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Gabriele Weingartner

Fräulein Schnitzler

Tot in Venedig

Gabriele Weingartner: Fräulein Schnitzler  
Gabriele Weingartner
Fräulein Schnitzler
Roman
Haymon Verlag, 2006
Der Tod in Venedig – ein Männer- oder Venedigbuch? Wäre es vorstellbar, dass Thomas Manns Novelle auf diese Art und Weise abgestempelt würde? Wohl kaum. Fräulein Schnitzler hingegen, Gabriele Weingartners neuester Roman, wurde bei einer Lesung als Frauenroman und Venedigbuch vorgestellt. Vielleicht, weil eine Frau ihn geschrieben hat? Kann sein. Gabriele Weingartner ist schließlich eine bekannte Autorin. Ihre anspruchsvolle Prosa aber sprengt eindeutig den Rahmen solch umstrittener Kategorisierung. Wie schon im Erzählband Die Leute aus Brody führt sie uns auch diesmal literarisch in die ersten Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts zurück.

Vielleicht Frauenroman, weil eine Frau im Mittelpunkt steht? Lili heißt sie, und war die Tochter von Arthur Schnitzler, einem unserer großen Schriftsteller. Der Titel Fräulein Schnitzler lässt aufhorchen und verwundert zunächst. Denn Lili war verheiratet und hieß Cappellini – also weder Fräulein noch Schnitzler. Frauenroman schließlich, weil das Buch bevorzugt von Frauen gelesen wird? Letzteres könnte zutreffen, am wenigsten aber ist es ein Buch über Venedig oder gar Venedigführer. Was ist Fräulein Schnitzler dann?

Zunächst ein Kammerspiel mit wenigen Personen. Da ist Lili. Sie ist neunzehn Jahre alt und mit Arnoldo Cappellini, einem italienischen Faschisten, in Venedig verheiratet. Dieser ist viel älter als sie und wird von der poltrigen Haushälterin Rita mit hündischer Ergebenheit umsorgt. Verständlich, dass Rita in Lili einen Eindringling sieht und ihr entsprechend mit unverhohlener Abweisung begegnet. Verständigungsschwierigkeiten und Lilis sonderbar realitätsfernes Verhalten entfremden ihr schließlich auch die einzige Bezugsperson außerhalb des Hauses, Signora Livio, die Frau des Buchdruckers. „Trauliche Sitzungen auf den Stufen der Zisterne“ nennt Lili ihre Besuche in der Tipografia und weiß doch genau, dass Signora Livio die gleiche einfache Frau ist wie Rita. Es ist die Verzweiflung der Einsamkeit und inneren Not, die sie immer wieder in die Buchdruckerei treibt. Zeitlich begrenzt sich die Handlung auf drei Tage im Juni, den letzten im Leben von Schnitzlers Tochter.

Selbst fast noch ein Kind, muss sich diese plötzlich der Tatsache stellen, dass sie ein Kind bekommt. Wie aber Leben tragen und gebären, wenn man sich dauernd dem Leben entzieht. So wie Rilkes Panther im Jardin du Luxembourg ist auch Lili „gefangen“ in der muffigen Wohnung in Venedig. Den ganzen Tag sich selbst überlassen, irrt sie im Labyrinth düsterer Tagträume umher, die sich wie gefräßige Tiere ihrer bemächtigen und ihre Lebenszeit verschlingen. Oft denkt man beim Lesen an eine Mimose, die beim kleinsten Windhauch ihre Blätter und Blüten hängen lässt. „Ist es da nicht besser, wenn man morgens nicht mehr aufwacht?“ – wie fernes Gewittergrollen kündigt sich das Ende an.

Je kleiner und beengter der Raum ist, in dem Lili atmet, sich bewegt, träumt und leidet, um so belebter ist ihre innere Welt. Bevölkert von den Menschen, Straßen, Gesprächen und Streichen aus ihrer Kindheit in Wien. Dem Vater, Arthur Schnitzler, kommt dabei eine ebenso wichtige wie ambivalente Rolle zu. Die Autorin beschreibt gewollt doppeldeutig die Liebe von Vater und Tochter zu einander: „Und als er ihr dann an die Brüste griff und sie ihm ungeschickt ihren Oberkörper entgegenbog, mußte Lili an ihren Vater denken, der irgendwo hier in der Nähe schlief.“ Lili lebte in einer Zeit, in der die Frauen nach außen hin Zeichen ihres Selbstbewusstseins setzten. Sie schnitten sich die Haare ab. Auch Lili tut es. Sie trugen kurze Röcke und gaben sich der Freizügigkeit der zwanziger Jahre hin. Die Einstellung der Gesellschaft konnten sie damit nicht verändern. Bei Lili steigert sich das Gefühl der Demütigung durch Abhängigkeit, und sie sieht sich als Sklavin ihres Mannes. Als sie nach halbherzigem Versuch, das Kind abzutreiben, hinter das Geheimnis von Arnoldos Briefen kommt, die dieser in einer Schublade verschlossen hält, gerät sie unweigerlich in die Todesspirale. Ihre Mutter Olga hatte ein Verhältnis mit ihrem Mann. Lili sieht keinen Ausweg mehr. „Vorrei morrir“ – die Todessehnsucht steigert sich zur Kurzschlusshandlung. Lili erschießt sich im Bad mit der Pistole des Capitano.

