht (Pop als Epip­hänomen in Deutsch­land), das Ent­stehen, die Aus­richtung und der Erfolg der deut­schen Pop­literatur der 1990er Jahre hat aber sicher mit der spezifischen deutschen Sozialstruktur zu tun, der Ver­teilung der Reichtümer, was materielle wie immaterielle Ressourcen angeht (beide wiewohl eng mit­ein­ander verzahnt), als ökonomisches wie symboli­sches Kapital.

Die so genannte Untergrund­literatur ist natürlich nicht frei von ästhetischen Defi­ziten, keines­wegs – was in Teilen aber auch daran liegt, dass sie bewusst margi­nalisiert wurde und nicht in den Genuss einer profes­sionellen Bear­beitung und Positio­nierung von Seiten des Betriebs kam (sprich: zuvorderst das Lektorat; doch auch eine größere, gesell­schaftliche Wahr­nehmung fördert ja die Selbst­kritik und damit die Ver­bes­serung der litera­rischen Ansätze). Autoren wie Hübsch und Ploog hingegen befanden sich stets in einer Art Eremitage, die nicht nur selbstgewählt war, isoliert von anderen Strö­mungen und Dis­kursen außerhalb der Post-Beat-Literatur. Dass jedoch Ploogs Ver­schwörungs­theorien so krude gar nicht mehr wirken, wie Sie einräumen, zeigt, dass diese Literatur durchaus eine starke Berech­tigung hat und eine gerechtere Beur­teilung erfahren müsste. Ich habe unlängst in mehreren, teil­weise ähn­lichen Auf­sätzen für wissen­schaft­liche Publi­kationen in den USA, in Russland und Frankreich einen ersten Versuch einer solchen kriti­schen Würdi­gung der „anderen Ge­schichte des Pop“ gemacht.

2) zum Hard-Boiled-Krimi und seiner Wirklichkeits­nähe: Ich will diese nicht be­strei­ten, das ist aber nicht der Realismus­begriff, den ich vertrete. Der analy­tische Realismus, von dem ich spreche (inbes. in „Realismus und literarischen Analyse“) zielt vorrangig auf eine künstlerisch hochkomplexe Form des Meta-Realis­mus, der aus dem gesamten Reservoir der Formen, Mög­lich­keiten und Stile schöpft, den avancierte lite­rarische Ansätze beson­ders in den letzten 200 Jahren er­arbeitet haben. Mein erstes Inter­esse gilt also nach wie vor der Lite­ratur als Kunstform. Krimis sind durch das Korsett des zwingenden Genre­bezugs (Span­nung, Plot, Personal) in meinen Augen ästhe­tisch unterkom­plex. Das ist ein altbekanntes, geradezu konser­vatives Argument, das auch von Marcel Reich-Ranicki oder solchen Kandi­daten stammen könnte, ich weiß. Ich halte es dennoch nicht für falsch: Ein Krimi, der sich meinen Maß­stäben und Ansprüchen öffnete, würde nicht mehr als Krimi wahrgenommen, da seine Form zerfiele, von Spannung keine Rede mehr sein könnte usw.

Es geht mir ja um viel mehr (s. z.B. die Kritik an Trash, meine eigene Ver­gangen­heit mit­ein­begrif­fen) als nur um eine bloße (impressionistische) Dar­stel­lung sozialer Situa­tionen, das ist nämlich wirklich Social Beat, den Sie zurecht verurteilen. Es geht mir um das Element der literarischen Analyse, das Durch­dringen von histo­rischen oder zeit­ge­nös­sischen Sozial­kom­plexen und Hege­monial­verhält­nissen mit den Mitteln der Literatur, wie es etwa Peter Weiss in der Ästhetik des Wider­stands für den kom­munis­tischen Widerstand gegen den National­sozia­lismus vor­geführt hat.

