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Elisabeth Merey-Kastner
Reinigungen

Anya schiebt die Tasse mit dem Frühstückskaffe zur Seite, legt die Süddeutsche Zeitung auf den Tisch. Es ist Freitag, der 1. September 1989.

Massenausreise steht offenbar bevor, liest Anya. Bonn läßt in Österreich 50 Eisenbahnwagen bereitstellen. Ungarn werde sich an der Priorität der Menschenrechtsfragen vor vertraglichen Verpflichtungen gegenüber der DDR orientieren ...

Während Anya den Artikel liest, überrascht sie ein Gefühl, das in der Beckengegend entsteht, sich ausbreitet, über die Schultern fließt. Nicht weiter. Als wäre der Rumpf löcherig. Als zöge es zwischen Becken und Schulterblatt. Nur das Herz nicht berühren, denkt Anya und trinkt den Kaffee aus. Ein bisschen Stolz, kaum noch zu spüren, einmal dieser Nation angehört zu haben, ist geblieben. Das merkt sie jetzt. Und ein wenig Trauer, ihr nicht mehr anzugehören, angehören zu wollen. Auch nicht mehr zu können.

In jenem Land, in dem Anya geboren wurde, waren ihre Eltern Ausländer gewesen. Nachdem sie in die so genannte Heimat ausgesiedelt worden waren, nannte man sie Flüchtlinge, und Anya sehnte sich in die Stadt zurück, in der sie Ausländer und keine Flüchtlinge gewesen waren. Nachdem Anya, acht Jahre später, auch die so genannte Heimat verlassen hatte, bekam sie einen Fremdenpass. In diesem stand: Anya Mentler, darunter stempeldunkelbau und eingerahmt: Ungarnflüchtling. Besondere Kennzeichen: Blinddarmoperationsnarbe, Leberfleck am rechten mittleren Finger.

Klosterschule mit Internat in Graz. Wir haben dich aufgenommen. Sei dankbar. Niemand bezahlt für dich. Der Heiland liebt auch dich. Du musst getauft werden. Die erste Taufe gilt nicht. Nicht die deine.
Solche Unverschämtheiten können sich nicht einmal unsere Kinder leisten. Das kommt von deiner kommunistischen Erziehung.
Meine Eltern sind keine Kommunisten.
Immer hast du das letzte Wort.
Beschweren Sie sich. Beschweren Sie sich in der Direktion. Ich will wissen, wer Recht bekommt, Sie oder ich.
Die deutsche Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. Libussa von Grillparzer. Macht und Gnade im Werke Reinhold Schneiders.
Der Vertreter des Stadtschulrats betonte in seiner Abschlussrede, dass bemerkenswerterweise ein Ungarnflüchtling, er sprach das Wort aus, als hätte Anya keinen anderen Namen, seit er sich erinnern könne, die beste mündliche Deutschmatura an dieser Schule abgelegt habe.

Auf die Frage, was sind Sie für eine Landsmännin, antwortet Anya seit langem: Europäerin.
Europa ist kein Land. Ist viele Länder.
LandsMännin, wollen sie immer wissen.
Oder sie sagt, ihre Muttersprache sei ungarisch. Nein, keine Ungarin. Nur die erste Sprache. Die Färbung der Vokale und Konsonanten. Der ausländische Akzent, den das deutsche Ohr sogleich sezieren will, ist ein ungarischer Akzent.
Manche wollen gerne raten dürfen. Diese haben neugierige Gesichter und zwinkern mit den Augen. Jugoslawin? Nein. Tschechin? Auch nicht. Keine Slawin. Polin? Ich sagte eben, keine Slawin. Rumänin? Nein. Meine Muttersprache ist ungarisch. Also doch slawisch. Ungarisch ist keine slawische Sprache. Finnisch-ugrisch, wenn schon.
Oder so: Sie sind aber keine Deutsche? Eine Feststellung in fragendem Tonfall.
Sie haben Recht.
Und woher, wenn ich fragen darf? Zwischen woher und wenn ich fragen darf entsteht meist eine Pause. Der Blick des Fragenden tastet Anyas Gesicht ab.
Sie dürfen. Anya sagt das aggressiv.
Aus Ländern. Nicht aus einem Land.

