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Elke Erbs
Poetics  24  

Zsuzsanna Gahse
Auszüge aus Südsudelbuch
173 Seiten, Prosa, Edition Korrespondenzen, Wien 2012


S. 24
Darüber, daß ich keine Erfahrung mit den riesigen Anhöhen hatte, würde ich auch heute nicht hinwegreden wollen, im Gegenteil, erst einmal sollte ich die Ungetüme wegräumen, dann wäre die Gegend wüst und leer, die Sicht wäre bis nach Mailand frei, und nach einer Weile könnten die Berge wieder heran­rücken und stehen, wo sie vorher standen.

Wie ein Humor ausreifen kann und auf Selbst­geltung verzichten, einer ausge­wo­ge­nen Prosa zuliebe, zu der es dennoch ins Auge fallend ohne ihn hier nicht ge­kom­men wäre.

S. 32
Bei dem deutlichen Sonnenstand würde jeder erkennen, wo der Süden und wo der Norden liegt, sagte Tokoll und zeigte sozusagen über alles hinweg in Richtung Südosten, nach Serbien. Die Reise stand ihm ins Gesicht ge­schrie­ben, die Reise nach Belgrad, die er nun ein Stück weit in die Bündner Alpen einge­schleppt hatte, er hatte sogar serbische Wörter im Kopf.

Am Anfang rutscht man wohl in einen Text hinein, er eröffnet, und man öffnet sich mit ihm. So wirkt der hier nur irgendwie (uner­schlossen) mit seiner, vordergründig trivialen. Mit­teilung. Auch nachher erst, wenn ich ihn zuende gelesen und die Effekte zu prüfen begonnen habe, erhellt sich mir der sanfte Bogen sozusagen über alles hinweg. Man kann natürlich auch ein sprachliches Gebilde deskriptiv nicht er­schöpfend verba­li­sieren. Der offene Anfang wird deutlich gebunden mit dem Wort Die Reise und mit stand ihm ins Gesicht geschrie­ben usw. Der Teil die er nun ein Stück weit in die Bündner Alpen einge­schleppt hatte ironisiert mit der Orts­bezeich­nung und einge­schleppt. (Zu bewun­dern ist auch, wie das um­gangs­sprach­liche bequeme ein Stück weit avanciert hier zu lichter Präzision). Mit er hatte sogar serbische Wörter im Kopf ist dann alles perfekt.
Eigentlich wollte ich nur bemerken, der dominante Effekt sei bewirkt von diesem Schluß (und dem ins Gesicht geschrieben) als milieu­fremder Einfügung in die landschaft­lichen Einge­weide.

S. 33
Vor der Hotelterrasse ist die Rasenfläche ein Verbindungs­stück zwischen der rauen Land­schaft und dem Hotel­betrieb. Ein Mann in karier­tem Hemd und kurzen Hosen hatte vormit­tags den Rasen mit einer Sense gemäht, das ab­ge­schnit­tene Gras aus­ein­ander­ge­zerrt und zum Ausdörren liegen­lassen. Es war warm, ein Sommer­tag. Gegen Abend hatte er das Heu zusammen­ge­schoben, später in großen Tüchern, die sich wie immense Leder­lappen aus­nahmen, weg­getragen, Dabei lief er so unbe­kümmert hin und her, als hätte er tags­über nichts getan. Das Heuen, fröhliches Grasen. Als alles erledigt war, setzte er sich unter einen Baum, zün­dete sich eine Ziga­rette an, und als ich ihn dabei foto­gra­fieren wollte, eilte er davon, er rannte nicht, er beeilte sich nur.

Das Vergnügen – es sich genügen lassen – zuzusehn, wie einer arbeitet.
Und wie sie sich präzisiert. Dieses gängige eilte er davon etwas anhält und gelassen erläutert.

S. 37
Die Zehnjährigen kenne ich, mit Zehnjährigen braucht man nicht über­vor­sichtig umzu­gehen, man kann mit ihnen unmittelbar reden und braucht sich nicht zu ve­rstellen. Den Jüngeren gegen­über auch nicht. Das Säuseln mit den Kleinen gehört zu einer verbre­iteten Acht­losig­keit, die mit falschen Erin­nerun­gen zu­sammen­hängt. Es fehlt die Erin­nerung an die eigene Ver­gan­gen­heit, außer­dem fehlt die Aufmerk­samkeit.

Der letzte Satz, besonders sein Schluß, erwirkt den poetologischen Wert.

S. 40
Die große Spanienreise haben wir vorerst aufgegeben. Stattdessen schwei­fen wir durch die Alpen und auch südlich der Alpen von Ost nach West und von West nach Ost. Diese Tiefland­schaft ist längst ein euro­päisches Durch­lauf­gebiet ohne bedeutende Hinder­nisse.

Ich fahre nach Wien und über Zürich wieder nach Hause, fahre nach Bellinzona und Innsbruck, fast jede Reise gehört zu meinem Job, unterwegs bin ich meist in den Alpen, ich stecke in einer Gebirgs­ver­stri­ckung. Nachher fahre ich nach Bratislawa und zwischen­durch nach Bremen und Stettin, obwohl ich den Blick nach Süden suche. (statt der Aus­lassung, noch entscheiden).

Zu den Landschaften und den Bewegungen in ihnen vergleiche die Bemer­kung zum Text von Seite 114.