Kriminalromane finden deshalb nur eine kurz­zeitige Aufmerk­samkeit, meist erlischt das Interesse an ihnen mit dem Tod des Autors. Selbst bei den sehr sozial­kritischen Bei­spielen dieses Genres lässt sich das Interesse nicht aufrecht erhalten, vermutlich gerade wegen der Zeit­gebunden­heit der Kritik, die eben meiner Ansicht nach s.o. weitgehend nur im „Elends­impres­sionismus“ besteht, nicht aber die Gründe für diese sozialen Forma­tionen einer ausgiebigen Analyse zu unterziehen vermag. Was z.B. ist mit Sjöwall/Wahlöö? Völlig überlagert vom medialen Bild der TV-Serie, die wirklich gar nichts mehr mit den 70er-Romanen zu tun hat. Sie sehen, die Verfilmbarkeit von Literatur kann gerade zu einem Problem für sie werden (sie ist immer auch eine Zweck­ent­frem­dung durch das System, witzig fand ich zuletzt gerade, dass beim als gesell­schaft­lich schwer relevant einge­schätzten Film „Mobbing“ die Autorin des Roman­vorbilds, Annette Pehnt, überhaupt nirgendwo auf­taucht oder erwähnt wird – vielleicht hat sie sich auch distan­ziert, wie seinerzeit Ralf König von „Der bewegte Mann“ –, sondern dass allein der Dreh­buch­schreiber überall zitiert wird. Tatsächlich redu­ziert der Film das Buch, das sich halbwegs verdienstvoll mit der Mobbing-Problematik aus­ein­ander­setzt, letzt­lich auf eine Liebes­geschichte ...). Ältere Kriminal­romane werden also meines Erachtens nur dann noch rezipiert, wenn sie als historische Belege für die Aus­prä­gung des Genres her­halten sollen (Conan Doyle, Glauser), selbst ein dezidiert lite­rarischer Krimi wie Dürren­matts Der Richter und sein Henker wird die Zeit vielleicht weniger über­dauern als seine Theater­stücke.

Damit wird auch klar, dass ich es keineswegs auf das „realistische Weltbild“ der Photographie oder des Films abgesehen habe. Ich denke eigentlich, das müsste aus allen theo­retischen Essays des Kapitels „Soziale Lite­ratur“ (Der sozial-realis­tische Roman, Literatur in Zeiten der Umverteilung und Realimsus und lit. Analyse) hin­reichend deutlich werden.

3) Zum Kanon: Ich weiß auch nicht, ob fernerhin monolithische Autoren produziert werden – die Gesellschaft scheint ihrer, auch zur Definition des literarischen Feldes und ihrer Selbst­gewis­serung darüber, zu bedürfen, auch wenn es zeitgenössisch zumeist die falschen sind. Ob das so bleibt und damit auch in Zukunft eine Histo­risierung von Literatur und damit verbundener Kanon­bildung erfolgt, ist also nicht absehbar. Dass es daneben ganz sicher die 1000 Plateaux gibt, steht außer Zweifel, fraglich ist, ob damit die Bildung eines „Gegen­kanons“ einhergehen kann oder wird, ob es also wirklich „neue“ Formen geben wird (im Moment sehe ich das nicht: Nachdem etwa im Netz der 90er-Jahre allerlei Bestrebungen im Gange waren eine ganz eigen­ständige „Netz­literatur“ zu schaffen, mit Multimedia und Hypertext, und die Kritiker einmal mehr das „Ende der herkömmlichen Literatur“ herbei­fanta­sierten, schliefen diese Aktivitäten Anfang des Jahr­tausends schon wieder komplett ein, die Szene ist restlos marginalisiert, und lite­rarische Aus­füh­rungen Jugendlicher mögen vielleicht das Netz als Plattform nutzen, formal jedoch befleißigen sie sich konven­tionells­ter Textformen, die dann voll­mundig als BLOG bezeichnet werden – etwas, das wiederum ein lite­rarischer Autor, nämlich Rainald Goetz, in bislang nicht über­troffener Aus­prä­gung als erster in Deutsch­land gemacht hat).