Ich beantworte diese dämlichen Fragen seit 33 Jahren mindestens drei bis zehnmal wöchentlich, denkt Anya. Im Schnitt mindestens sechseinhalb mal wöchentlich. 33 Jahre mal 52 Wochen mal 6,5 Antworten im Schnitt, Anya gibt die Zahlen in den Rechner ein. 11.154 Antworten mal mindestens 4 Antworten, weil Fragerei und Raterei und Bohrerei nicht gleich nach der ersten Antwort aufhören, sind mindestens 44.616 Antworten in
33 Jahren, also mindestens 1.352 Antworten jährlich, nur wegen des ungarischen Akzents.

Sie sind auch so eine, sagte einmal eine Frau am Telefon, weil Anya es nicht wusste, es nicht wissen konnte, wann eine Bautafel entfernt wird, die von Anyas Arbeitgeber unter dem Schlafzimmerfenster dieser Frau in der Münchner Mainzer Straße, Ecke Speyerer Straße, provisorisch aufgestellt worden war. Aber die Frau sagte die Worte nicht nur wegen der unter ihrem Schlafzimmerfenster provisorisch aufgestellten Bautafel, sondern wegen des ungarischen Akzents sagte sie sie wohl in erster Linie. Weil eine solche Ungeheuerlichkeit nur wegen einer provisorisch aufgestellten Bautafel unter irgendeinem Schwabinger Schlafzimmerfenster nicht gesagt werden könnte. Die Frau sprach mit norddeutschem Tonfall. Sie sind auch so eine, sagte sie, die man damals vergessen hat zu vergasen. Die Worte klangen so leicht und selbstverständlich, fast fröhlich und spielerisch flossen sie in den Telefonhörer, als hätte diese Frau nur schöne Grüße oder ich denke grad an Sie oder guten Tag gesagt. Sie sagte aber, Sie sind auch so eine, die man damals vergessen hat zu vergasen.
Auch so eine.
Anya legte den Telefonhörer nicht auf, er fiel ihr aus der Hand wie ein plötzlich bis zur Unerträglichkeit heiß gewordener Gegenstand, knallte auf die Schreibtischkante, rutschte ab und blieb über dem Boden, am Spiralenkabel federnd, hängen. Draußen auf dem Kinderspielplatz vor dem Alten Nördlichen Friedhof in Schwabing quietschte ein Kleinkind. Sind Sie noch dran, tönte es aus dem Telefonhörer.

Den Mülleimer, der die Jahre gefangen hält, aufbrechen.
Die Erinnerungen herausstinken lassen. Einzeln.
Bis die Magenwände einstürzen beim allermiesesten Gestank: auch so eine.

An der Wohnungstür läutet es. Nicht unerwartet, doch plötzlich und schrill. Anya schreckt auf. Unter dem Balkonfenster, auf dem Rasenstreifen zwischen Gehweg und Fahrbahn schnuppert ein Hund an einem ölverschmierten Mechanikerhandschuh, den irgendjemand schon vor Wochen weggeworfen oder verloren hatte. Bogdan, denkt Anya, läuft zur Wohnungseingangstür und öffnet sie. Bogdan kommt aus Polen. Ist zu Besuch bei seiner Schwester in München.