„Sprich mit dir selbst, Lili, wenn es sonst niemand tut, komm, sprich mit dir. Erzähl dir dein Leben, Lili“ – rührend oder rührselig, traurig oder kitschig? Handelt und denkt eine junge Frau von heute wie Lili damals? Diese Frage scheint uns Gabriele Weingartner ungeschrieben zwischen die Zeilen zu stellen. Man sucht nach der Antwort und glaubt sie auch zu finden. Einer unglücklichen Frau von heute wird man finsteres Wühlen im Selbstmitleid durchaus zugestehen, literarische Verdichtung allerdings hätte keinen Platz für die tränenreiche Naivität der oben zitierten Zeilen. Warum hat Gabriele Weingartner also für das Sujet aus dem vergangenen Jahrhundert nicht wenigstens Stil und Sprache der Gegenwart gewählt? Ganz einfach. Weil das Buch keine Biographie ist, sondern ein Roman, der die Form des Selbstgesprächs aus Fräulein Else aufgreift. Lili kann nur in der Sprache und dem Stil ihrer Zeit reden. Die ersten Seiten lesen sich daher etwas mühsam. Später stellt man fest, dass es weder am Stil noch am Inhalt liegt. Der Leser muss sich erst einmal einstellen auf den Wechsel zwischen Lilis Selbstgesprächen im Wortschatz der k.u.k. Monarchie und der äußeren Handlung.

Nach dem zögerlichen Einstieg fallen dann erste gestreute Hinweise auf. Fast wie bei einer Schnitzeljagd, könnte man wortspielend sagen. Langsam scheint durch Lili und ihre Gedankenwelt Fräulein Else durch. Es ist jene berühmte Novelle Arthur Schnitzlers, in der er den inneren Monolog mit einer psychologischen Tiefe führte, die auch heute nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hat. Mal ist es Lili, die ihr Leben als Parallele zur fiktiven Else sieht, mal sind es ganze Sätze, die kursiv eingefügt, aus der Novelle stammen, wie zum Beispiel: „Ich bin so furchtbar allein, wie es sich niemand vorstellen kann.“ Spätestens jetzt wird klar, dass Gabriele Weingartner in ihren Roman mehr als das tragische Ende von Lili Cappellini, alias Fräulein Schnitzler, hineingelegt hat. Neben deren Geschichte macht sie geschickt auf den Schriftsteller Arthur Schnitzler und sein Werk aufmerksam. So mancher Leser wird animiert werden, die Novellen wieder oder jetzt zu lesen.

Was Fakten und Fiktion angeht, lässt die Autorin allen Vermutungen, die sich aufdrängen, Freiraum zur Interpretation. Und am Schluss ist wieder die Parallele zu Fräulein Else erkennbar. Weder die eine noch die andere wollte wirklich sterben. Das ist im Falle Lili umso tragischer. Während Else eine literarische Figur ist, lebt Lili. Noch. Und überlegt. „Überlegen wie Else, Papas Fräulein Else, die eine ganze Erzählung lang gebraucht hatte, bis sie zu einem Entschluß gekommen war, und dann so kopflos handelte in ihrer Verzweiflung.“ Den Kampf der jungen Frau gegen sich selbst, gegen die Dämonen ihrer Alpträume, die zunehmende Kälte und Gleichgültigkeit des Ehemannes und die Verzweiflung einer zerbrechlichen Seele verwebt Gabriele Weingartner zu einem psychologischen Trauerspiel, in dem das Selbstzerstörerische, die psychologische Tiefenauslotung der Novelle von Schnitzler ebenbürtig ist.

Gekürzte Fassung der bei literaturkritik.de erschienenen Rezension.

Gabriele Weingartner, 1948 in Edenkoben/Pfalz geboren, Autorin und freie Kulturjournalistin. Studium der Germanistik und Geschichte. Mehrere Erzählungen und Romane. Der Schneewitchensarg (Gollenstein, Roman 1996), Bleiweiß (C. H. Beck, Roman 2000), Die Leute aus Brody (Das Wunderhorn, Erzählungen 2005). Sie erhielt unter anderem den Limburg-Literatur-Preis, das Amsterdam-Stipendium und zweimal das Aufenthaltsstipendium im Schloss Wiepersdorf.
Die Leute aus Brody | Kritik
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Dorothea Gilde     05.10.2006

Dorothea Gilde
Interview