4) Zum Journalismus in Buchform vs. voluminöse Roman­projekte: Sach­literatur (im Sinne des popu­lären Sachbuchs) wurde natürlich schon immer mehr rezipiert, hatte demge­mäß immer größere Chancen, kurz­fristig in den öffent­lichen Diskurs einzu­grei­fen, als Belle­tristik – beson­ders gilt das für solche, die ganz und gar nicht verdächtig ist, sich mit pop­kultu­rellen Zusammen­hängen zu befassen. Das war bereits im 19. Jahr­hun­dert so. Auch hier muss die Betonung aber auf dem Adjektiv kurz­fristig liegen – von diesen Büchern bleibt bereits 10 Jahre nach Erscheinen keine Spur mehr. Ande­res gilt für philo­sophische, soziologische, medien­theo­reti­sche Best­steller, die im Grunde aber der­selben Dynamik (Kanon­bildung usw. ...) unterliegen wie Belle­tris­tik. Auch sie zu verfassen, ist mühsam und langwierig. Dafür ist ihre Wirkung mitunter ausge­sprochen nachhaltig. Zur Be­schleu­nigung der Reak­tion sage ich zudem: Muss es denn immer schnell sein? Ich schreibe seit einigen Jahren schon an einem Roman über Gentri­fi­zierung in Berlin. Vor fünf Jahren war bereits ein Hörspiel fertig, das einige Sender mit der Be­grün­dung ab­lehn­ten, das Thema sei abge­früh­stückt. Wohl­gemerkt vor den gewalttätigen Aus­einan­der­set­zungen in dieser Sache, vor der restlosen Gentri­fi­zie­rung Nord-Neu­köllns, vor der Ubiquität der Proble­matik in Berlin und anders­wo usw. Kurz: Es ist manchmal geradezu ein Vorteil, NICHT sofort reagieren zu müssen, sondern die Ereig­nis­se im Schreib­prozess weiterverfolgen zu können, das Buch diesen immer wieder neu anzu­pas­sen, aktuelle Aspekte und Ent­wick­lungen zu inte­grieren, von denen zu Beginn der Arbeit noch gar keine Rede, keine Spur war.

Ein solcher Roman doku­mentiert dann zeit­genös­sisch den Ablauf der Ereignisse und „archiviert“ sie. Auch beim Thema Terroris­mus – im Kontext der Arbeit an 2PAC AMRU HECTOR – erlebte ich das so, dass solche medial prä­sen­tierten Terror­ereig­nisse, wie im Buch imaginiert, tatsächlich geschahen und somit den grotesken Realis­mus des Romans mit einer Beglau­bigung versorgten. Die Arbeit an Winkler, Werber startete so um 2002/2003, gespeist aus meiner festen Über­zeugung, dass der Kapita­lismus in einer strukturellen (Sinn-)Krise sich befindet, und prompt, 2008, wurde diese Krise virulent, für jede/n sichtbar, das Buch dokumen­tierte also, obwohl 5-6 Jahre früher begonnen, unmittel­bar die Ereignisse und versuchte zugleich, die inneren, psycho­logi­schen Gründe für die immanente Aporie im System mitzuliefern.

Generell muss ich zu diesem Thema sagen: Die Frage nach dem Verhältnis von Belle­tris­tik und Sachbuch oder gar der wertende Ver­gleich zwischen beidem, den man wohl anstel­len kann, ist in Diskurs­pogo nicht mein Thema. Das gehört schlicht nicht zu den Fragen, die ich mir in Diskurs­pogo vor­genommen habe, zu beant­worten. Es geht vielmehr um die Lite­ratur in Zeiten der Umver­teilung, die Rolle der Literatur dabei, ihre mögli­che Verant­wortung, also um Lite­ratur als ge­sell­schaft­liches Wahr­nehmungs­dispo­sitiv – mithin eine Funktion, die, wie ich zu zeigen versuche, immer ihr urei­genstes Kriterium, viel­leicht sogar: ihr Allein­stel­lungs­merkmal war.

Schöne Grüße
e.s. | www.ennostahl.de

Fortsetzung folgt

Enno Stahl    Dominik Irtenkauf    März 2014    

 

 
Enno Stahl
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