S. 53
[...] Über Depressive zu reden nimmt sich grundsätzlich sachlich aus, so sachlich, als würde man frittierte Kartoffeln frittierte Kartoffeln nennen, die sie wirklich sind.

Mir gefällt hier, neben dem Ganzen, auch der unbestimmte Bezug des Schluß-Nebensatzes.
Ich ziehe spontan den auf die Kartoffeln vor, aber dann mag ich auch den auf die Depressiven – weil er nebenbei die Ödnis quittiert, die sie mit sich bereiten. Es fehlt uns indessen natürlich nicht an Auf­merk­samkeit und Empathie.

S. 87
Bei einem Fest in Luzern stand der alte Jubilar neben dem Eingang zum Restaurant, die Eintretenden waren zum Abendessen eingeladen, er begrüßte sie, und wie Pölypenarme ragten seine erwachsenen Kinder neben ihm hervor, freundlich nachgreifend. schwebend, schwimmend schüttelten sie die Hände der Gratulanten.

Die Aufnahme von beobachteter Bewegung ist ein Hauptmotiv im Buch.

S. 88
Die Großmutter war im Zweiten Weltkrieg verunfallt.
[...]
(der Großvater) Als ich etwa acht Jahre alt war, war er zusammengebrochen und weinte eine Nacht durch. Er saß neben mir wie blind. Inzwischen fällt mir manchmal ein, dass ein Großvater nichts dazulernen muss. Ein Großvater muss nicht weitergebildet werden, lieber sollte es erzählen.

Zwei Teile von derselben Seite. Für das letzte Wort des ersten muß man Mut haben.
Das gesamte Buch spielt in vielen kleinen Teilen, zwischen größeren.

S. 92
Die Leute sagen gute Sätze, sie sprechen gut, auch die einfachen Leute, sie haben Lust zu reden.

Das hat man wohl zu notieren, wenn man es wo erlebt.

S. 95
Am Inselrand liefen auf einem federnden, roten Sonderbelag die Jogger an mir vorbei, wie auf dem Fließband liefen sie, einer nach dem anderen, den ganzen Tag lang, nur die Schritte und das Atmen waren zu hören.

Jeder hat solche gesehen, hier sind sie wie in einen Bernstein gefaßt.

S. 99
Am einfachsten ist der Weg oberhalb der Alpen in den Niederungen. Nach einigen Wochen vergisst man manche Gebiete, die man hinter sich gelassen hat, halbwegs vergisst man sie, weil im jewei­ligen Augenblick nur die gegen­wärtige Landschaft zählt. Im Pannonischen Becken angelangt ist die Luft trockener.

Außer den Reizen des hier zitierten gesamten Textteil-Ablaufs bewirkt wieder der letzte Satz den poetologischen Abschluß. Zu den Landschaften und den Bewegungen in ihnen vergleiche die Bemerkung zum Text von Seite 114.

S. 102
Eine kleine Gruppe kauft Limonade ein. eine ganze Kiste, es sind dicke Leute, und sie sagen, sie kämen aus Australien.

Den Reiz ergibt die (semantisch textfremde) Pointe.

S. 114
Vor mir lag ein knochiger Hang, und vor dem abschüssigen Gelände stand ich in städtischen Stiefeln, ansonsten mit einem Regenschirm und einer roten Handtasche ausgestattet, Tokoll in Sommerschuhen.

Die Aufnahme des Erden-Irdischen ist eine der Eroberungen dieses Buchs, die auch uns durchaus zugute kommt (wie man in ihrem Buch „Donauwürfel“ während des Lesens der Text-Würfel unentwegt als helle Freude die flie­ßende Donau-Breite spürt).
Hier wird die weite Erde oft verbunden mit dem Migranten-Schick­sal, die Erin­nerung an die eigene Kindheit öffnend für die gegenwär­tige Not und Bitter­nis aller Flücht­linge. Die aufmerk­same Sympa­thie für die Erde befreit auch wohl aus der Trauer (ohne sie zu vergessen).
Lesen Sie in diesem Zusammenhang noch einmal die von Seite 53 zitierte lakonische Bemer­kung über die Depres­siven.

S. 119
Toledo-Stahl, Hochburg der Waffenschmiede, von Toledo aus wurden schon die römischen Truppen mit Schwertern versorgt.
[...]
Tief unterhalb der zusammengedrängten Häuser frisst sich der abgewandte Fluss immer tiefer in den Felsboden hinein und wirkt leblos, weil die Boote auf dem Wasser und die Leute am Ufer fehlen. Ich sah nur den nackten dunklen Tajo. Außerdem war der Westwind unangenehm. Eine windige Stadt, wo früher Arabisch, Hebräisch, Nord- und Südspanisch gesprochen wurde.

Der frühere sprachliche Reichtum schließt den Reiz-Verlust der Stadt poe­tolo­gisch bündig ab.
Die Aufmerksamkeit für Sprachen und Sprechen ist eines der Haupt­motive des Buchs.

S. 149
Manchen gelingt es, anders zu gehen, als sie eigentlich gehen. Sie wackeln, schaffen sich eine neue Stimme an, reden mit den Händen. Es gibt Leute, die bauen sich vollkommen um.
Elke Erb   12.06.2013   

 

 
Elke Erb
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