Sie wolle noch vor dem Winter ihre Wohnung renovieren, Wände, Decken, Türen und Heizkörper streichen. Die Fenster nicht. Die seien aus Kunststoff, erzählte Anya der Schwester Bogdans im Sommer. Außerdem müssten die Fensterleibungen und die Heizkörpernischen neu tapeziert werden, weil dort die Tapete beim Auswechseln der Fenster vor einigen Wochen beschädigt worden sei. Sie brauche Hilfe und überlege, wen sie fragen könnte. Das treffe sich gut, sagte die Schwester Bogdans, weil ihr Bruder in einigen Wochen aus Polen zu Besuch kommen wolle. Er sei Bautechniker und könne alles. Wirklich alles, sagte sie. Auch Autos reparieren könne er. Er habe schon in München gearbeitet, habe einem türkischen Gastronomen geholfen, ein Lokal, ein vornehmes Speiselokal sei es geworden, herzurichten. Er brauche Geld. Wolle demnächst mit seiner Familie nach Kanada auswandern, wolle dort in der Holzindustrie arbeiten. Er könne allerdings kaum Deutsch, nur ein paar Worte und ein wenig Englisch könne er. Das sei egal, sagte Anya, beim Streichen und Tapezieren brauche man kein Deutsch, das gehe auch ohne Sprache. Mit Bewegungen, Gesten, Fingerzeichen.
Die Möbel und der Boden sind jetzt abgedeckt. Anya liest die Gebrauchsanweisung für das Anrühren des Tapetenkleisters. Bogdan steht neben der Raufasertapetenrolle, hält das Lineal in der einen und die Schere in der anderen Hand.
Schere schlecht, sagt er. Bogdan zeigt mit dem Lineal auf die Schere, öffnet wieder die Lippen, bewegt sie, sucht nach einem Wort: Messer. Bogdan spuckt es aus wie einen Befehl. Hart und spitz, sieht stolz aus dabei.
Anya geht zum Bücherregal, greift unter die Abdeckfolie, zieht die Werkzeugschublade eine Hand breit heraus. Das Teppichmesser liegt vorne oben.
Messer, sagt Anya, reicht es Bogdan. Er nickt, legt Schere und Messer auf die Tapetenrolle, geht ins Schlafzimmer, nimmt das Lineal mit, wird wahrscheinlich die Fensterleibung und die Heizkörpernische ausmessen.

Und du holst ein Messer Anya, hatte die Mutter befohlen. Auf ihrem Schoß lag das deutsche Vokabelheft der kleineren Schwester.
Anya stand neben dem Kleiderschrank aus Mahagoniholz, wie sie jetzt neben diesem mit einer Kunststofffolie abgedeckten Schrank aus Fichtenholz steht. Sie lehnte sich gegen den Schrank aus Mahagoni, wie sie sich jetzt gegen diesen Schrank aus Fichte lehnt.
Hast du nicht gehört, schrie die Mutter. Ich werde ihr das Gesicht zerschneiden, und du holst das Messer.
Neben der Mutter auf der Couch saß Anyas Schwester heulend. Sie hatte gespielt, hatte die deutschen Vokabeln, die sie bis zum Mittagessen lernen sollte, nicht gelernt. Auf die Frage der Mutter, ob sie die deutschen Wörter schon könne, hatte sie mit Ja geantwortet. Hatte dann, als ihr die Mutter die deutschen Vokabeln abgefragt hatte, kein einziges Wort gewusst, hatte nur mit den Schultern gezuckt, als sei ihr jedes deutsche Wort egal.
Ich sage es zum allerletzten Mal, hol ein Messer.
Anya ging, fühlte keinen Schritt, durch das Badezimmer, knipste das Licht nicht an, in den Flur. Sie blieb vor der Küche, neben der Wohnungseingangstür stehen. Umklammerte den Türgriff. Merkte, dass ihre Hand schwitzte. Sie wollte in den Hof hinauslaufen, bei der Nachbarin läuten, meine Mutter will meiner Schwester das Gesicht zerschneiden, wollte sie rufen. Dann würden es alle erfahren. Die Nachbarn, die Schule. Die in den Augenwinkeln lauernden Blicke der Verkäuferinnen in den Lebensmittelgeschäften, dass diese Mutter nicht normal sein könne. Dass diese Mutter ihrem Kind wegen ein paar deutschen Wörtern das Gesicht zerkratzen, ja zerschneiden wolle.
Ich bin sicher, sie wird es nicht tun, dachte Anya. Sie horchte diesem Gedanken nach, ließ ihn unter ihrer Schädeldecke kreisen, bis ihr schwindlig wurde. Bis dieser Gedanke aus ihrem Schädel heraustrat und über dem Küchentisch, in dessen Schublade die Messer lagen, weiterkreiste.
Davonrennen wollte ich, denkt Anya. Vorbei an den Kastanien, entlang der Kirche. Die Straße überqueren. Auf kein Auto achten. Fühlen, dass die Zöpfe wie Peitschen gegen Schultern und Rücken schlagen. Den rußigen, grauen Gestank der Budapester Luft bei jedem Schritt schneller, tiefer einziehen. In die zweite Gasse rechts einbiegen. Bis zum Polizeirevier, in den Halbstock, in das erste Zimmer laufen. Vor dem Schreibtisch, dem Polizisten stehen bleiben. Beim Anblick des retuschierten, gelb geschminkten Gesichts Stalins an der Wand über dem Kopf des Beamten kein Wort herauswürgen können. Schnaufen mit offenem Mund. Aus trockener, rauer Kehle.
Kinder, die ihre Eltern verraten, finden nie mehr Ruhe.
Solche Kinder sind ein Leben lang verdammt. Alle würden es erfahren - bin wie Judas. Sie wird es sicher nicht tun - hol das Messer.

Anya ließ den Griff der Wohnungseingangstür los, ging in die Küche, zog die Schublade heraus und suchte nach einem Messer, das die Mutter nicht mehr benutzte, das sie demnächst schleifen lassen wollte. Dann ging sie mit dem Messer in der Hand in das Kinderzimmer zurück.

Holz.
Anya zuckt zusammen. Starrt in die Richtung des Wortes Holz. Bogdan kniet vor der Tapetenrolle. Holz, wiederholt er.
Meinst du ein Brett, fragt Anya. Brett, Holz, sagt Bogdan.
Das Brett habe ich auf dem Speicher. Ich gehe und hole es. Ich bringe dir ein Holzbrett. Gehen und bringen, sagt Anya langsam, sucht nach einer Bewegung, die wie Bringen oder Geben aussehen könnte. Bogdan starrt verständnislos auf Anyas geöffnete Arme. Gleich, sagt Anya, ich hole ein Brett.

Anya läuft die Stufen bis zum Gangfenster hinauf. Im Hof spielen zwei japanische Schwestern mit ihrem getigerten Kater. Die Blätter der Linde bewegen sich, Anya öffnet das Fenster, spürt die Brise, die aus dem Laub zum Fenster hereinweht, ihr Gesicht berührt. Ein paar Blätter sind schon gelb. Herbst, denkt Anya und wer jetzt kein Haus hat, denkt sie. Hört, wie die japanischen Mädchen ihren Kater, der sich auf das Grasdach der Garage gesetzt hatte, rufen. Komm, Bruno. Der Kater schleckt sein Bauchfell ab, legt sich hin. Streckt sich. Bist gemein, Bruno. Die japanischen Mädchen sind kleiner als ihre gleichaltrigen deutschen Freunde. Als wären sie noch Kindergartenkinder, sehen sie aus, obwohl auch die Jüngere schon in die Schule geht. Anya schaute ihr einmal zu, wie sie ihren Geigenkasten trug, ihn mit beiden Armen umklammerte, an sich presste, die Fahrbahn überquerte, als trüge sie gar keine Geige, sondern den Torso einer überdimensionalen Holzpuppe spazieren. Der Kater springt vom Garagendach unter die Linde und verscheucht eine laut gurrende Taube.
Bleib hier, Bruno. Lauf nicht weg. Bruunoo!
Anya drückt das Fenster zu.

Nachdem Anya in das Kinderzimmer zurückgegangen war, legte sie das stumpfe Messer auf den Tisch, schob es dann näher zu sich her, an den Tischrand. Die Mutter saß noch immer neben der laut heulenden Schwester. Das deutsche Vokabelheft lag, als hätte es die Mutter absichtlich hinuntergeworfen, ungeöffnet vor ihren Füßen auf dem Boden. Es schien jetzt für einen Augenblick, als hätte die Mutter ihr Vorhaben, der Schwester wegen der nicht gelernten deutschen Vokabeln das Gesicht zu zerschneiden, tatsächlich aufgegeben. Als wäre der Mutter plötzlich eingefallen, dass man in kein deutschsprachiges Land, ja in überhaupt kein Ausland reisen durfte, dass man in Ungarn gar kein Deutsch brauchen konnte, und dass die Schwester nicht einmal alle ungarischen Kinderbücher, die ihr schon erlaubt waren, gelesen hatte. Weil sie nicht nur deutsche Vokabeln, sondern auch englische und russische Wörter lernen und von den wenigen Samstagen abgesehen früh abends und ohne ein ungarisches Buch schlafen gehen musste, da das viele Lesen im Bett nur die Augen verdarb, und die ungarischen Bücher nur von Deutsch und von den anderen Weltsprachen ablenkten, die man in Ungarn zwar genauso wenig wie Deutsch brauchen konnte, weil alle nur ungarisch redeten, die aber trotzdem ein lebenswichtiges Ansehen hatten.

Hätte die Schwester nicht so laut geheult, wäre es still gewesen im Kinderzimmer. Wenn die Schwester das laute Heulen kurz unterbrach, um mit offenem Mund nach Luft zu schnappen, weil sie unmöglich durch ihre vom lauten Heulen verstopfte Nase einatmen konnte, beim Ausatmen durch ihre Nase stieß sie Rotz und Wasser zusammen mit Luftbläschen heraus, die entweder gleich platzten oder im Schleim verkapselt in ihren nicht nur beim Einatmen, sondern auch während des lauten Heulens geöffneten Mund flossen - war wie ein Herzschlagen das Pendel der Wanduhr zu hören.

Bring das Messer her. Die Mutter schrie nicht. Sie sprach auch nicht laut. Aber mit so viel Bestimmtheit im Klang ihrer Stimme, mit kreideweißem, entschlossenen, feucht glänzenden Gesicht, dass Anya, als hätte sie jemand hingezogen, hingestoßen zur Mutter, ihr das Messer reichte.
Niemand rechnete damit, so muss es ein Wunder gewesen sein. Die Tür zwischen Kinderzimmer und Wohnzimmer wurde aufgerissen, und ein Onkel, der nur selten zu Besuch kam, aber einen Wohnungsschlüssel besaß, stand wie angewurzelt im Türrahmen. Er sah, dass die Schwester ihre Hände gegen ihr Gesicht presste, hörte sie schluchzen: nein, bitte nicht und hörte, dass es ein Flehen gewesen war. Er sah das Messer in der erhobenen rechten Hand der Mutter, sah, wie sie mit ihrer Linken die gegen das Gesicht gepressten Hände der Schwester wegziehen wollte.

Hast du den Verstand verloren, sagte der Onkel atemlos, gehetzt.

Anya steht auf dem Speicher und knipst das Licht an. Nur eine verstaubte Glühbirne, die ohne Schirm vom Kabel herunterhängt, leuchtet. Anya geht langsam, tastet bei jedem Schritt nach Unebenheiten, Gegenständen auf dem Boden, zu ihrem Speicherabteil. Holz, Brett, murmelt Anya, findet es. Denkt, während sie zur Speichertür hinausgeht, an Bogdans Gesicht, während er Holz oder Messer sagt, die Worte wie Befehle aus dem Mund herausstößt. Denkt an die Mutter, als sie beim Anblick des Onkels das Messer, als wäre es ihr aus der Hand geschlagen worden, losgelassen hatte.
Es sei nur Spaß gewesen. Es sei gar nichts passiert, sagte sie.

Die Mutter lächelte. Es war kein Lächeln, als sei ihr etwas peinlich, als wollte sie etwas verheimlichen. Das Lächeln war keine Maske. Nicht plötzlich von außen aufgedrückt, von außen an das Gesicht angewachsen. Es war wie von innen her in das Gesicht hineingelebt. Weich, entspannt, entwaffnend schön.

Die Schwester weiß es anders. Sie sagt, der Onkel sei gar nicht erschienen, die Mutter habe von sich aus aufgehört. Und sie sei trotzdem, und trotz allem, was sonst noch geschehen sein mag, eine gute Mutter gewesen.
Nicht sie, du hast das Messer gebracht, sagt die Schwester.

Anya schaut durchs Gangfenster, sieht, dass die japanischen Mädchen vom Müllcontainer auf die Mauer steigen, die zwischen diesem und dem Nachbarhof verläuft. Die japanischen Mädchen reichen einander die Hände und springen hinunter. Anya weiß, dass sie immer bis drei zählen, eins, zwei, drei, bevor sie in den Nachbarhof springen. Ihr getigerter Kater liegt wieder auf dem Grasdach, sieht aus, als schliefe er.

Anya kehrt ins Wohnzimmer zurück. Schau, ich habe dir das Brett gebracht, sagt sie zu Bogdan und reicht es ihm.

Elisabeth Merey-Kastner     2005    

Elisabeth
Merey-Kastner
Prosa